Nachdenklich sah ich zu, wie der Sarg langsam in die Erde gelassen wurde. Nur eine kleine Gesellschaft hatte sich am Friedhof versammelt. Der helle Sonnenschein wollte nicht recht zu diesem Tag passen. Viel zu fröhlich zwitscherten die Vögel. Sie störten sich nicht an dem halblauten Schluchzen, flogen tollkühn zwischen den Bäumen umher. Pfarrer Bautz sprach noch ein paar Worte, dann wandte er sich um. Die Sargträger grüßten ein letztes Mal und traten dann respektvoll zurück. Ich griff nach Pauls Hand, der meine dann stumm drückte. Sein Blick war ruhig. Ernst. Gefasst. Aber ich kannte ihn, wusste um die Gefühle, die in ihm tobten. Mir ging es ja kaum anders. Mein Blick glitt über die wenigen Menschen, fand die Person, die hier und heute am Meisten litt.
Inga hatte versucht dem Schicksal zu trotzen. Sie hatte sich bis zuletzt an die Hoffnung geklammert. Selbst, als sich Anna dem Unausweichlichem längst gefügt hatte. Welch Ironie, was für eine Laune der Natur, dass der Tod an Annas Tür klopfte, als sie sich endlich für das Leben entschieden hatte. Sie war glücklich gewesen, hatte angefangen sich ein eigenes Leben aufzubauen. Fernab der schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung. Weit weg von der Region, die sie an den geliebten, toten Vater erinnerte. Ohne Jan, mit dem sie nur am Abgrund entlang spaziert war. Frisch verliebt war sie gewesen, auch sie hatte bereits an einem Theater gearbeitet und Liederabende begleitet. Anna, ich bin mir auch heute sicher, hätte es geschafft. Sie hätte es gemeistert, das schrecklich schöne Leben.
Doch gegen die akute und aggressive Leukämie war sie machtlos. Sie erhielt die Diagnose schon vor Weihnachten und ihre Chancen standen von Anfang an schlecht. Jan erfuhr erst Ostern von ihr persönlich, wie es um sie stand. Gerade erst hatte er sich mit der Trennung, Annas neuem Freund und der platonischen Freundschaft arrangiert. Ob er sie akzeptiert, geschweige denn verarbeitet hatte? Heute weiß ich: damals nicht. Sehr lange nicht. Die Krankheit brachte Inga und Anna einander näher. In den letzten Wochen wollte Anna aber nur noch ihre Mutter und Manuel, ihren neuen Freund, sehen. Von Jan verabschiedete sie sich knapp drei Wochen bevor sie starb. Kurz vor den Semesterferien und des geplanten Probenbeginn für Jans Sommerengagement. Inga brachte ihre Tochter zum Sterben nach Hause, Jan schmiss den Job und verließ die Uni. Er wollte in der Nähe Annas bleiben, kam vorzeitig nach Hause und verließ die Werkstatt kaum.
Ich hatte Angst. Furchtbare Angst. Der Gedanke, dass sich Jan etwas antun könnte wenn Anna starb, fraß sich in mir fest. Wir stritten uns, natürlich. Meine Nerven lagen blank und er fühlte sich kontrolliert. Es war Paul, der schlichtete. Mit seiner Ruhe schaffte er es immer wieder, dass Jans Jähzorn sich auch wieder legte. Martin, der an seiner Diplomarbeit saß, verbrachte viel Zeit mit seinem jüngeren Bruder. Das brachte etwas Struktur in Jans Tagesablauf. Zumindest vorübergehend.
Vor fünf Tagen hatte Inga am frühen Morgen angerufen. Paul hatte das Telefonat entgegengenommen und er war es gewesen, der zu Jan gegangen war. Im Grunde hatten wir ja alle auf keine anderen Nachrichten mehr gewartet. Mir fiel erst an diesem Vormittag auf, wie angespannt wir alle gewesen waren. Vorbei, hatte ich gedacht, als Paul den Hörer aufgelegt hatte. Das Warten war vorbei. Die Zeit mit Anna ebenso. Ich musste mich setzen und wartete auf Paul, der allein mit Jan sprechen wollte. In den letzten Wochen hatte unser Sohn seinen Vater deutlich näher an sich heran gelassen als mich. Paul erzählte mir später, dass Jan schon wach gewesen war und sofort gewusst hatte, warum er ihn hatte wecken wollen. Er hatte seinen Vater gebeten, ihn allein zu lassen. Das hatte Paul respektiert. Natürlich hatte er ihm angeboten, dass wir da waren für ihn. Doch Trauer und Jan, das war noch nie einfach.
