Ein Kind trägt nie eine Schuld.
Wir die Erwachsenen sind es, die unsere Kinder formen und prägen. Mit guten und mit schlechten Dingen. Kinder lernen von uns, sie vertrauen uns und unsere Aufgabe ist es, sie zu erziehen. Sie zu lieben, ihnen Geborgenheit zu geben und auf sie zu achten. Mit Martin ist uns das besser gelungen, als mit Jan. Unsere Aufgabe wäre es gewesen, früh einzugreifen. Die Tatsachen nicht zu verleugnen. Wir sind diejenigen, die die Verantwortung tragen.
Natürlich kann mir heute niemand sagen, ob nicht alles ganz anders gekommen wäre, hätten wir ihm frühzeitig psychologische Hilfe zukommen lassen. Aber zumindest hätten wir es dann versucht gehabt. Dass Jan schlussendlich auch an Menschen geriet, die es nicht nur gut mit ihm meinten, die ihm tiefe Verletzungen zufügten, liegt auch daran, dass sein Selbstwertgefühl und seine Sensibilität ihm im Weg standen. Eigentlich, da bin ich mir sicher, suchte Jan nach Nähe und Halt. Aber dafür hätte er zulassen müssen, dass ihm jemand in die Seele blicken darf. Davor hatte er Angst. Und nach der Episode mit Jule begann er sich abzuschotten.
Seufzend schließe ich die Kladde und schiebe das Büchlein mit meinen Notizen in die Schublade des Sekretärs. Dort liegen sie, die gesammelten Aufzeichnungen, die ich in den letzten beiden Jahren angefertigt habe. Meine Erinnerungen. Die mir wichtig sind. Die ich meinen Söhnen nicht vorenthalten möchte. Vielleicht ist es irgendwann für sie wertvoll. Mein Blick gleitet langsam zum Fenster. Gegenüber im Kotten brennt Licht und ich kann den Schatten ausmachen, die sich langsam durch die Küche bewegt.
Die schlanke Silhouette meiner Schwiegertochter kann nicht mehr verbergen, dass sie ihr erstes Kind erwartet. Ich muss lächeln. Trotz allem. Paul hatte Tränen in den Augen, als wir von der Schwangerschaft erfuhren. Er liebt diese junge Frau sehr und hat ihr versprochen, dass er immer für sie da sein wird. Dass wir ihr helfen werden, im Rahmen unserer Möglichkeiten. So, wie wir es in den letzten beiden Jahren immer versucht haben.
Die finanzielle Absicherung ermöglichte es uns, dass wir den Kotten von Grund auf saniert haben. Zu Jakobs und Ellis Zeiten hatte es nur ein ein notdürftiges Badezimmer gegeben, die Rohre stammten noch aus Urzeiten. Paul hatte den letzten Lehrling seines Vaters mit dem Umbau beauftragt und wir hatten von Jans Sparbuch, dass fast noch unberührt war, alles bezahlt. Aus reiner Gewohnheit hatten wir lange Zeit noch einbezahlt, aber Jan hatte das Geld nie gewollt oder gebraucht.
Nochmal sehe ich rüber, die Vorhänge in der Küche sind noch immer offen, während die Fensterläden des Schlafzimmers verschlossen sind. Ihr Schatten huscht durch den Raum, bis sie wieder an der Spüle stehen bleibt. Eine Hand fährt über die kleine Wölbung ihrer Mitte und sie verharrt einen Moment. Ich wende den Blick ab, komme mir vor wie ein Störenfried, der sie heimlich beobachtet. Das war nun wirklich nicht meine Absicht.
In wenigen Monaten werden wir Großeltern. Erneut. Mein Herz zieht sich liebevoll zusammen. Wie sehr wir uns darauf freuen. Wie sehr auch wir darauf gehofft haben. Tief atme ich durch. Sehe zur Uhr. Kurz nach 18 Uhr. Paul ist auf einem Ausflug, Martin vermutlich noch im Büro. Zumindest steht auch sein Auto nicht im Hof.
Ich gehe in die Küche, setze Tee auf und schneide von dem Schokoladenkuchen auf, den ich am Vormittag für unseren Besuch gebacken habe. Ich weiß, dass sie kaum wird widerstehen können. Nicht bei Schokolade. Ich habe gerade alles auf den Tisch gestellt, als sie in der Tür steht. Müde sieht sie aus. Kein Wunder nach den letzten Tagen. Wieder einmal denke ich, dass sie mehr auf sich achten müsste. Gerade jetzt. Gerade mit der Vorgeschichte. Sie nimmt sich die Wolldecke vom Sessel und kuschelt sich hinein. Ihr ist immer kalt in diesen Tagen. Der Sommer hat sich dieses Jahr vorschnell verabschiedet und es dämmert bereits. Dunkle Wolken hängen tief über dem Waldrand, den man gerade noch so ausmachen kann. Dankbar greift sie nach der Tasse, die ich für sie gefüllt habe.
