Zögernd stand ich vor der Zimmertür. Längst hatte Paul den Jungen mit an die frische Luft genommen, es war früher Nachmittag geworden. Ich klopfte leise. Nichts regte sich. Ganz vorsichtig schob ich die Tür auf und warf einen Blick in das spärlich abgedunkelte Zimmer. Jan hatte nur die Vorhänge zugezogen, nicht aber den Rollo heruntergelassen. Was wiederum völlig untypisch für ihn war. Selbst auf Texel hatten wir irgendwann die Schlafzimmer nachrüsten lassen, weil er besser schlief, wenn es dunkel war.
Mit einer Tasse Tee betrat ich den Raum und stellte diese auf dem Nachttisch ab. Jan lag im völlig zerwühlten Bett, mit dem Rücken zum Raum. Seine Atmung ging unregelmäßig, verschwitzte Haarsträhnen kräuselten sich im Nacken und auf seiner Stirn. Obwohl er fest zu schlafen schien, wirkte er unruhig. Gehetzt. In seinem Gesicht arbeitete es. Die Hand, die neben seinem Kopf lag, bewegte sich. Griff immer wieder zu, ballte sich zur Faust und öffnete sich wieder. Jan murmelte, aber ich konnte nichts verstehen. Nur kurz setzte ich mich auf die Bettkante und überlegte, ob ich ihn wecken sollte. Ob ich irgendetwas würde tun können, um ihn zu beruhigen.
Dabei lagen mir so viele Fragen auf der Zunge. Ich sah ihm ein paar Minuten zu. Fühlte mich sehr an das Kind erinnert, das er gewesen war. Seine Gesichtszüge waren ähnlich weich, die Lippen immer noch so geschwungen und die Wimpern zart. Der Anblick rührte mich und ich konnte beinahe greifen, dass er nicht grundlos zu uns gekommen war. Geduld, mahnte ich mich selbst. Gib ihm Zeit und ein bisschen Ruhe. Schlussendlich strich ihm kurz über die Schulter und ließ ihn dann alleine. Er war immerhin hier.
Eine knappe Stunde später, Paul war mit David noch draußen, hörte ich Schritte im oberen Geschoss. Die Badezimmertür, eine Weile später wieder die Zimmertür. Dann die Treppe.
Mit der Bügelwäsche stand ich im Wohnzimmer, als Jan herein sah. Wie blass er war.
„Konntest du ein bisschen schlafen?“, fragte ich ihn. Sein Blick war müde, seine Miene angespannt. Hart. Er zeigte keine Regung im Gesicht.
„Ein bisschen, ja. Wo ist David?“ fragte er. Ich lächelte, stellte das Bügeleisen auf.
„Gerade verpasst. Dein Vater hat ihn mit genommen, sie müssten jetzt oben beim Zaun sein. Magst du was essen? Ich habe dir eine Portion aufgehoben?“
Jan schüttelte den Kopf und wandte sich der Garderobe zu.
„Hör mal, ich muss nochmal los., sagte er ausweichend, fuhr in seine Schuhe und die Jacke, griff schon nach den Autoschlüsseln.
„Was ist los, Jan?“, fragte ich verwundert, ich war ihm in den Flur gefolgt. Wo wollte er denn hin?
„Mama, ich…..“ Er sprach nicht weiter, zuckte etwas ratlos mit den Schultern. Dann hielt er kurz inne.
„Hab euch lieb“, sagte er leise und war schnell zur Tür hinaus. Erst als sein Wagen vom Hof fuhr fiel mir auf, dass er mir nicht in die Augen gesehen hatte.
Aus irgendeinem Grund, den ich später nicht benennen konnte, kroch furchtbare Angst in mich. Ich sah minütlich zur Uhr und konnte mich kaum auf die Vorbereitungen für das Abendessen konzentrieren. Der Pudding kühlte ab, ich wollte David, aber auch Jan damit eine Freude machen. Ich kochte Kakao sowie Kaffee und holte ein paar Kekse aus der Dose. Brachte alles ins Wohnzimmer. Jan war schon weit über eine Stunde weg, als Paul mit David in Haus zurück kam. Der Junge trug stolz eine kleine Holzkiste vor sich her, die er mit seinem Großvater aus der Werkstatt geholt hatte.
