Es war schön, wieder Leben im Haus zu haben. Martin hatte zusammen mit Paul und Jonas die Einliegerwohnung modernisiert und nach seinem Geschmack um- und ausgebaut. Unbedingt hatte er eine offene Wohnküche gewollt und über den jetzt großen Raum besaß er auch einen Terrassenzugang. Nele, mit der er nun schon fast zwei Jahre zusammen war, hatte bei der Gestaltung mitgeholfen, war aber nicht mit ihm eingezogen. Sie arbeitete als Krankenschwester in der Kreisstadt und besaß dort eine kleine Wohnung. Durch ihre Nachtdienste war ihr der tägliche Weg einfach zu weit. Dennoch waren die beiden sehr glücklich und die junge Frau wuchs uns sehr ans Herz.
Mit großem Eifer und Motivation hatte Martin zudem in der Firma angefangen und durchlief alle Stationen, die Paul ihm vorschlug. So lernte er alle Arbeitsbereiche und Mitarbeiter kennen und schon nach wenigen Monaten war er Paul eine echte Hilfe. Seine rechte Hand. Durch sein Wesen, sein anpackendes Verhalten und seine hohe Eigeninitiative war er auch bei den Kollegen sehr beliebt und vor allem schnell respektiert. Ein wenig hatte Paul Sorge gehabt, dass man in dem jungen Mann nur den Sohn des Chefs sehen würde. Doch so war Martin ja immer gewesen, er gewann schnell das Vertrauen und die Sympathie anderer Menschen.
Wie früher waren oft Freunde zu Besuch. Martin hatte in den letzten Jahren spielend den Kontakt zu den Menschen seiner Jugend gehalten. Sein bester Freund blieb Jonas, der mit Neles bester Freundin liiert war. Zudem war er wieder beim Fußball aktiv und betreute dort auch ein Kindertraining. Zwei berufliche Angebote aus London und Berlin hatte er abgelehnt, weil er unbedingt wieder hier bei uns leben wollte. Seine Heimat bedeutete ihm viel, bis heute.
Wir fanden einen neuen Alltag. Gemeinsam fuhren Paul und Martin morgens zum Büro, zum Mittagessen fanden sich beide wieder ein. Ansonsten versorgte sich Martin alleine und blieb viel unterwegs. Oft fuhr er ins Heim, zu Margarete, die nun vollkommen in ihrer eigenen Welt lebte. Ab und an aber erkannte sie ihn und freute sich, ihn zu sehen. Aber es wurden immer weniger lichte Momente und wir wussten, dass es dem Ende entgegenging.
Ursel war an Weihnachten mit Jan aus den Staaten gekommen und hatte sich von unserer Mutter verabschiedet. Sie hatte auch Jan gebeten, dies zu tun. Wir waren positiv überrascht gewesen. Die ersten Monate schienen Jan gut getan zu haben. Wir hatten regelmäßig telefoniert und auch über Ursel gehört, dass er sich nach einer schwierigen Eingewöhnungszeit gut akklimatisiert hatte. Aber ihn für ein paar Tage zu sehen, hatte mich unglaublich beruhigt. Ja, die Entscheidung war richtig gewesen, der Abstand half uns allen. Jetzt im Frühsommer überlegte Ursel, ob sie nochmal kommen sollte. Auch die Pflegeleitung hatte uns nahe gelegt, dass es nun jederzeit so weit sein konnte. An manchen Tagen wurde Margarete gar nicht mehr wach. Das Verhältnis zwischen ihr und mir war nie leicht gewesen, aber ich hatte mich mit ihr ausgesöhnt, wir hatten beide unseren Frieden miteinander gemacht. Es schmerzte mich, dass sie eigentlich schon lange nicht mehr sie selbst war, an und für sich gar nicht mehr so wirklich am Leben teilnahm. Sich selbst, Leopold, ihre Kinder und Enkel vergessen hatte.
