Der Tag, der alles veränderte, war ein grauer Dienstag Anfang Oktober.
Jan war noch in Kur, in zehn Tagen sollte er wieder nach Hause kommen.
Paul war im Büro, es war kurz vor Mittag. Martin hatte unterrichtsfrei gehabt und lernte in seinem Zimmer für eine Klausur. Sunny trotete über den Hof, im Stall versorgte eine Einstellerin gerade ihr Pferd, mit dem sie am Morgen ausgeritten war.
Ich stand in der Küche und hatte eine Suppe auf dem Herd. Ich weiß gar nicht mehr, an was ich dachte, als ich aus dem Fenster sah. Sunny lief schwanzwedelnd zur Werkstatttür, die Jakob gerade aufgeschoben hatte. Ich weiß noch, dass ich zur Uhr sah. Kurz nach 12, Paul würde erst in einer halben Stunde da sein. Daher drehte ich mich wieder zum Herd, drehte die Hitze herunter und platzierte den Deckel auf dem Topf.
Als ich wieder ans Fenster trat, lag Jakob auf dem Boden.
Mitten im Hof.
Mein Schrei schreckte Martin auf. Er war es, der den Rettungswagen rief und Paul informierte. Dann leistete er erste Hilfe.
Umsonst.
Und ich war nicht fähig mich zu rühren.
Jakob schaffte es nicht mal in die Klinik. Schon auf dem Weg dorthin wurde er für tot erklärt. Ein Infarkt.
Vermutlich hatte er überhaupt nichts gespürt. Das war Paul nur ein schwacher Trost. Er war so schnell wie möglich in die Klinik nachgekommen, wo Martin und ich in einem kleinen Raum auf ihn warteten. Wir standen alle unter Schock. Unter Tränen nahm ich meinen Mann in den Arm, der es überhaupt nicht fassen konnte. Am Morgen hatte er Jakob noch die Brötchentüte an die Tür gehangen und nun war sein Vater tot.
Wir durften ihn nochmal sehen, versuchten Abschied zu nehmen. Es war alles so schnell gegangen und als wir am Abend auf den Hof kamen, waren wir alle durch den Wind. Wie betäubt.
Fassungslos stand Paul im Kotten und sah sich um. Jakob hatte am Morgen Kaffee gekocht, die halbvolle Kanne stand noch auf der Anrichte, in der Spüle das spärliche Frühstücksgeschirr. In der Diele wartete ein Wäschekorb, den er mir vermutlich später hatte bringen wollen. Das Bett war nicht gemacht. Auf dem Hocker im Bad lag ein achtlos beiseite geworfenes Handtuch. Winselnd saß Sunny auf dem Fußabtreter und schleckte Pauls Hand, als der das kleine Häuschen verließ.
Keiner von uns hatte Appetit. Wir saßen schweigend, ungläubig und tief getroffen in der Küche. Irgendwann hatte ich Margarete angerufen und Paul versuchte seine Brüder zu erreichen. Noch später fragte Martin, wie wir es Jan sagen sollten.
Jan.
Mein Kopf fuhr zur Wanduhr. Wir hatten vergessen ihn vor dem Abendbrot anzurufen.
Die erste Entscheidung war dann noch richtig, Keinesfalls am Telefon. Diese Nachricht mussten wir ihm persönlich überbringen. Warum wir dann entschieden, ihm zunächst nichts zu sagen, ich weiß es nicht mehr. Eine Weile hatten wir diskutiert, früher an die See zu fahren, aber wir entschieden uns dagegen.
Wir wollten ihn schonen. Ich gebe zu, ich hatte Angst. Jan war zum ersten Mal seit langer Zeit unbeschwert und ein fröhliches Kind. Er sollte sich doch gut erholen. Wir machten einen Fehler nach dem anderen und niemand hielt uns davon ab.
Wir fuhren am Samstag nach Jakobs Tod in den Kurort und verbrachten viel Zeit mit ihm. Wir überspielten unsere Trauer, weil wir ihn schützen wollten. So dachten wir. Noch zu gut hatten wir seine Reaktion auf Ellis Tod vor Augen. Seine Ängste. Seine schlaflosen Nächte. Und endlich ging es ihm insgesamt wieder gut. Man war auch hier guter Dinge, dass er den Wiedereinstieg in die Schule meistern würde.
Am Sonntagnachmittag, ehe wir uns auf den Heimweg machen wollten, fragte Jan, ob er später noch mit Jakob telefonieren könnte. Wir erfanden eine Ausrede. Die der Junge schluckte. Als wir im Auto saßen, war ich unheimlich erleichtert. Ich weinte und mein schlechtes Gewissen meldete sich kurz. Hätten wir doch nur die Betreuer vor Ort gefragt, ihnen erzählt, welches Drama sich Zuhause ereignet hatte. Vielleicht hätten sie uns gesagt, dass wir Jan vertrauen sollten. Aber wir hatten geschwiegen.
Unter der Woche stand die Beerdigung an. Wir kamen nicht auf die Idee, dass diese für Jan wichtig sein könnte. Am Telefon fragte Jan nach seinem Opa, den er furchtbar vermisste. Wir lügten ihn an und das kann ich mir bis heute nicht verzeihen. Als wir ihm später endlich alles erzählten, brach Jans Welt auseinander. Unsere Hilflosigkeit war grenzenlos. Wir sagten es ihm, als wir mit ihm wieder Zuhause waren. Erstmals seit seinem Wutanfall damals im Garten führte uns Jan vor Augen, zu was er fähig war. Er tobte. Er schrie und weinte. Dann versteckte er sich in der Werkstatt. Es war das letzte Mal für seine sehr lange Zeit, dass er diese betrat.