Darin befanden sich allerlei kleine Figuren zum Spielen, die im Sommer Paul und Jan geschnitzt hatten. Offenbar hatte die Zeit mit Paul den Kleinen auftauen lassen. Er plapperte fröhlich vor sich her, während ich ihm mit der Jacke half. Paul versprach ihm, dass schon Kakao auf ihn wartete, er sich um die Legokiste kümmern würde und schickte ihn ins Wohnzimmer. Prüfend musterte er mich, während ich die Jacke des Kindes versorgte, dabei zitterte ich so sehr, dass sie mir mehrfach vom Bügel rutschte.
„Wo ist denn Jan hin?“, brummte er. Er hatte ihn wegfahren sehen und seine blauen Augen wanderten kurz in Richtung Stube.
„Ich weiß es nicht“, war meine Antwort. Besorgt sah Paul mich an, als wir David ins Wohnzimmer folgten.
„Hat er noch was erzählt?“
Paul schenkte sich Kaffee ein und warf David einen kurzen Blick zu, aber der war völlig in sein Spiel vertieft. Ich setzte mich, nahm mir selbst eine Tasse.
„Er wirkte irgendwie gehetzt“, meinte ich nachdenklich. Paul quittierte meine Antwort mit einem Heben der Augenbrauen. Mir fröstelte. Paul sprang auf und hantierte am Kamin, David sah ihm neugierig zu. Mich holten Erinnerungen ein, Gedanken an die Tage nach Annas Tod. Überhaupt an Anna. Paul betrachtete zufrieden, wie das Feuer endlich so brannte, wie er es sich das vorstellte.
„Paul, es wird schon dunkel“, meinte ich leise.
„Wir haben Herbst, natürlich wird es schon dunkel“, gab Paul verwundert zurück. Er steckte die Streichhölzer in seine Westentasche und bedachte David mit einem Lächeln.
„Na, kleiner Mann. Soll ich mal die Kiste mit dem Lego holen?“, fragte er. Ich stand auf, ging zum Fenster. Es hatte zu nieseln begonnen. Ich blendete Davids Begeisterung ebenso aus, wie Pauls Worte an mich. Mein Blick ging zur Uhr.
„Wenn er in einer Stunde nicht wieder da ist, würdest du dann bitte rausfahren?“, hörte ich mich fragen. Mir erschien auf einmal alles so klar. Jans Verhalten. Sein überstürztes Auftauchen.
„Raus fahren?“, wiederholte Paul, der im Türrahmen stehen geblieben war. Er sah mich an und ich erwiderte seinen Blick, versuchte ihm wortlos zu verstehen zu geben, was ich meinte. Er begriff nach einem Moment.
„An diesen vermaledeiten See?“ Warum verstand er mich nicht?
„Anke, wer fährt denn um Gottes Willen zu dieser Jahreszeit da raus? Ab davon, dass der Weg dorthin seit Jahren nicht gepflegt wird.“
Nach einigen weiteren dramatischen Vorkommnissen hatte die Stadt diverse Verbote verhängt. Weder schwimmen, zelten noch grillen war dort erlaubt. Das Bootshaus dürfte mittlerweile verfallen sein, ebenso der Hochsitz. Die Lichtung war vollkommen zugewachsen. Selbst Jäger mieden den Bereich.
„Bitte. Es ist nur so ein Gefühl. Denk doch mal nur an…..“ Paul unterbrach mich. Kam auf mich zu und zog mich in seine Arme. Ich lehnte mich an ihn, genoss die Stärke und Ruhe, die er ausstrahlte. Ein paar Sekunden lang glaubte ich, dass ich Gespenster sah, doch dann war es wieder da, dieses Gefühl, dass etwas furchtbares in der Luft lag. Paul seufzte.
Nachdem Paul die Kiste geholt hatte, schaute Martin kurz vorbei. Während er mit seinem Neffen spielte, erfuhr ich von Paul, dass David ein bisschen was erzählt hatte. Natürlich ergab sich aus den Worten des Jungen kein genaues Bild. Dennoch hatte Paul heraus gehört, dass er viel bei Dianas Eltern gewesen war und dort nicht mehr hin wollte. Aufgeregt hatte er von einer Ohrfeige berichtet, die er entweder von deren Vater oder von Diana selbst erhalten hatte.
