Immer wieder ging mein Blick zur Anzeigetafel. Paul kam mit einem Becher Kaffee zu mir und runzelte die Stirn. Der Flug aus Los Angeles hatte mächtig Verspätung. Dankbar griff ich nach dem Getränk und Paul führte mich aus dem Gewusel heraus. Er schlug vor, dass wir noch was essen gehen könnten. Immerhin war die Landung um zwei Stunden verschoben. Langsam gingen wir durch das Flughafengebäude und fanden einen überteuerten Bäcker. Aber man hatte von hier das Rollfeld im Blick. Es war früher Morgen und eigentlich hätte der Flieger mit Jan kurz vor Sieben landen sollen. Offenbar hatte es aber Verzögerungen bei der Abfertigung und dann ein Unwetter gegeben, das umflogen worden war.
Unser Jüngster kam endlich nach Hause, wir hatten ihn seit Weihnachten nicht gesehen. Anstatt im Herbst waren wir Mitte Dezember zu Ursel geflogen und Jan war einige Tage an die Ostküste gekommen. Zusammen mit ihm hatten wir die Feiertage verbracht. Seine Pläne waren aufgegangen. Doch nach fast 24 Monaten in den USA zog es ihn in die Heimat. Noch von L.A. aus hatte er sich um einen Platz an einem Konservatorium in Berlin gekümmert. Dort würde man seine in den Staaten erworbenen Diplome anerkennen und ihn verkürzt zum Sänger und Schauspieler ausbilden. Ebenso wurden die Semester in München angerechnet, so dass auch diese Zeit eine gewisse Wertschätzung erfuhr.
Von Ursel wusste ich, dass er sich sowohl in New York als auch in Los Angeles mit Mädchen getroffen und zumindest einmal auch eine kurze Beziehung geführt hatte. Mit meiner Schwester hatte Jan darüber offen gesprochen, uns hatte er noch nichts erzählen wollen. Dazu erschien ihm die Sache nicht ernst genug. Natürlich würden wir erst ein völlig neues Vertrauensverhältnis aufbauen müssen, dies war mir sehr bewusst. Es tat durchaus auch ein wenig weh, aber im Großen und Ganzen wertete ich Jans Zeit in den USA positiv.
Er hatte immer viel zu erzählen gehabt, wenn wir telefonierten. In der WG hatte er sich wohl gefühlt, auch wenn keine enge Freundschaften entstanden waren. In den Kursen hatte er viel gelernt, viel mitgenommen und sich darüber weiterentwickelt. Jan hatte Selbstvertrauen getankt und zumindest die oberflächlichen Wunden waren verheilt. Wie es tief in ihm aussah, das wusste niemand von uns. Da hielt er sich, wie es nun mal seine Art war, sehr bedenkt.
Für einige Wochen würde er nach Hause kommen, ehe sein Berlinabenteuer begann. Wir hatten einen sehr verletzten jungen Mann damals gehen lassen und bekamen nun einen gereiften jungen Erwachsenen zurück. Mir stockte kurz das Herz, als sich kurz nach Zehn Uhr endlich die Schleuse öffnete und er mit seinem Gepäck auf uns zu kam. Ich hatte Jan gar nicht so groß in Erinnerung gehabt. Im Nachhinein passt vielleicht ganz gut, dass er aufrecht durch diese Tür kam. Das dunkelblonde Haar trug er etwas länger, die Schultern waren breiter geworden und ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er uns entdeckte. Auf einmal kam ich mir so klein vor, als er mich in seine Arme schloss. Müde war er, kein Wunder nach dem langen Flug. Aber er freute sich auf sein Elternhaus, wie er betonte. Auf Joschi, der ihn hoffentlich noch erkannte und auch auf Martin und Nele. Die Beiden waren Ostern in Kalifornien gewesen und hatten von den zehn Tagen dort geschwärmt. Sie hatten Jan auf einem Liederabend und in einem Theaterstück erlebt. Martin hatte Zuhause nur bewundernde Worte für seinen Bruder gefunden. Obwohl ihm das Künstlerische so fern lag, bestärkte er ihn, diesen Weg beizubehalten. Uns hatte er gesagt, dass er Jan noch nie so zufrieden erlebt hatte, wie auf der Bühne.
In wenigen Tagen hatte Jan Geburtstag, sein 25. Und endlich schien er seinen Platz gefunden zu haben und hatte einen Weg im Blick. Als wir ankamen, wärmte ich die Suppe für das Mittagessen auf. Er aß mit großem Appetit, danach verschwand er für ein paar Stunden in seinem Zimmer. Wir hatten es nach seiner Abreise renovieren müssen, aber Jan kannte das Ergebnis aus den zwei Kurzbesuchen. Viele seiner Habseligkeiten hatten wir ordentlich in Boxen verpackt, so dass er irgendwann selbst entscheiden konnte, was genau er davon behalten wollte. Nach seinem Wutausbruch nach Annas Tod hatte ich nur ein paar Fotos retten können. Diese steckten in einem Briefumschlag, in einer dieser Kisten. Jan rührte bis zu seiner Abreise keine davon an.