Im Kotten gegenüber ist alles dunkel. Ich setze mich schweigend zu ihr, sie folgt meinem Blick durchs Fenster. Sie umgreift die Tasse mit beiden Händen, pustet hinein. Lächelt dann. Fährt mit einer Hand über ihren Bauch. Wir brauchen in diesem Moment keine Worte. Wir verstehen uns blind. Schätzen uns. Lieben uns. Die Tochter, die mir selbst verwehrt blieb, ist mit dieser Frau ins Haus gekommen. Und ich möchte sie nicht mehr missen. Sie ist mir unheimlich nah. Ich empfinde tiefen Respekt vor ihr. Bewundere ihre Stärke und Zuversicht. Von der ersten Sekunde an. Wir sind alle an unsere Grenzen gekommen in den letzten Jahren. Auch sie. Doch sie hat uns gezeigt, was man so schaffen kann. Als wir alle nicht mehr weiter wussten, war sie da. Unerschütterlich. Und als sie schwankte, haben wir ihr ohne zu zögern alles an Hilfe geboten, was wir nur konnten.
Die Achterbahnfahrt der letzten Jahre hat mir sehr zugesetzt. Nie habe ich mich als Mutter hilfloser gefühlt. Nie hatte ich mehr Angst um das Leben meines Sohnes. Und nie war ich dankbarer für diese Frau, die uns das Schicksal regelrecht als Engel geschickt hat.
Vor fast genau zwei Jahren war eine Lawine in Gang gekommen, deren Ausmaß wir nicht hatten abschätzen können. Zahlreiche kleine Ereignisse haben in Jans Seele Räume geöffnet und all das ans Tageslicht gezerrt, was er sorgfältig vor sich selbst versteckt gehabt hatte. Und als er am verletzlichsten gewesen ist, wurde ihm eine weitere Wunde zugefügt, von der er sich beinahe nicht erholt hätte. Was haben wir hier gesessen, Paul und ich? Mit ihm, ohne ihn. Mit Alex. Ihr. Voller Angst und voller Sorgen. Es gab Wochen, in denen mich jedes Telefonklingeln erschreckte. Und alles hatte mit einem Anruf Jules angefangen.
Wie dankbar ich auch ihr bin. Die als gute Freundin in Jans Leben immer für ihn da war. Die auch unserer Schwiegertochter eine Freundin geworden ist. Nie hat sie ihr Wort von damals gebrochen. Wie auch Alex, der eben nicht nur die beruflichen Dinge für unseren Sohn regelt, sondern ihm der Freund geblieben ist, den er braucht. Mit aller Kraft hat auch Alex versucht, Jan eine Stütze zu sein, als er drohte, sich in seinem Labyrinth zu verlaufen. Vor allem haben beide sich nicht gescheut, uns ins Vertrauen zu ziehen, uns ins Boot zu holen. Haben auch Jan davon überzeugt, dass er sich uns anvertraut. Was ein schlimmer Tag auch das war.
Mein Mutterherz schrie und weinte, als er uns endlich erzählte, was ihm passiert war und was er in der Folge beinahe getan hätte. Als wir das große Ganze begriffen, fühlten wir uns ohnmächtig. Paul konnte kaum damit umgehen, dass er nicht wirklich helfen konnte. Aber dennoch kamen sich Vater und Sohn wieder näher. Weil mein Mann in den richtigen Momenten gute und kluge Entscheidungen traf. Zum Beispiel, als er die Renovierung des Kotten voran trieb und damit Jan einen Zufluchtsort schuf. Er war es, der mit Jan den vielleicht schwersten Gang seines Lebens gegangen ist. Weil Jan ihn darum gebeten hatte. Pauls Ruhe und Kraft waren enorm wichtig für unseren Sohn.
Wir haben in der Vergangenheit viele Fehler gemacht. Wir bekamen unzählige Möglichkeiten, es wieder gut zu machen. Wir haben versucht, jede zu nutzen. Haben versucht, da zu sein. Auch ohne Worte. Ohne Vorwürfe oder Fragen. Wenn es für uns schmerzhaft war, dann muss es für Jan die Hölle gewesen sein. Und wir haben Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, damit er einen Platz hat, an dem er zur Ruhe kommen kann. Hier bei uns. Immer. Jederzeit. Und er hat es angenommen, genutzt. Keine Frage, seine Welt lag in Trümmern. Alles war aus den Fugen geraten, als Diana ihn verließ. Und ihm nahm, an was er geglaubt hatte. Und als sie nochmal zuschlug, nahm sie ihm beinahe das Leben.
