Betrübt saß Martin am Küchentisch. Vor ihm stand ein Bierglas und Paul ließ gerade den letzten Tropfen einer Flasche hineinlaufen. Unser Ältester war aus der Stadt gekommen, mitten in der Woche. Selten ein gutes Zeichen, bisher war es nicht vorgekommen, dass er während des Semesters einfach unangemeldet aufgetaucht war. Er hatte einen triftigen Grund. Heike hatte sich von ihm getrennt und Martin hatte Liebeskummer. Ja, er erzählte uns, dass es schon länger nicht mehr rund gelaufen war, aber das endgültige Ende hatte er nicht kommen sehen. Oder nicht sehen wollen, wie ich mir dachte. Bei aller Ernsthaftigkeit und Sachlichkeit war Martin in Liebesdingen ein bisschen unbeholfen.
Nun saß er hier bei uns und wir hörten ihm einfach nur zu. Schon bei seiner Ankunft hatte er angekündigt, dass er ein paar Tage bleiben wollten. Die Vorlesungen, die er verpasste, würden ihn nicht zurückwerfen, betonte er. Stattdessen wollte er unter anderem mit seinem Schulfreund aus Kindertagen, Jonas, ein bisschen um die Häuser ziehen. Wunden lecken, kommentierte Paul später. Ich brachte ihm einen Teller mit Auflauf, den ich extra nochmal aufgewärmt hatte. Wir hatten schon gegessen gehabt, als Martin in der Tür gestanden hatte.
Er lächelte etwas gezwungen und griff zur Gabel. Immerhin hatte er Appetit, was mich dann einigermaßen beruhigte. Im Flur waren Schritte zu hören, dann die Pfoten von Sunny. Der Collie war nun ein älterer Herr und nur noch selten für längere Spaziergänge zu begeistern. Neuerdings übernahm aber Jan die Abendrunde mit dem Rüden und blieb selten unter einer Stunde weg. Auch jetzt schien er sich auf den Weg machen zu wollen und schlüpfte in feste Schuhe. Der Herbst war da und die Wege feucht und rutschig vom Laub und Regen des Nachmittags. Es war schon dunkel, aber einem 16-jährigen konnten wir schlecht verbieten nach 19 Uhr das Haus zu verlassen. Zumal Jan in der Regel unter der Woche spätestens gegen halb 9 Zuhause war.
Mit Martin hatten wir damals diese Zeit ausgemacht und wollten Jan keine andere Regel auferlegen. Bisher gab es auch keinen Anlass dazu. Wir wussten in den meisten Fällen, wo er sich aufhielt und wir hatten es aufgegeben, ihn vom See oder dem Hochsitz fernzuhalten. Im letzten Sommer hatte er in den Ferien jede freie Minute mit Alex´ Clique dort verbracht. Im Moment schien es zudem so, als würde er langsam besser zur Ruhe kommen. Ja, er blieb verschlossen und hing viel seinen Gedanken und Träumen nach. Aber zu keinem Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, dass wir etwas übersahen. Nein, damals war ich mir sicher, dass wir das Schlimmste hinter uns hatten.
"Bin kurz weg", rief er uns zu und schon fiel die Tür ins Schloss. Martin hatte seinen Teller geleert, während ich meinen Gedanken nachgehangen war. Paul kam mit dem Getränkekörbchen aus dem Keller und sah seinen Ältesten an.
"Magst du noch eins?", fragte er und deutete auf die Bierflaschen, der mitgebracht hatte. Martin schüttelte den Kopf.
"Danke, Paps. Heute lieber nicht mehr", lehnte er ab. Er hatte sich zurückgelehnt und beobachtete uns, wie wir in der Küche miteinander agierten. Ich räumte das Geschirr in die Schränke, Paul füllte den Kühlschrank und dabei tanzten wir quasi um uns herum. Martin lächelte.
