Ohne Paul an meiner Seite hätte ich diese erste Krise nicht überstanden.
Bei jeder Stimmungsänderung Jans zuckte ich zusammen. Ich wurde unruhig, wenn ich nicht wusste, wo genau er steckte. Am Liebsten hätte ich ihn rund um die Uhr in meiner Nähe gewusst. Diese Angst, das Gefühl ihn zu verlieren. Immer wieder das Grummeln im Magen.
Dabei verließ Jan die ersten drei Tage nach dieser Nacht das Grundstück überhaupt nicht. Er war meist im Haus, schlief viel oder Paul beschäftigte ihn mit Arbeiten auf dem Hof. Zusammen besserten sie den Zaun aus, strichen ihn an einem Nachmittag, als sich endlich mal die Sonne zeigte. Paul hatte ewig vorgehabt den Dachboden zu entrümpelten und den Schuppen aufzuräumen. All dies erledigte er zusammen mit Jan, damit der nicht in Grübeleien versank. Dazwischen tobte David herum, der unbedingt mithelfen wollte. Oder einfach seinem Vater auf Schritt und Tritt folgte.
Es war auffällig, wie sehr David an Jan hing. Auch er vergewisserte sich regelmäßig, dass sein Papa in der Nähe war. Immer nur zeitweise ließ er sich von Martin oder mir ablenken. Das Hin und Her der letzten Wochen war an dem Kind nicht spurlos vorüber gegangen, dies war ihm deutlich anzumerken. Über seine Mutter wollte er anfangs überhaupt nicht sprechen. Erst als Jan ankündigte, dass sie sich in ein paar Tagen auf den Heimweg machen würden, fragte David nach, ob er trotzdem bei ihm bleiben durfte.
Auch Martin war eine Hilfe. Er war vollkommen der Sohn seines Vaters und versuchte direkt anzupacken, da unterstützend einzugreifen, wo er gebraucht wurde. Vor allem eben mit David, der beschäftigt werden wollte. Aber auch für mich war er da. Einmal weinte ich mich an seiner Schulter aus. Ich denke, Martin begriff meine Sorgen, aber das Verhalten Jans konnte er nicht nachvollziehen. Die Unterschiede der Beiden traten deutlich zu Tage in dieser Situation. Dennoch war Martin auf seine Art und Weise für Jan und die Familie da. Er nahm uns Dinge ab, für die wir einfach keine Zeit fanden. Er verschob die wenigen Termine, die Paul hatte wahrnehmen wollen oder übernahm diese auch komplett. Vor allem Paul war es ja, den Jan an sich heran ließ.
Es wurde viel telefoniert in diesen Tagen. Jan sprach täglich mit seiner Therapeutin, außer am Sonntag. Auch wir tauschten uns mit ihr aus und wussten, dass Jan sofort bei ihr vorstellig werden würde, sobald er Zuhause war. Sie war eine sehr freundliche und besonnene Frau, die mit meiner Aufregung gut umgehen konnte. Sie beruhigte die Gesamtsituation mit ihrer einfühlsamen Art. Sie hatte uns Notfallkontakte in der Region an die Hand gegeben und uns gebeten, diese auch zu nutzen, sollten wir nicht weiter wissen. Dies galt für uns und Jan gleichermaßen. Gemeinsam mit ihm sprachen wir ausführlich darüber, dass aus der ersten diagnostizierten Verstimmung eine Depression entstanden war. Was auch sie zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, da sie ihn da viel zu kurz kannte und er viel zu wenig erzählt hatte, es handelte sich um eine längst dagewesene, bisher nicht diagnostizierte Erkrankung.
Wir alle glaubten an eine situationsbedingte Krise. Warum auch nicht? Auf uns alle wirkte Jan einigermaßen stabil, als er mit David nach Hause zurückkehren wollte. Der Junge sollte schnellstmöglich wieder in einen geregelten Alltag und Jan wollte die wichtigsten Baustellen angehen. Motiviert hatte er mit Paul und Hans erste Ideen für einen Betreuungsplan und für das Umgangsrecht Dianas auf Papier gebracht. Er hatte mit Alex gesprochen und Jule hatte sich angeboten, dass sie die Konzertreise nicht nur als Maskenbildnerin, sondern auch als Davids Babysitterin begleiten würde. Jetzt freute sich Jan schon fast auf den anstehenden Probetag und die Reise, die mit einer Pause insgesamt über 14 Tage gehen sollte. Die Rückkehr in den Beruf, auf die Bühne, sie war ihm wichtig. Es schien so, als würde sich alles in geregelte Bahnen lenken lassen. Niemand von uns rechnete mit Dianas Eskapaden und Jans zunehmenden Seelenschmerz, der dann auch vor seinem Körper nicht Halt machte.
