Zwischen Jules besorgtem Anruf, ob wir etwas von Jan gehört hätten und ihrer vorsichtigen Entwarnung lagen gerade mal 12 Stunden.
12 Stunden in denen ich kaum geschlafen hatte.
12 Stunden, in denen ich unzählige Male seine Festnetz- und seine Mobilnummer gewählt hatte.
12 Stunden, in denen ich mir Furchtbares ausmalte.
12 Stunden, in denen ich alte Fotoalben durchblätterte, die Artikel zu seinen Premieren las und an die letzten Wochen dachte.
Immer auf der Suche nach einer Antwort.
Immer wieder war ich unser letztes Telefonat durchgegangen. Erst vor ein paar Tagen hatten wir gesprochen. Nur kurz. Jan hatte verhindern wollen, dass wir über Dritte davon erfuhren, dass er seinen Vertrag am Theater in Stuttgart vorzeitig hatte aufheben lassen. Zwar nur um ein paar Wochen, der Vertrag wäre Mitte November sowieso ausgelaufen, aber gerade das wunderte uns. Viel mehr hatte er nicht gesagt. Wie er überhaupt sehr schweigsam war, seitdem Diana ihn hatte sitzen lassen.
Jules zweiter Anruf beruhigte mich nur bedingt. Jan habe sich bei Alex gemeldet, es ginge ihm gut. Mehr wusste auch sie nicht und gerade weil sie immer wieder betonte, dass alles andere Jan uns erklären müsste, blieb in mir eine Unruhe. Wieder wählte ich Jans Telefonnummern. In seiner Wohnung sprang der Anrufbeantworter an, sein Handy war aus und die Mailbox deaktiviert. Ich hatte ihn gebeten, bei der Verabschiedung, dass er sich rühren sollte, wenn er irgendetwas brauchen würde. Er hatte es mir zugesichert und das Telefonat dann eilig beendet.
Paul hatte mich beim Frühstück besorgt gemustert. Natürlich konnte ich kaum verbergen, dass ich mir Sorgen machte. Er murmelte etwas davon, dass er mit Jan ein ernstes Wörtchen reden wollte. Dennoch fuhr er dann mit Martin ins Büro. Obwohl er die Firma übergeben hatte, half er an den Vormittagen noch mit. Nach dem gemeinsamen Mittagessen, das er und Martin fast immer hier einnahmen, fuhr unser Ältester aber in der Regel alleine zurück. Es hatten sich neue Routinen eingespielt. Am Vormittag hatte ich in aller Regel Zeit für die Hausarbeit und für mich. Doch an diesem Morgen kam ich nicht in die Gänge. Ich rief am Vormittag, als meine Unruhe immer stärker wurde, Alex an. Immerhin war er derjenige, der am Nächsten an Jan dran war, dem der schon aus beruflicher Sicht mehr anvertraute, als irgendjemandem sonst.
Jans bester Freund versicherte mir mit ruhiger Stimme glaubhaft, dass Jan ihm gesagt habe, dass es ihm gut ging. Auch er riet mir, mir keine zu große Sorgen zu machen. Immerhin habe er den Jungen bei sich.
„Den Jungen?“, wiederholte ich überrascht. Am anderen Ende seufzte Alex.
„Ihr wisst von nichts, oder?“, wollte er resigniert wissen.
Was meinte er? Ich fragte nach und Alex zögerte. Dann gab er sich einen Ruck.
„Anke, es ist Jans Job euch das alles zu erklären. Aber die Kurzfassung sollte in Ordnung gehen. Jan möchte das alleinige Sorgerecht und im ersten Schritt hat das Jugendamt gestern entschieden, dass der Kleine bei ihm bleiben kann.“ Ich tastete nach dem Sessel hinter mir und ließ mich fallen.
„Hier war ganz schön was los in den letzten Wochen“, führte Alex an. Nickend sah ich zum Fenster, der Postbote stand vor der Tür und hantierte am Briefkasten.
„Anke?“, fragte der beste Freund meines Sohnes.
Ich entschuldigte mich für mein Schweigen und fuhr mit einem Finger das Muster des Sessels nach.
„Wir hören kaum von ihm“, sagte ich leise.
Wieder seufzte er.
„Es ist gerade nicht einfach mit ihm. Es ist für ihn nicht einfach. Für David nicht. Gebt ihm Zeit. Er nimmt sich diese gerade für sich und wird sie nutzen. Das ist bitter nötig nach dem Chaos der letzten Wochen. Auch deswegen sind wir dem Vorschlag des Theaters gefolgt, dass Jan aus dem Krankenstand nicht zurück auf die Bühne kommt.“
Nun horchte ich auf. Krankenstand?
„Alles weitere muss Jan erzählen. Sobald ich ihn spreche werde ich ihm sagen, dass er euch anrufen soll.“
Ich konnte Alex verstehen, drängte ihn nicht weiter. Aber mein Sohn, der war uns Antworten schuldig. Nachdem ich aufgelegt hatte, wählte ich sofort seine Handynummer. Wieder nur die Stimme, die mir erklärte, er sei nicht erreichbar. Dann fiel mir die Post wieder ein. Paul wartete auf einen Brief. Ich sollte mich melden, wenn der angekommen war. Ich griff nach der Strickjacke und beschloss, anschließend direkt die Kartoffeln für das Abendessen aus dem Schuppen zu holen. Kurz vor 11 war es geworden und draußen war es bitterkalt und trüb. Das Radio hatte am Morgen berichtet, dass man schon früh mit Schnee rechnen sollte.