Mir entglitten die Gesichtszüge. Was dort nur los gewesen? Ich sah dem Kleinen zu, der eifrig mit seinem Onkel an einem Turm bastelte und dabei vergnügt lachte. Ja, still war er bei der Ankunft gewesen. Doch mittlerweile schien er voll und ganz bei uns angekommen zu sein.
"Schnee!!! Schnell, Omi, Opi, schaut!", rief er mit einem Mal und lief eilig zum Fenster. Tatsächlich. Aus dem leichten Niesel- und Schneeregen waren Flocken geworden. Grinsend stellte sich Martin hinter ihn.
"Vielleicht hast du Glück und es bleibt liegen, dann bau ich morgen mit dir einen Schneemann", meinte er.
Unser Enkelsohn drehte sich mit einem fröhlichen Lächeln um und in seinen Augen blitzte es. Zusammen mit Martin sah er dem Schneefall noch eine ganze Weile begeistert zu, während ich das Abendbrot richtete. Der Kleine hatte bekundet, dass er Hunger hatte, wir entschieden nicht auf Jan zu warten. Martin verabschiedete sich, als ich Paul samt David an den Tisch rief. Er wollte heute mit Nele essen, die bald von ihrem Dienst kommen müsste. Über den Pudding freute sich David sehr und er wollte sogar eine zweite Portion. Für Jan hatte ich schon etwas beiseite getan, immer wieder ging jetzt mein Blick zur Uhr. Die Stunde war um. David wurde stiller und saß dann gähnend am Tisch. Ich entschied, ihn ins Bett zu bringen und warf Paul einen langen Blick zu.
Seufzend stand er auf und nickte mir zu.
"Kümmere du dich um David. Ich räume schnell ab, dann fahre ich los", sagte er. Erleichtert brachte ich David nach oben. Ich hörte Paul rumoren, als ich den Jungen umgezogen hatte und mit ihm Zähne putzte. Schon da fielen ihm die Augen zu. Brav krabbelte er wenige Minuten in sein Bett und drückte seinen Teddy an sich. Ich hatte keine Mühe mit ihm. Sein Tag war lang und voller Abenteuer gewesen, er hatte auch keinen Mittagsschlaf gemacht. Als sich die Treppe wieder herunter kam, schlüpfte Paul gerade in seine dicke Jacke. Noch immer schneite es. Langsam blieb tatsächlich etwas liegen. Besorgt sah ich ihn an.
"Fahr vorsichtig. Im Wald ist es bestimmt glatt", meinte ich. Nickend griff Paul nach seinem Schlüssel und der kleinen Taschenlampe. Ich zitterte und konnte meine Tränen jetzt nicht mehr zurückhalten. Ach, wäre er doch nur schon gleich gefahren. Mein Herz hämmerte.
"Und bring mir bitte mein Kind nach Hause", schluchzte ich. Erschrocken drehte sich Paul nochmal um. Ich zuckte mit den Schultern.
"Wenn er sich was angetan hat, das könnte ich mir nie verzeihen", entfuhr es mir. Paul schüttelte den Kopf.
"Denk doch nur an Annas Tod." Hilflos knetete ich meine Finger.
"Das ist doch was völlig anderes. Jan hat doch jetzt eine Aufgabe. Er hat seinen Sohn. Für den muss er da sein", entgegnete Paul.
Natürlich hatte das Argument Berechtigung. Aber sah Paul denn nicht, dass Jan dazu überhaupt nicht in der Lage war? Ehe ich etwas erwidern konnte, verließ er das Haus. Ich ahnte, dass er sich ausschließlich mir zuliebe überhaupt auf den Weg machte.
Ich wechselte zum Küchenfenster und sah zu, wie Paul in unseren SUV stieg. Er hatte gerade erst den Motor gestartet, als zwei Lichtkegel den Hof erhellten. Vor Erleichterung schossen mir erneut Tränen in die Augen. Mir wurde schwindelig und ich musste mich kurz setzen. Paul schlug seine Autotür zu und ging auf den Wagen unseres Sohnes zu. Ich schickte ein Dankgebet zum Himmel und eilte zur Haustür.