"Ihr seid nach all den Jahren immer noch irgendwie süß", meinte er irgendwann. Paul brummte etwas vor sich hin und griff nach der Zeitung. Wie jeden Abend würde er sich mit der Pfeife und dem Rätsel in die Bibliothek zurückziehen. Mein Mann liebt Rituale bis heute. Und an diesem hält er seit Jahrzehnten fest. Er entlockte seinem Sohn ein liebevolles Schmunzeln. Dann stand er auf und informierte mich, dass er sich schnell sein Bett beziehen würde und verschwand ins obere Geschoss. Ich räumte noch die Küche auf und deckte den Tisch für das Frühstück. Gerade als ich das Geschirrtuch auf hing, ging die Haustür. Sofort trottete Sunny in die Küche und steuerte seinen Wassernapf an. Kurz darauf ging die Tür wieder und ich sah überrascht zum Fenster. Jan eilte über den Hof und verschwand in der Werkstatt, in der Licht brannte. Irgendetwas hatte er sich fest an sich gedrückt gehabt, was ich nicht hatte erkennen können. Ich wandte mich um und fluchte leise, weil Sunny nasse Abdrücke hinterließ. Dabei regnete es doch gar nicht.
Irritiert wischte ich hinter dem Hund her, der sich zu Paul gesellt hatte. Auch vom Fenster hier hatte man die Werkstatt im Blickfeld. In der nächsten halben Stunde sah ich immer wieder herüber. Was trieb Jan dort? Seit seinem Wutanfalls vor ein paar Jahren hatte er die Werkstatt zwar hier und da betreten, aber bei Gott nicht lange und noch immer rührte er kaum Werkzeuge oder Holz an. Paul bemerkte meine Unruhe und legte die Zeitung beiseite.
"Was ist los?", wollte er wissen.
Ich zeigte zu dem kleinen Gebäude.
"Jan ist dort verschwunden, kaum dass er mit Sunny zurück war", antwortete ich. Paul trat neben meinen Sessel und berührte mich an der Schulter.
"Sieh doch nach", meinte er.
Seufzend legte ich das Strickzeug beiseite, mit dem ich mich versucht hatte abzulenken.
"Ich möchte ihn nicht kontrollieren", erklärte ich meinem Mann. In diesem Moment erlosch das Licht gegenüber. Auf einmal lag der Hof dunkel da. Ich wartete darauf, dass Jan den Bewegungsmelder auslöste, aber nichts passierte.
Die Tür lag leider außerhalb unseres Sichtbereichs, so dass wir nicht einschätzen konnten, ob Jan noch in der Werkstatt war oder schon heraus geschlüpft war. Dann aber bemerkten wir zwei Schatten, die sich eng an der Hauswand bewegten. Wer war da bei Jan? Und warum war er so darauf bedacht, dass alles dunkel blieb? Das Licht ging erst an, als Jan und seine Begleitung schon fast am Hoftor angekommen waren. Paul eilte vor mir in den Flur, Sunny folgte ihm direkt. Ich lief hinter den beiden her und war einen Schritt nach meinem Mann aus dem Haus. Von der unbekannten Person sah ich nur noch, wie sie um die Ecke bog. Jan sah uns erschrocken an und versuchte hinter seinem Rücken zu verstecken, was er bei sich trug.
Doch Paul war schneller. Überrascht sah ich auf die Handtücher, die er Jan aus der Hand genommen hatte. Zwei große Duschtücher, beide durchnässt. Und beide gehörten definitiv in unseren Haushalt. Jan hatte den Kopf trotzig gehoben und kaute auf seiner Lippe. Wir konnten förmlich zusehen, wie er sich eine Geschichte zurechtlegen wollte.
"Wer war das?", wollte ich wissen. Jan zuckte mit den Schultern.
"Deine Mutter hat dir eine Frage gestellt", hörte ich Paul sagen. Und ich hörte, wie sehr er versuchte sich zurückzunehmen. Er hasste es, wenn die Jungen frech oder respektlos zu mir waren. Was ja Gott sei Dank selten genug vorgekommen war. Langsam hatten wir uns wieder auf das Haus zubewegt und Jan schwieg noch immer.
