Wenn ich heute an diesen Herbst denke, dann sehe ich es immer noch sehr lebhaft vor mir. Paul und ich im Streit, mit Unstimmigkeiten und gegenseitigen Vorhaltungen. Immer mal ließen wir Luigi ausfallen. Er arbeitete mehr, blieb oft lange im Büro und erstmals versäumte er das Abendbrot mit der Familie. Dabei war auch er stolz auf Jan. Das Vorspielen an der Privatschule hatte er hervorragend gemeistert und man hatte uns signalisiert, dass sie ihn nur all zu gerne unter ihre Fittiche nehmen würden.
Für den Rest der Ferien hatte ich mich durchgesetzt. Jan hatte sein Lachen wiedergefunden und Jakob hatte sich viel Zeit für ihn und Alex genommen. Das Schlafwandeln war weniger geworden und bis in die Weihnachtstage hatte uns Jan auch nicht mehr geweckt. Voller Stolz feierte Martin seinen 15. Geburtstag und drehte erstmal eine Runde mit dem neuen Mofa. Unser Geschenk war, dass er uns das Geld nicht würde zurückzahlen müssen. Erst hatte er davon nichts wissen wollen, aber dann übers ganze Gesicht gegrinst. Das gesparte Geld investierte er in Fussballschuhe und einen neuen Helm.
Er feierte am Vorabend des zweiten Advent eine kleine Party, dafür hatten wir ihm die Ferienwohnung zur Verfügung gestellt. Dabei stellte er uns seine erste Freundin vor und mir wurde schmerzlich bewusst, dass er flügge wurde. Daniela war ein süßes Mädchen, blieb aber nicht lange. Immer öfter war Martin nun Samstags auch unterwegs. Im Jugendclub der Gemeinde, auf Feiern von Schul- oder Vereinskameraden. Nicht jeden Freitag verbrachte er mit Margarete, aber er besuchte sie dank des Mofas hier und da auch spontan unter der Woche. Kaufte für sie ein oder brachte ihr Kuchen oder Blumen. Meine Mutter war da schon nicht mehr so gut zu Fuß und freute sich sehr über die Aufmerksamkeiten des geliebten Enkelsohns. Überhaupt hatte der seine Ziele im Blick. Belegte zusätzliche Fächer am Nachmittag und lernte neben Spanisch auch ein bisschen Informatik.
Wir warteten mit Spannung auf Jans Zeugnis, von dem so viel abhing. Für das Bewerbungsverfahren an der Privatschule brauchte er zumindest die Realschulempfehlung. Kurz nach Weihnachten hatten wir mit seiner Klassenlehrerin gesprochen, die uns Mut gemacht hatte. Dank Alex und Martin blieb er einigermaßen am Ball, was den Stoff betraf. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als Frau Horstkötter am Abend der Notenkonferenz anrief um uns persönlich mitzuteilen, dass Jan das Minimalziel erreicht hatte. Aus eigener Kraft, wie sie anmerkte. Und endlich lobte Paul ihn, als Jan ihm das Zeugnis beim Mittagessen zeigte. "Gut gemacht.", brummte er und fuhr seinem Sohn liebevoll durchs Haar. Jan sah ihn kaum dabei an. Löffelte unbeeindruckt seine Suppe. Heute weiß ich, dass unser Sohn damals überhaupt nicht hatte abschätzen können, wie wichtig diese Empfehlung für ihn gewesen war.
Es war ein Segen, dass wir endgültig die Bewerbung abgeben und uns nun auch konkret mit zwei Realschulen beschäftigen konnten. Immerhin brauchten wir immer noch einen Plan B. Erst um Ostern herum würde sich entscheiden, ob Jan angenommen werden würde. Und gleichzeitig mussten wir dafür sorgen, dass Jan jetzt nicht locker ließ. Auch im zweiten Halbjahr musste er Leistung bringen. Was würde ihm die Empfehlung nützen, wenn er doch noch sitzen blieb?
Paul hatte einen größeren Auftrag angenommen und war viel unterwegs. Später, so versicherte er mir, würde er den Mandaten an einen Kollegen übergeben, aber in der Anfangszeit musste er sich persönlich darum kümmern. Damit aber, so erklärte er mir, war die Finanzierung der Schule ein Klacks. Martin verstand gut, warum sein Vater dann mehrere Tage in der Woche nicht nach Hause kam, aber Jan reagierte auf die Veränderung stark. Wieder lief er nachts durchs Haus oder hatte schlechte Träume. Das schwarze Loch aber, das erwähnte er nicht wieder und es geriet auch bei mir in Vergessenheit. Erst viel später dachte ich wieder daran. Ich vermisste in diesen Monaten Paul. Obwohl wir im letzten halben Jahr viel gestritten hatten und uns gerade wegen Jan uneinig gewesen waren, fehlte er mir im Alltag unglaublich. Dazu kam eine unbestimmte Besorgnis, dass er, der in meinen Augen noch immer unglaublich attraktiv war, unterwegs auch jemanden kennen lernen könnte. Was mir in dieser Zeit sehr bewusst wurde war, dass ich Paul immer noch sehr liebte und ihn keinesfalls verlieren wollte.
Ulrike Schäfer fiel mir ein, die vor knapp 11 Jahren unsere schwierige Phase hatte ausnutzen wollen. Würde Paul in einer ähnlichen Situation heute ähnlich standhaft bleiben? Ich hatte abends viel Zeit zum Denken. Wenn die Jungs im Bett und Jakob im Kotten waren. Meinem Schwiegervater war ich in diesen Tagen auch unendlich dankbar. Er war gerade für die Kinder da, die beide auf ihre Art und Weise den Vater vermissten.