Er schlief bis zum frühen Abend, dann brach er mit Joschi zu einem langen Spaziergang auf. Ganz von sich aus erzählte er mir später, dass er auf dem Friedhof gewesen war. Die Gräber von Elli, Jakob und auch Anna besucht hatte. Im Laufe der Woche wollte er auch die Urnengräber meiner Eltern im Nachbarort besuchen. Da war erstmals keine Verbitterung in seiner Stimme. Es wirkte auf mich so, als würde er endlich seinen Frieden machen mit all den Verlusten. Vielleicht war Jan zu diesem Zeitpunkt schon klar, dass er nicht mehr wirklich hier leben würde.
Es brauchte ein paar Tage, bis er sich vom Jetlag erholt hatte. Er traf sich viel mit Alex, der während seines Studium schon eine Geschäftsidee verfolgte. Er organisierte für ein paar Schülerbands Auftritte, kümmerte sich um deren Organisation und knüpfte gute Kontakte in die Szene. Wer konnte damals ahnen, dass Jans beruflicher Weg eng mit Alex verknüpft sein würde? Auf jeden Fall waren sie viel unterwegs in diesen Tagen und es stimmte mich froh, dass Jan sich diese Freundschaft bewahrt hatte. Wie es wohl gerade in letzter Zeit gelaufen wäre, wenn nicht Alex an seiner Seite gewesen wäre? Der ihn so gut kannte? Der ihn wie kein anderer zu nehmen wusste und sehr genau einschätzen konnte, wann er Jan auch fordern musste?
Oft hatte ich in diesen Tagen überlegte, ob wir irgendwann doch noch über alle Vorkommnisse sprechen würden. Mussten wir das nicht sogar? Hätten wir es tun sollen? Wäre es der richtige Zeitpunkt gewesen? Paul und ich waren unsicher, was nun richtig war. Einfach annehmen, dass Jan wieder da war und es ihm gut ging oder doch noch nachhören, nachfassen? Da war keine Wut, kein Jähzorn, keine Traurigkeit. Er blieb etwas verhalten, öffnete sich nur langsam, aber dennoch glaubte wir zu spüren, dass er besser mit sich zurecht kam.
Was ich nicht einschätzen konnte, damals nicht, davor sowieso nicht, war die Tiefe der seelischen Verletzung. Immerhin aber hatte ich begriffen, während Jans Abwesenheit, dass wir sehr viel mehr Hilfe gebraucht hätten. In der Gemeinde hatte ich damals eine Frau kennengelernt, der ich mein Herz ausgeschüttet, der ich unsere Geschichte erzählt hatte. Sie selbst war Heilpraktikerin und hatte eine Praxisvertretung übernommen. In vielen Gesprächen hatte sie mir zugehört und mir versucht die Sorge zu nehmen, dass ich als Mutter versagt hatte. Auch sie konnte Jan natürlich nur aus der Ferne einschätzen. Gerne hätte ich es gesehen, Jan wäre einmal zu ihr gegangen.
Ihre Worte, ihre Meinung, ich habe sie nie vergessen.
"Passen Sie auf, dass ihr Sohn diese Sachen nicht all zu tief in sich vergräbt. Verlustängste, die nicht aufgearbeitet wurden, dazu dieses fehlende Ur-Vertrauen und unter Umständen depressive Verstimmungen, das sind keine Lappalien." Sie lebte leider nicht mehr hier, als mir das alles wieder in den Sinn kam und wir genau damit konfrontiert wurden.
Jan ging nach Berlin und fühlte sich in der neuen WG sehr wohl. Er lebte mit zwei Jungs in seinem Alter zusammen, mit denen er auch die Ausbildung durchlief. Kontakte, die er auch später versucht hat zu pflegen. Was, wie wir alle lernen mussten, in dem Beruf nicht einfach war. Die jungen Leute wurden zudem in den Theateralltag integriert und übernahmen dort erste Aufgaben und standen ab und an auch mit auf der Bühne.
Eines Abends im Januar rief er an. Wir telefonierten in der Zeit regelmäßig. Er sprach oft mit Paul, aber auch mit mir. Außerdem meldete er sich häufig auch bei Martin. Mittlerweile nutzen auch wir die modernen Medien. Mails. Handys. Das alles vereinfachte es natürlich in Kontakt zu bleiben.
"Da ist jemand, Mama."
Überrascht lehnte ich mich in meinem Sessel zurück. Paul war noch bei einem Kunden und ich saß alleine in der Stube. Ich lächelte. Nach wie vor war ich der festen Überzeugung, dass eine unbeschwerte Liebe Jans Herz und Seele heilen würde.
"Erzähl mir von ihr", forderte ich ihn auf. Dann überlegte ich kurz. "Jan, ich freu mich für dich", schob ich nach.
Leise hörte ich ihn lachen.
"Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll", antwortete er.