"Was hat es mit diesen Handtüchern auf sich?", war meine nächste Frage.
"Antworte!", sagte Paul mit leiser Stimme, während er die Haustür hinter uns zu zog. Umständlich schlüpfte Jan aus den Schuhen und der Jacke. Er schindete Zeit. Und sein Vater verlor die Geduld.
"Verdammt, Jan. Ich möchte jetzt sofort wissen, mit wem du da eben in der Werkstatt warst", polterte er los. In Jans Blick, den er mir jetzt zu warf, lag eine stille Bitte. Ich deutete auf die Handtücher, die ich noch immer in den Händen hielt, da ich sie gleich in den Waschraum bringen wollte. "Erkläre es uns", forderte ich ihn auf. Versuchte es nochmal mit Milde. Paul verdrehte seine Augen.
"Gut, vielleicht hilft ja das. Du hast Hausarrest. Das heißt, du kommst von der Schule direkt nach Hause. Keine Umwege, keine Verabredungen, kein Schwimmtraining und kein Kirchenchor. 14 Tage!" Paul warf den Schlüssel in die Schale und rief nach Sunny. Dann ging er ohne ein weiteres Wort zu sagen in die Stube. Nochmal sah ich zu Jan. Der stand unschlüssig am Treppenabsatz. Seine Hand fuhr unruhig über das Holz des Geländers, aber er machte in der Tat keine Anstalten, nach oben zu gehen.
Ich spürte seinen Kampf. Er schwankte und schien sich nicht sicher zu sein, was er tun sollte. Wie sehr ich mir auch im Nachhinein wünschte, er hätte hier einfach den Mund aufgemacht. Ich weiß heute, dass er das später ebenso sah. Doch entschied sich, nicht alles Preis zu geben und vermutlich trug er schwer an dem Versprechen, auch schon an diesem Abend.
"Anna", sagte er schließlich und lief rot an.
"Anna?", wiederholte ich. Zögerlich setzte Jan einen Fuß auf die unterste Stufe. Nochmal schien das Geländer sehr spannend zu sein.
"Mehr darf ich nicht sagen, Mama. Ich habe es versprochen", flüsterte er. Dann sehr er mich flehentlich an.
"Papa kann mich doch dafür nicht bestrafen, dass ich einem Freund etwas versprochen habe. Wir proben doch schon für Weihnachten und ich soll doch das Solo in der Kirche singen." In seinen Augen spiegelte sich sein Kummer, seine Zerrissenheit.
"Jan, du musst auch uns verstehen", bat ich ihn vorsichtig. Er schaute mich an und antwortete leise.
"Ihr versteht mich doch auch nie."
Dann setzte er sich in Bewegung und wenige Sekunden später krachte seine Zimmertür. Seufzend ging ich zur Waschküche und schüttelte dort die Handtücher aus. Sie waren nicht nur nass, sondern waren auch ziemlich verdreckt. Kleine Ästchen fielen auf den Boden und etwas Laub. Nachdenklich stopfte ich sie in die Waschmaschine und entschied, dass ich diese erst morgen früh anstellen würde. Aus der Stube hörte ich den Fernseher, Paul sah eine Dokumentation. Langsam ging ich nach oben und klopfte an Jans Tür. Aus dem Zimmer war Musik zu hören. Eine Oper, wenn ich mich nicht täuschte. Jan lag auf dem Bett und hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Ich blieb im Türrahmen stehen.
"Ihr seid am See gewesen, oder?", fragte ich.
Keine Reaktion.
In der Musik kündigte sich gerade etwas unheilvolles an, das Orchester legte an Tempo und Lautstärke zu. Jan rührte sich nicht. Hatte er meine Frage überhaupt gehört? Hatte er, wie ich heute weiß, aber er entschied, dass er beim Schweigen bleiben wollte. Und erst viel später erfuhr ich, was sich an jenem Tag am See zugetragen hatte und wie sehr ihn das Versprechen belastet hatte.