Ein Lichtkegel erhellt kurz die Küche, dann parkt Paul seinen Wagen vor der Garage und nur die Kerze spendet uns wieder Licht. Draußen sind die Autotüren zu hören. Gelächter und dann die tiefe Stimme Pauls. Dazwischen bellt der Schnauzermischling, den wir seit ebenfalls knapp zwei Jahren besitzen.
Die Haustür geht. Paul lacht, eine hellere Stimme antwortet ihm. Ich sehe meine Schwiegertochter an und atme durch. Ihre Hand ruht wieder auf dem noch kleinen Babybauch, in dem ihr erstes Kind heranwächst. Sie ruht in sich. Trotz des Dramas der letzten Tage. Ich komme nicht umhin, sie zu beneiden.
Paul kommt herein, er gibt mir einen liebevollen Kuss auf die Schläfe und lächelt unseren Gast an. Hinter ihm sind eilige Schritte zu hören, dann saust mit roten Wangen und zerzausten Haaren unser Enkelsohn heran. Mit hochgezogenen Brauen erkundigt sich mein Mann, ob er sich die Hände gewaschen hat. Der Junge nickt eifrig und klettert auf meinen Schoss. Dort schmiegt er sich an mich und will wissen, was es zum Abendessen gibt.
In wenigen Wochen wird er sechs Jahre alt. Bei meiner Antwort huscht ihm ein spitzbübisches Lächeln über das Gesicht. Sein blonder Schopf kitzelt mich in der Nase, dann drückt er mir ein nasses Küsschen auf die Wange. Er liebt Würstchen mit Kartoffelsalat und ich mache ihm diese Freude gerne. Paul berichtet, dass sie den Zaun an der oberen Grundstücksgrenze begutachtet haben. Der letzte Herbststurm hat ein paar Schäden hinterlassen, die er am Wochenende mit Martin reparieren möchte. Gleich am Morgen möchte er zum Baumarkt und die Materialien besorgen. In den Buben kommt wieder Bewegung, stillsitzen ist nicht seine Stärke. Unbedingt will er seinen Großvater begleiten. Paul wuschelt ihm durchs Haar, dabei sieht er unsere Schwiegertochter an, die bereits die Teller aus dem Schrank holt. Auch hier wird ohne Worte kommuniziert. Pauls stumme Frage beantwortet sie mit einem tapferen Lächeln. Sie deckt für fünf Personen ein und ich lausche noch ein bisschen den Worten des Jungen. Der unbedingt mit mir auch zu den Pferden möchte um nach dem Fohlen zu sehen, das im Frühjahr auf die Welt gekommen ist.
Wieder ein Lichtkegel, diesmal ist es Martin, der aus dem Büro kommt. Als der Kleine das Auto erkennt, rutscht er aufgeregt von meinem Schoß und eilt mit einem Strahlen zur Haustür. Er ist so flink, dass ich ihm nur noch hinterherrufen kann. Nicht, dass er in Socken heraus rennt, überall stehen noch Pfützen im Hof. Aber mein Sohn ist schnell an der Tür und ich höre den Jungen vor Freude quietschen. Martin wirbelt ihn durch die Luft und setzt ihn dann wieder ab. Aufgeregt wird er an die Hand genommen und in die Küche gezogen. Dort habe ich gerade den Salat aus dem Kühlschrank genommen und Martin grinst mich an.
"Lieblingsessen", stellt er erfreut fest. Sein Blick gleitet weiter. Er verweilt kurz bei der jungen Frau, dann sieht er zum Kotten. Kaum merklich schüttelt sie den Kopf und deutet mit dem Kopf kurz zu dem Kind.
"Nicht jetzt", formen ihre Lippen lautlos. Martin nickt nur, informiert uns, dass er sich nur schnell umziehen möchte. Dann ist er schon zu Tür heraus. Auch Paul steht auf, er möchte den Hund noch füttern, ehe wir essen. Fragend sieht er unseren Enkelsohn an, der sofort aufspringt. Natürlich will er mitkommen, was für eine Frage!
Ich sehe den Beiden hinterher. Paul, der in Würde gealtert ist, dem seit Frühjahr eine verschleppte Erkältung zu schaffen macht. Der Kleine, der ein Abbild seines Vaters ist und dabei die gleichen blauen Bergseeaugen seines Opas besitzt. Die Liebe eines Enkelkinds ist etwas so vollkommen bedingungsloses, dass es mir manchmal den Atem raubt. Und ebenso ist es die Liebe, die wir für dieses Kind empfinden. Und genauso werden wir das Kind lieben, dass unsere Schwiegertochter unter ihrem Herzen trägt. Ich drehe mich zur ihr um und bekomme gerade noch mit, wie sie sich eine Träne aus den Augenwinkeln wischt. Wortlos gehe ich zu ihr und drücke sie fest an mich.