Am Abend vor seiner Abreise saßen wir nochmal zusammen. David schlief, ich hatte ihn gebadet und Paul hatte ihm eine lange Abenteuergeschichte erzählt. Unser Sohn wirkte aufgeräumt, hatte sich ganz offensichtlich gefangen und er bedauerte es sehr, dass er mir solche Angst gemacht hatte. Er gab zu, dass er viel zu spät nach Hilfe gefragt hatte. Dass er immer noch fürchtete, dass er sich zu viel vorgenommen hatte. Doch für David wollte er sich zusammenreißen. Einen Weg finden. Ich wusste aus den Unterhaltungen der letzten Tage, dass er sich auch bei Alex und Jule für sein Verschwinden entschuldigt hatte. Natürlich hatte er eingesehen, dass er unfair gehandelt hatte. Beide hatten versucht ihm zur Seite zu stehen, doch er war einfach fortgelaufen.
Es sollte das letzte Mal sein, dass er so offen mit uns sprach. Später sagte mir jemand, ich müsse mir Jans Seele so vorstellen, als sei sie mit einem dicken Panzer umgeben. Immer wieder gab es Risse. Versuche die Schale zu öffnen. Überall aber auch Narben, die von tiefen Verletzungen zeugten. Manche würden mit der Zeit verblassen, andere würden für immer bleiben. Aber eben unsichtbar.
Verborgen vor neugierigen Blicken. Jan trägt heute auch sichtbare Narben am Körper, die an diese Zeit erinnern. Sie mahnen ihn und uns alle daran, dass es diese Schnitte nicht nur auf seiner Haut gibt.
Am Ende dieser langen Woche war der Panzer durchlässig, die Mauer hatte Löcher und Jan ließ uns hineinblicken. Leider fehlte ihm in der Folge der Mut und das Vertrauen. Die Distanz tat ihr übriges.
"Und was ist nun mit dieser Isabelle?", wollte ich an diesem Abend wissen. Immerhin hatte der kleine David viel von ihr erzählt. Auch, dass er sie nicht nur im Kindergarten sah. Offenbar waren sie zu dritt gar für ein paar Tage verreist gewesen. Zumindest hatte unser Enkelsohn von einem Bauernhof berichtet, auf dem er mit anderen Kindern gespielt hatte.
Jan fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und zuckte bekümmert die Schultern.
"Ich fürchte, ich habe sie völlig vor den Kopf gestoßen. Vielleicht gibt sie mir die Chance, ihr alles zu erklären, wenn ich zurück bin. Wenn nicht, kann ich es gut verstehen. Vermutlich hab ich verdammt viel Porzellan zerschlagen." Er hatte mir erzählt, dass sie sich zueinander hingezogen fühlten. Dass da schon ein zartes Pflänzchen am Wachsen gewesen war, bis er vor der Überforderung geflüchtet war.
"Sie war so oft da, Mama. Hat mich ausgehalten, als ich wegen des Tests durcheinander war. Hat mir beigestanden, wenn Diana mir eine Szene machte, den Kleinen ohne Voranmeldung bei mir ablieferte oder als ich krank geschrieben wurde. Sie hat immer gesagt, dass wir alle Zeit der Welt haben. Dass wir schauen, wohin uns das führt. Und ich? Ich war nicht ehrlich zu ihr. Hab ihr meine Probleme verschwiegen. Und gleichzeitig hab ich mir gewünscht, dass sie bei mir bleibt. Sie bringt mich zum Lachen, macht mir das Herz ganz leicht und sie akzeptiert keine Sackgassen. David ist ganz vernarrt in sie." Nachdenklich zupfte er am Ärmel seines Pullovers. Immer waren seine Finger in Bewegung, nie konnte er einfach nur still sitzen. Außer wenn David in seinen Armen lag oder sich an ihn gekuschelt hatte.
"Glaubst du nicht, dass ist zu früh? Für David? Für dich? Wenn du Diana vorwirfst, dass sie den Jungen mit ihrem neuen Partner überfordert, musst du dir unter Umständen den gleichen Vorwurf gefallen lassen", meinte Paul. Er hatte das Holz aufgeschichtet und kniete noch vor dem Kamin. Seufzend lehnte sich Jan im Sessel zurück.
"Ich weiß es nicht, Papa", gab er traurig zur Antwort.
Paul schob die Streichhölzer in seine Westentasche, sah kurz in die Flammen, dann richtete er sich wieder auf. Fragend sah er zu mir. Ich schüttelte den Kopf, so füllte er nur zwei Gläser mit einem Grappa und reichte einen an seinen Sohn. Während er sich zu mir setzte, beobachtete ich Jan.
"Weißt du, die Liebe kannst du dir nicht aussuchen. Sie kommt, nimmt dich in Beschlag und möchte gehört werden. Du kannst du nicht mit Vernunft ran. Rede mit ihr und sei ihr gegenüber offen und ehrlich." Ich lächelte ihn aufmunternd an. "Du wirst alle Hände voll zu tun haben. Mit dir, deinem Kind, dieser Konzertreise, den Planungen für München. Diese Therapie musst du ernst nehmen. Du hast jetzt die Verantwortung für David. Dessen musst du dir bewusst sein und es ist nur fair, wenn du auch Isabelle reinen Wein einschenkst." Ich sah zu Paul, der mir zuzwinkerte.