Als Inga sich weigerte, dass er Anna nochmal sehen durfte, drehte Jan auf. Wir hatten bis dahin schon viele Wut- oder Tobsuchtsanfälle miterlebt, aber jener toppte kaum etwas. In seiner Hilflosigkeit und Trauer verwüstete Jan fast das komplette Zimmer. Alles was er von Anna in die Finger bekam, wurde zerstört. Briefe, Bilder, Andenken. Er war nicht zu stoppen. Martin war aus der Einliegerwohnung herbeigeeilt, der Lärm hatte ihn alarmiert. Doch auch er konnte nichts ausrichten.
"Lasst ihn sich austoben", meinte Paul irgendwann. Alles was Jan nicht klein bekommen hatte, verbrannte er am Abend auf der Feuerstelle im Garten. Da hatte er sich einigermaßen beruhigt. Dennoch sollte nichts von Anna zurückbleiben. Erst ein paar Tage später erfuhr ich von Inga, dass sie nur Annas letzte Wünsche respektiert hatte. Es verletzte auch mich, dass sie festgelegt hatte, dass Jan auch nach ihrem Tod nicht hatte zu ihr dürfen oder er auf der Beerdigung nicht erwünscht war.
Jan hatte keine Chance, er würde auch mit diesem Verlust nicht abschließen können. Bis zur Beerdigung blieb er rastlos, aufbrausend, wütend. Nele, Martins neue Freundin, traute sich kaum in seine Nähe. Am Morgen der Beerdigung war Jan verschwunden. Für uns stand außer Frage, dass wir ihr die letzte Ehre erweisen würden, wir hatten das mit Jan ausführlich besprochen. Sie war mehrere Jahre wie eine Tochter für uns gewesen, auch uns traf ihr Verlust. In seinem verletzten Stolz, seiner Ungerechtigkeit warf er uns vor, wir würden ihn verraten. Als er gesehen hatte, dass wir uns tatsächlich fertigmachten, hatte er das Haus verlassen. Ich fühlte mich furchtbar.
Mit Engelszungen hatte ich auf Inga eingeredet, ihm wenigstens die Möglichkeit zu geben, mit in die Kirche zu kommen. Ich habe lange nicht verstanden, warum sich Inga so gegen Jan stellte. Irgendwann habe ich begriffen, dass auch sie einen Sündenbock gebraucht hatte. Aus ihrer Sicht hatte Jan ihrer Tochter nicht gut getan. Ein Stück weit hat sie natürlich Recht. Diese ganze Beziehung war ungesund und mit Sicherheit könnte man lange darüber streiten, ob das nun wirklich Liebe gewesen war. Doch hätten wir nicht mindestens genauso gute Gründe gehabt, Anna zu hassen? Lange hatte ich überlegt, die halbe Nacht mit Paul diskutiert, ob wir nicht doch besser auch verzichten sollten. Jan zuliebe. Paul überließ die Entscheidung mir. Er meinte, würde ich mich damit wohler fühlen oder ich glauben, dass Jan damit geholfen sei, dann würde er hinter mir stehen.
Es war eine Bauchentscheidung gewesen. Das Gefühl, es auch Anna schuldig zu sein. Ihr Schicksal beschäftigte mich sehr. Wir hatten vor einigen Wochen ein langes Gespräch geführt. Anna hatte es als gerechte Strafe empfunden, dass es keine Heilungschancen gab.
"So oft hatte ich mein Leben wegwerfen wollen, da dachte Gott wahrscheinlich, er muss sich jetzt auch nicht anstrengen", hatte sie mir erklärt. Außerdem hatte sie mir versichert, dass sie mit Jan lange über ihre gemeinsame Zeit gesprochen hatte. Dabei hatte sie versucht ihm deutlich zu machen, wie wertvoll ein Leben war. Dass man nur dieses eine hatte. Dass er kämpfen musste, unter Umständen mit professioneller Hilfe. Auch jetzt, auf dem Friedhof, während Inga bitterlich weinte, dachte ich an Annas Worte. Würde Jan es nicht alleine schaffen?
Wie naiv ich war. Obwohl schon lange Mutter und mit einer ordentlichen Lebenserfahrung wollte ich offenbar nicht wahrhaben, dass die Probleme meines Sohnes kein Pappenstil waren. Wenn ich heute alles zusammenzähle oder sehe, was Jan im Leben passiert ist, dann begreife ich doch auch, dass vieles aus dem resultierte, was ihm schon bis hierhin passiert war.
Verluste.
Fehlendes Abschiednehmen.
Tiefe Ängste.
Vor dem Tod.
Vor dem Leben.
Vertrauen - Misstrauen.