Als sie ihren letzten Atemzug tat, saß ich an ihrem Bett und redete leise mit ihr. Bestärkte sie darin, dass sie gehen konnte. Es war ein friedlicher Tod, wenn auch kein einfacher. Aber der erste seit damals Leopold, bei dem wir alle einigermaßen vorbereitet waren. Da sich Margarete eine einfache Urnenbestattung gewünscht hatte, hielten wir nur eine kleine Trauerfeier ab. Mit Ursel und Jan vereinbarten wir, dass es reichte, wenn sie zum sowieso geplanten Besuch im Sommer kommen würden.
"Nun sind wir beide elternlos", meinte Paul ernst.
Freitagabend, Luigis oder besser gesagt bei Enzo. Nickend nahm ich einen Schluck von dem vorzüglichen Rotwein. Der Weinkarte kam zugute, dass Enzo sich einen Partner ins Restaurant geholt hatte.
"Was bedeutet, dass wir nun die ältere Generation sind", erwiderte ich. Auch mein Mann hatte ein Rotweinglas vor sich. Meinen 50. Geburtstag hatten wir ganz leise für uns begangen, dafür stand die Feier zu unserem 30. Hochzeitstag vor der Tür. Die hatten wir aus Respekt gegenüber Margaretes Tod verschoben. Für den Herbst hatte Paul mich in die USA eingeladen. Längst stand fest, dass Jan noch ein weiteres Jahr dort bleiben würde. Paul schmunzelte.
"Für Enkelkinder fühle ich mich aber dennoch zu jung", meinte er.
"Sei froh, dass sich unsere Jungs damit Zeit gelassen haben, anders als wir", erinnerte ich ihn. Er nahm meine Hand.
"Und selbst wenn", antwortete er.
"Wie ernst ist es Martin mit Nele?", fragte ich. Immerhin bekam Paul mehr mit, er verbrachte sehr viel mehr Zeit mit unserem Sohn.
"Ernst genug. Zumindest wünscht er sich, dass sie dann doch zu ihm zieht. Irgendwann", meinte Paul. Er schwenkte sein Glas. Dann sah er mich an. Ich lächelte. Sicher, gerne konnte es noch ein bisschen dauern, aber gegen ein Kinderlachen im Haus hätte ich nichts einzuwenden. Und immerhin war auch Martin schon 28. Aber die Jugend wartete einfach länger als wir.
"Es hätte uns schlimmer treffen können. Nele ist ein feiner Mensch. Manch eine ihrer Vorgängerinnen waren mir deutlich unsympathischer." Paul schmunzelte, nahm einen Schluck.
"Paula", brummte er. Ich sah dieses Gothic-Mädchen vor meinem inneren Augen und schüttelte mich. Mehr als "ja" oder "nein" hatte sich nicht herausbekommen.
"Babsi", ergänzte ich. Dabei musste ich ein Kichern unterdrücken. Paul hob seine Augenbrauen.
"Diese Piepsstimme", stöhnte er leise. Wir erinnerten uns noch ein die ein oder andere Eroberung unseres Sohnes. Nein, Nele passte wirklich gut zu ihm und auch in ihrer Familie fühlte er sich wohl. Es ging ihm rundherum gut und er hatte seine Ziele immer noch im Blick. In Pauls Schublade lag zudem der Plan für den Ausstieg aus der Firma. Noch 6 Jahre, so plante er, dann würde er das Zepter gerne übergeben. Jetzt gab er der Bedienung ein Zeichen und ließ sich die Rechnung und die beiden obligatorischen Grappa bringen.
"Wir müssen darüber reden, wie es mit Jan weitergehen soll." Paul schob die Börse in sein Jackett und sah mich an. Ich schnupperte an dem kleinen Glas. Eine milde, fast goldgelbfarbene Sorte.