Ich hörte den Motor erst, als der Wagen schon auf dem Hof stand. Ich hatte gerade die Umschläge durchgesehen. Überrascht drehte ich mich um, als eine Autotür zu schlug. Und dann rannte mein Enkelsohn auf mich zu. Er strahlte mich an und schlang seine Ärmchen um mich. Blass und völlig übermüdet stand Jan am Kofferraum und lud eine Tasche aus. Mit hängenden Schultern sah er mich an. Während ich den Kleinen herzte, kam er auf mich zu. Sein Augenaufschlag traf mich mitten ins Herz und ich durfte für eine Sekunde sehen, dass es ihm nicht gut ging. Überhaupt nicht. Er räusperte sich umständlich und blieb vor mir stehen.
So groß wie Paul. Optisch ein Baum, aber seine Kraftlosigkeit hing sofort zwischen uns.
„Mama, können wir bleiben?“
***
Mit einem fragenden Blick betrat Paul die Küche.
„Er ist hier? Warum hast du nicht angerufen?“ Er gab mir einen Kuss und dann entdeckte er David. Der fast Vierjährige saß am großen Küchentisch und hatte einen Malblock vor sich.
Fast etwas scheu saß er da, hatte wenig gesprochen und nur leise nach einem Saft gefragt. Seitdem war er mit dem Malbuch beschäftigt. Jan, der kaum noch die Augen hatte offen halten können, hatte ich zum Schlafen in sein altes Zimmer geschickt.
Während ich den Suppentopf zum Tisch brachte, begrüßte Paul unseren Enkelsohn. Erstmals seit seiner Ankunft strahlte der kleine Mann.
„Na, wen haben wir denn da?“ Auch Martin betrat nun die Küche und lachte seinen Neffen an. Ich erklärte beiden nur knapp, dass Jan vor etwa einer Stunde angekommen war und sich zuerst hatte ausruhen wollen. Viel mehr konnte ich ihnen auch überhaupt nicht berichten, da Jan nur wenig gesagt hatte.
Im Grunde nur, dass er am frühen Abend losgefahren war, ein langer Stau seine Pläne durchkreuzt und er deswegen unterwegs eine Übernachtungspause eingelegt hatte. In der Nacht hatte aber wohl nur der Kleine einigermaßen geschlafen, er selbst hatte furchtbar ausgesehen. Müde, erschöpft, ausgelaugt. An seinen Augen hatte ich erkannt, dass er viel geweint haben musste. Mit einem fast flehentlichem Blick hatte er gefragt, ob er mir den Jungen anvertrauen könnte, er sei vollkommen erledigt.
Sehr still saß nun sein Sohn bei uns und löffelte seine Suppe. Misstrauisch beobachtete er uns. Auch er wirkte irgendwie geschafft. Natürlich hatte er mir nicht erklären können, warum sein Vater mit ihm hergekommen war. Fragen nach seiner Mutter wich er aus, sprach aber viel von einer Isa. Ich hatte mir zusammengereimt, dass es sich um eine der Erzieherinnen in seiner Kita handeln musste. Während ich die Teller abräumte und Martin einen Kaffee trank, versuchte Paul den Jungen aus seiner Reserve zu locken. Bot ihm an, dass er ihn später mit raus nehmen würde.
Gestern hatte Paul Holz gemacht und er wollte es noch zerkleinern und den Keller füllen. Außerdem wollte er die Grundstücksgrenze begutachten und vielleicht den Zaun streichen. Sofern es heute trocken bleiben würde, der Tag hatte neblig begonnen und mittlerweile hingen dicke Wolken am Himmel. Schüchtern fragte der Kleine nach den Pferden vom benachbarten Reiterhof. Und nach dem Holzspielzeug vom Sommer. Paul grinste und nickte ihm zu.
„Das können wir nachher holen, gute Idee“, lobte er. David lächelte scheu, aber in seinen Augen blitzte es lebhaft. Seit Wochen hatten wir ihn nur über Skype gesehen und auch dies nur selten. Es würde ein bisschen brauchen, bis er ungezwungen mit uns umgehen würde. David glich in diesem Punkt seinem Vater.
„Wo ist Papa?“, fragte er jetzt. Er war auf meinen Schoß geklettert und lehnte sich an mich. Ich strich ihm das semmelblonde Haar, ein Erbe seiner Mutter, aus der Stirn. Seine Augen ruhten ernst auf mir.
„Ich darf nämlich bei Papa bleiben.“ Nickend gab ich ihm einen Kuss auf den Schopf. Nachdenklich betrachtete Paul unseren Enkelsohn. Derweil brachte Martin seine Tasse zur Spüle und verabschiedete sich. Er bat uns aber, dass wir ihn auf dem Laufenden halten sollten. Mit kindgerechten Worten erklärte ich David, dass sich sein Vater von der Fahrt erholte.
„Hast du Pudding?“ Seine Kulleraugen brachten mein Herz zum Schmelzen. Hätte ich geahnt, dass Jan mit ihm kommen würde, ich hätte sofort seinen Lieblingspudding angesetzt. Dem auch Jan selten widerstehen konnte. Ob er sich darüber freuen würde, wenn er dann ausgeschlafen hatte? Erstmal schüttelte ich den Kopf.
„Leider nein. Aber ich habe noch Schokoladenkekse“, antwortete ich dem Jungen.
„Magst du davon?“, fragte Paul, schon im Begriff aufzustehen. Der blonde Schopf nickte eifrig. Lächelnd drückte ich ihn an mich. Wir würden sie schon aufpäppeln, alle beide.
Wir ahnten nicht, dass dies der Auftakt in die anstrengendsten Monate unseres Lebens sein würde. Nichts sollte danach noch so sein, wie es mal gewesen war. Ich lernte, dass man verdammt viel aushalten konnte, aber dass Angst einem viel Energie rauben konnte. Und die erste tiefe Angst bekam ich gleich an diesem ersten Abend zu spüren.