Jan fühlte sich allein gelassen und suchte immer wieder nach Wärme, Nähe, Liebe. Und wir werden später noch sehen, dass auch dies fatal war. Jan war nicht für Konflikte gemacht. Gleichzeitig verschenkte er sein Herz immer wieder an Menschen, die seine vermeintlichen Schwächen ausnutzten. Und jedes Mal, wenn er verletzt wurde, zog er seine Mauer etwas höher.
Am Tag von Annas Beerdigung war sie unüberwindbar. Er tauchte auch Stunden danach nicht auf, bis Martin und Paul ihn suchten. Ich telefonierte an diesem Abend lang mit Ursel, die das Drama aus den Staaten verfolgte. Noch während wir sprachen, buchte sie ein Ticket. Es war dunkel als Paul und Martin überlegten, ob man die Polizei einschalten sollte. Unruhig war ich durch die Stube gelaufen, dann kam mir ein Gedanke.
Ich bat Martin, am Auto zu warten, nur Paul begleitete mich. Mein Instinkt hatte mich nicht im Stich gelassen. Vermutlich hatte Jan tatsächlich gewartet, bis es dunkel geworden war. Unheimlich war der Gang auf jeden Fall. Doch meine Erleichterung machte alles wett, als ich Jan entdeckte. Paul hielt mich zurück, als ich auf ihn zustürzen wollte. "Warte", bat er mich leise. Längst liefen mir Tränen über das Gesicht, meine Angst entlud sich in diesem Moment. Paul hielt mich kurz im Arm, dabei hatte er Jan im Blick, der sich nicht gerührt hatte. Noch hatte unser Sohn nicht auf uns reagiert, uns vielleicht nicht wahrgenommen.
Er kauerte auf dem kalten Boden. Kniete vor dem Blumenmeer. Das frisch aufgeschüttete Grab wirkte so unfassbar traurig. Und endgültig. Und Jans Schmerz traf mich ins Herz. Aber er saß da. Lebendig. Beinahe wäre ich in Pauls Armen zusammengebrochen. Besorgt sah mich mein Mann an, dann nickte ich ihm zu.
"Geh zu ihm", flüsterte ich. Nur zögerlich machte Paul einen Schritt, vergewisserte sich nochmal, dass ich in Ordnung war. Ich wollte keine Schwäche zeigen, nicht jetzt. Da saß Jan, ein Häufchen Elend, der seinen Vater dringender brauchte.
Ich weiß nicht mehr genau, wie und wann wir nach Hause gekommen sind. Als wir endlich alleine waren, Paul und ich, gab ich mich meinen Gefühlen hin. Ich gestand Paul, dass ich es nicht mehr aushielt, Jan leiden zu sehen. Dass mich meine Ängste fraßen und ich ihn in Sicherheit wissen wollte. Was ich immer schon an Paul geschätzt habe? Seine Besonnenheit. Seine Ruhe. Seine bedingungslose Liebe zu mir und seinen Söhnen. Er verstand mich. Fing mich auf in jener Nacht und war außerdem für Jan da. Paul gab unserem Jüngsten Halt. Sorgte dafür, dass Jan uns nicht völlig entglitt. Und dann war da Ursel. Die einfach in einen Flieger gestiegen war um uns beizustehen. Die mich entlastete. Die viele Gespräche mit Paul und mir führte. Die sich Martins Sicht der Dinge anhörte und nach einigen Tagen einen Zugang zu Jan fand.
Das Leid zu sehen, die tiefe Verzweiflung, der Kummer, der Zorn, die Wut. Und wir konnten ihm offensichtlich nicht helfen und es wurde über Tage nicht besser. Er ging viel zum Grab, verschanzte sich in seinem Zimmer oder der Werkstatt. Schlief kaum, aß wenig und wirkte gehetzt. Heute weiß ich, dass es eine Gratwanderung war. Dass er mehr als einmal daran dachte, Anna in den Tod zu folgen. Er hatte sie geliebt, die Trennung nicht verwunden und ihr Tod ließ ihm einfach keine Chance. Ursel beobachtete ihn, bot ihm ihre Hand, die er irgendwann nahm.
Etwa zehn Tage nach Annas Beerdigung saßen wir alle zusammen in der Stube. Draußen schüttete es und wir hatten gemeinsam Kaffee getrunken. Ein Samstagnachmittag, an dem nichts anstand. Paul saß am Kamin und sortierte eine Fotobox. Martin saß im zweiten Sessel mit einem Ordner. Er lernte für seine letzte Prüfung. Ich hatte mein Nähzeug vor mir, während Ursel mit Jan über ein Theaterstück sprach. Joschi, unser zweijähriger Schäferhund, lag mit dem Kopf auf den Pfoten zwischen Sofa und Stubentür. Sunny hatten wir wegen eines schweren Hüftleidens einschläfern lassen müssen.