Als Paul am Gründonnerstag von seiner Geschäftsreise aus München zurück kam, schüttete ich ihm mein Herz aus. Erklärte ihm, wie sehr ich litt unter unseren Differenzen, wie sehr er mir fehlte und auch meine Ängste ließ ich nicht aus. Ich glaube, wir saßen Stunden in der Bibliothek und sprachen uns aus. Er nahm mich ernst, hörte mir wirklich zu. Natürlich, so sagte er, hatte es Verlockungen gegeben. Ich musste sehr schlucken, als er von zwei Begebenheiten berichtete. Es enttäuschte mich, dass er mir nicht direkt und von selbst davon erzählt hatte. Auch, wenn nichts passiert war, wie er beteuerte. In einem Fall hatte er den Kunden intern weitergegeben, im anderen Fall war ihm die Dame in einem Hotel begegnet. Er war nicht wieder dorthin zurückgekehrt. Er gestand mir, dass ihm die Situation mit den Kindern sehr zugesetzt hatte, er sich in beiden Fällen sehr hilflos gefühlt hatte.
Für Paul war es leichter, Dinge anzupacken und zu lösen. Aktion und Reaktion. Martins Natur kam ihm da entgegen. Paul war einfach kein Mann, der viele Worte machte. Er suchte lieber nach Wegen und Möglichkeiten. Sein Gespür sagte ihm natürlich, dass er bei Jan anders vorgehen musste, aber es fiel ihm unsagbar schwer. Weil der Junge so anders reagierte, als es für Paul Sinn machte.
"Wie können Geschwister nur so unterschiedlich sein?", seufzte er irgendwann.
Hatten wir zu Anfang des Gesprächs noch in verschiedenen Sessels gesessen, so hatten wir uns schon vor einer Weile zusammen auf ein Sofa gekuschelt. Es war so viele Monate her, dass wir uns so nah gewesen waren. "Martin ist wie deine Brüder und Jakob. Dabei kommt er optisch vollkommen nach dir und Elli. Dazu Margaretes Wissensdurst."
Ich überlegte kurz. Nein, meinen eigenen Vater konnte ich in keinem meiner Söhne entdecken. Und mich? Paul lachte und rollte eine Haarsträhne auf seinen Zeigefinger. "Das Argumentieren hat Martin von dir."
Ich musste kichern. Dann wurde ich ernst.
"Woher hat Jan diese Empfindsamkeit?", fragte ich leise.
Paul wickelte die Haarsträhne wieder von seinem Finger. Dann fuhr er die Konturen meiner Lippen nach.
"Meine Mutter war in der Vergangenheit der sensibelste Mensch, den ich kannte. Mein Großvater soll ähnlich gewesen sein. Und ich finde, dass er viel von Ursel hat, auch wenn er optisch sehr Jakob nachschlägt."
"Und dir.", ergänzte ich. "Aber wie kommst du auf meine Schwester?"
Paul küsste mich auf die Stirn. "Es sind Künstlerseelen. Ursel. Elli. Jan. Und ja, manchmal ist mir das sehr fern. Zu abstrakt. Bei unserem Sohn finde ich spannend, dass er gleichzeitig handwerklich geschickt ist. Etwas, was ihn, Jakob und mich verbindet."
Er atmete leise in mein Ohr, ehe er fortfuhr.
"Im Notfall, so habe ich gedacht bisher, macht er einfach eine Schreinerlehre und ergreift den Beruf seines Großvaters. Führt eine Familientradition fort. Jan ist ja nicht dumm, könnte durchaus auch seinen Meister machen. Aber ich habe auf der letzten Reise lange nachgedacht."
Gespannt hielt ich die Luft an.
"Jan sieht auch das Stück Holz in seinen Händen als Kunst. Solange er mit dem Stück machen kann, was ihm wichtig ist, hat er Spaß daran. Ich bin mir sicher, dass er uns noch viel Freude damit bereiten wird, aber er würde davon nicht leben können. Ihm fehlt völlig der Sinn, dass man dieses Geschick für Alltäglichkeiten einsetzen kann. Und manchmal auch muss."
In diesem Moment war ich erleichtert und auch glücklich. Stolz. Paul hat seinen Sohn erkannt und durchschaut. In dieser Sekunde war mir klar, dass er endlich verstand. Und Gleichzeit sprach er dann meine Ängste aus.
"Doch Jan wird irgendwann dennoch begreifen müssen, dass er von der Musik auch nur dann wird leben können, wenn er eine solide Grundlage hat. Sei es ein Studium, Meisterklassen, Konservatorien. Ich habe mich informiert, Anke."
Er schwieg. Es war so ganz Paul. Seine Praktische Veranlagung. Er wollte konkret wissen, wohin Jans Talent ihn führen könnte. Welche Möglichkeiten es gab. Es war seine Art mir zu signalisieren, dass er begriff. Und dass er dahinter stand.
"Was hat dich dazu bewegt?", hörte ich mich fragen. Leise seufzte er auf.
"Es ist nicht schön, wenn wir streiten. Ich war stur und vermutlich unfair. Aber ich dachte an meine Mutter. Sie war schon sehr krank, als ich ihr versprochen habe, dass wir auf Jan achten und ihn nicht aufgeben werden. Sie hätte mir vermutlich sehr den Kopf gewaschen für meinen Umgang mit ihm."
Ich lächelte. Und sah Elli vor mir, wie sie geweint hatte an jenem Nachmittag. Ich dachte an Jakob, der für Jan immer noch der Zufluchtsort war. Wie gut, dass Jan ihn hatte und wirklich mit allem zu ihm kennen konnte.
"Danke, Paul.", flüsterte ich und fühlte mich meinem Mann endlich wieder nah.