"Ursel hat angedeutet, dass sie etwas mit uns besprechen möchten. Ich nehme an, dass es in die gleiche Richtung geht" antwortete ich. Nachdenklich nippte ich. In den ersten Wochen hatte Ursel nur dafür gesorgt, dass Jans seelisches Gleichgewicht ins Lot kam. Da er auch in den Staaten eine therapeutische Hilfe abgelehnt hatte, hatte sie tief in die Trickkiste gegriffen. Ohne dass es Jan bis heute erfahren hatte, war er bei einem Musiktherapeuten gewesen. Der wiederum war ein guter Freund meiner Schwester und hatte Jan offiziell einige Gesangsstunden gegeben. Für Jans Trauerprozess war es hilfreich gewesen, aber weiter an sich herangelassen hatte Jan ihn nicht.
Ursel war empfohlen worden, dass ihr Neffe mehr brauchte, als diese paar Stunden. Stattdessen hatte sie ihn aber zumindest beschäftigt und abgelenkt bekommen. Jan hatte für verschiedene Klassen und Kursen vorgesungen, war hier und da unterrichtet worden und hatte sich neben dem Gesang in Schauspielkurse eingeschrieben. Daneben hatte er angefangen zu jobben. Er hatte in einer sozialen Einrichtung mit behinderten Kindern gearbeitet, was ihn hatte reifen lassen.
Und er besuchte Broadwayshows und Konzerte, wann immer es nur ging. Wir hatten Ursel für Kost und Logis Geld überwiesen, davon hatte sie aber nichts wissen wollen. Stattdessen stellte sie es größtenteils Jan als Taschengeld zur Verfügung.
Und sie forderte ihn. Nahm ihn auch mit zu Ausstellungen und Ballettabenden. Hielt ihn auf Trab, ermutigte ihn, seine Eindrücke und Meinungen mit ihr zu teilen. Sie stellte ihm Dozenten vor, aber auch Künstler und Darsteller, die sie zu ihrem Bekanntenkreis zählte. Darüber, so erfuhren wir ein paar Tage später, war Jan an einen interessanten Kontakt geraten, der ihn ein paar Mal hatte vorsingen lassen. Der ihm bescheinigt hatte, dass er eine große Stimme hatte, aber noch zu lernen habe, diese zu kontrollieren und auszubauen. Der ihm zudem riet, sich nicht auf die Klassik oder die Oper zu versteifen. Er hatte Jan vor einigen Wochen eingeladen. In sein Tonstudio nach Los Angeles. Fünf Tage war Jan an der Westküste gewesen und hatte im Crossoverbereich herumprobiert, ein Shooting und Probeaufnahmen im Schauspiel absolviert.
Wir saßen im Garten und hörten gebannt zu, was Jan alles zu erzählen hatte. "Man bietet mir in L.A. ein Stipendium für ein Jahr an. Ich könnte ein paar Diplome machen, ein bisschen auf der Bühne stehen. Ausprobieren. Auch im Studio arbeiten. Bisschen Werbung vielleicht." Begeisterung lag in seiner Stimme, die Augen leuchteten. Nichts, überhaupt nichts, erinnerte an den zornigen und traurigen jungen Mann, den wir vor zwölf Monaten Ursel mitgegeben hatten. Paul nickte bedächtig.
"Okay, und wo würdest du wohnen? Was käme da an Kosten auf uns zu? Und wie würde es in Deutschland anschließend weitergehen? Geht es hier überhaupt für dich weiter?"
Ich sah ihn erschrocken an, musterte Jan. Mir schnürte es fast die Kehle zu. Er würde doch nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, dort zu bleiben? Das ging doch nicht. Stumm ermahnte ich mich. Jan erzählte, dass er über den Campus an eine Studenten-WG kommen könnte, was deutlich günstiger wäre als die Alternative. Zumal er, aber auch Ursel, sich nicht auskannten in Kalifornien. Meine Schwester würde in New York bleiben. Dort also etwas zu finden, wäre ein reines Glücksspiel. Mir gefiel die Idee, dass Jan diesmal nicht alleine wohnen würde. Dennoch wartete ich gespannt auf den Rest seiner Antwort.