"Ich würde Jan gerne mitnehmen, wenn ich nächstes Wochenende zurückfliege." Paul hob den Kopf.
"Wie, mitnehmen?", fragte er nach. Neben ihm klappte Martin den Ordner zu und Jan starrte seine Tante fragend an. Zitternd legte ich Nadel und Faden aus der Hand.
"Nach Amerika?", fragte ich. Mein Kopf war auf einmal vollkommen leer. Ursel zuckte mit den Schultern und schenkte sich nach.
"Warum nicht? So wie ich das sehe, könnte ein Tapetenwechsel nicht schaden. Das Studium kann er unterbrechen. Ein paar Kurse kann ich ihm mit Sicherheit besorgen, vielleicht kann er sich diese auch anrechnen lassen. Du hast ein Stipendium, oder?", wandte sie sich direkt an Jan. Der nickte und kaute auf der Lippe.
"Die Unterlagen dazu sollten wir mitnehmen. Die würde ich gerne einem befreundeten Musikdozenten zeigen. Ich habe mir sagen lassen, dass sich Gesangsschüler aus aller Welt um seine Meisterklassen reißen und er einen sehr guten Ruf hat." Sie zwinkerte fröhlich. Sah dann Jan in die Augen, der etwas verunsichert wirkte.
"Ihr braucht alle eine Pause. Es waren schlimme Monate. Ich weiß, Schwesterchen, dass du dich um Jan sorgst. Mir ist klar, lieber Paul, dass ihr das als Familie überwinden wollt. Dazu würde ich gerne beitragen. Euch eine Verschnaufpause geben. Und vor allem möchte ich Jan helfen." Wir schwiegen alle, dann räusperte sich Martin.
"Ich finde das gut und die Idee macht doch Sinn. Tante Ursel ist in den Staaten gut vernetzt und eine Luftveränderung kann nicht schaden." Er sah zu seinem Bruder.
"Möchtest du?", fragte Paul nur. Ein leichtes Nicken war die Antwort. "Gut. Dann lass uns am Montag klären, was getan werden muss", meinte Paul. Irritiert sah ich zu ihm. Wurde ich nicht gefragt? Paul schüttelte den Kopf, nur ganz sacht, als ich ansetzen wollte. Erst als wir unter uns waren, entschuldigte er sich, dass er diese Entscheidung ohne Rücksprache getroffen hatte.
"Ursels Argumente sind richtig, ebenso Martins Einschätzung. Geben wir Jan diese Chance. Ich fürchte, hier geht er uns zu Grunde. Schenken wir ihm ein paar Wochen oder Monate weit weg von hier. Mit der Uni findet sich eine Lösung, da bin ich mir sicher. Notfalls muss er sich neu bewerben und vielleicht hilft ihm dabei gar die Erfahrung, die er in den Staaten machen kann. Und auch wir, Schatz, müssen endlich zur Ruhe kommen. Du hast ununterbrochen Angst." Paul hielt mich in seinen Armen, als er sprach und küsste mir meine Tränen weg.
"Und die wird besser, nur weil er dann tausende Kilometer weg ist?", fragte ich spottend. Ich fühlte mich überrumpelt, obwohl ich Ursel und Paul durchaus folgen konnte. Jan musste raus. Und hier ging es um Jan, nicht um mich. Paul drehte mich sanft an den Schultern, so dass ich ihm ins Gesicht sehen konnte. In seine eisblauen Augen. Seufzend lehnte ich mich an ihn. "Ursel wird gut auf ihn aufpassen", beruhigte er mich.
Wir sprachen natürlich mit ihr und mit Jan. Legten Spielregeln fest. Fuhren Montagabend nach München und räumten Jans Wohnung aus. Er exmatrikulierte sich und suchte alle Scheine und Nachweise zusammen. Dienstagabend waren wir wieder zurück. Mittwoch telefonierte Ursel mit ihrem Bekannten, der sich sehr darauf freute, dass Jan sich im Laufe des Monats zu einem Vorsingen einfinden würde. Es ging alles furchtbar schnell. Schon Donnerstag packten wir und kauften noch ein Flugticket. Alles andere würde Ursel aus New York organisieren. Alex kam Freitag und staunte ob Jans Plänen. Versprach aber prompt, ihn in den nächsten Ferien zu besuchen. Ehe wir richtig durchatmen konnten, standen wir am Flughafen.
Ursel nahm Jan also mit. Und rettete ihm vermutlich zu diesem Zeitpunkt damit das Leben.