"Weißt du, mein Sohn, wenn du dein Herz für den anderen nicht öffnest, dann kann es der anderen im Gegenzug vielleicht auch nicht. Ich weiß, dass du gerade im Moment nicht zusätzlich verletzt werden möchtest. Dass du jahrelang dein Inneres so gut versteckt hast, dass du es selbst fast verloren hast. Doch wenn du irgendwann, sei es jetzt mit Isabelle oder später mit einer anderen Frau, glücklich werden willst, dann musst du es zulassen. Diese junge Dame klingt so, als habe sie das Herz auf dem rechten Fleck. Sie hat dir offenbar schon bewiesen, dass sie nicht bei jeder Kleinigkeit davon läuft. Im Gegensatz zu Diana scheint sie ehrlich an dir interessiert, ist für dich da gewesen. Probiere es. Sei mutig. Stell dich den Themen. Arbeite auf, was mit Diana passiert ist. Gib dir selbst eine Chance. Es gehört zum Leben, dass man auch mal scheitert. Es ist keine Schande hinzufallen. Nur liegenbleiben, das solltest du nicht."
Für Paul eine lange Rede. Sie traf mich absolut in mein Mutterherz und ich kämpfte mit den Tränen. Jan hatte irgendwann bei Pauls Worten den Blickkontakt abgebrochen. Überrascht fuhr ich zusammen, als ich Pauls Lippen an meiner Schläfe spürte. Dann wischte er behutsam mit seinem Daumen die Tränen von meiner Wange. Ich lehnte mich an meinen Mann und atmete den vertrauten Geruch ein. Woher nahm er diese Kraft und diese Weisheiten? An und für sich war Paul ein wortkarger Mensch. Vielleicht erreichte er Jan deswegen so sehr? Auf jeden Fall blickte dieser wieder hoch und ich sah in seinen Augen, dass er seinem Vater gut zugehört hatte.
"Aber es ist doch gerade erst vorbei mit Diana", murmelte er. Energisch schüttelte Paul den Kopf.
"Jan, du solltest sehr intensiv darüber nachdenken, es vielleicht mit deiner Ärztin besprechen, was das überhaupt war. Liebe jedenfalls, glaube mir, war das nicht." Ich schluckte und nickte zustimmend, ehe ich das Wort ergriff.
"Du solltest dennoch bereit sein, auch etwas zu geben, Jan. Du kannst nicht nur nehmen oder dich in eine Beziehung stürzen, nur weil du da in dieser Extremsituation aufgefangen wirst. Von daher gebe ich dir recht, dass es etwas überstürzt sein könnte. Es ist aber egal, was andere darüber denken oder reden. Das sollten nicht die Beweggründe sein. Höre auf dich und rede mit ihr. Binde sie ein, schließe sie nicht aus. Bring alles auf den Tisch, anders geht es nicht."
Ich musste an Jule denken. An das Scheitern der beiden damals. Jule hatte auch geben wollen, aber nichts zurückbekommen. Im Gegenteil, Jan hatte sie von sich gestoßen. Ob auch Jan daran dachte?
"Danke", hörte ich ihn sagen. Er hielt das leere Glas in der Hand und drehte es hin und her. "Sie hat gesagt, als es um die depressive Verstimmung ging, dass sie mich damit nicht allein lässt. Dass sie nicht zulässt, dass ich daran scheitere. Aber ich habe es einfach nicht geschafft." Er hielt in der Bewegung inne. Sah mir genau in die Augen.
"Ob ich die zweite Chance bekomme?" Er sah schrecklich verloren aus. Der Pulli war ihm eine gute Nummer zu groß, fast 10 Kilo hatte er seit dem Sommer abgenommen und auch hier nur schlecht gegessen. Was sollte ich nur darauf antworten?
An dem Tag, an dem er fuhr, hätte ich ihn am Liebsten da behalten. In mir schrie alles, dass er nicht so weit war. Dass er hier in Ruhe gesund werden sollte. So sehr ich mich auch versuchte an Dr. Jägers Worte zu halten, so viel Angst hatte ich gleichzeitig. Dabei verstand auch ich, dass ich es auch dann nicht verhindern könnte, würde er sich ernsthaft etwas antun wollen, wenn er hier bei uns bleiben würde.
"Kümmern, ja; überwachen, nein. Vertrauen Sie ihm, er ist auf einem guten Weg." Dr. Jäger hatte mich versucht zu beruhigen, aus ihrer Sicht war Jans Gefährdung nicht mehr akut.
"Er schafft das. Er möchte es, er wird hart dafür arbeiten müssen. Es ist wichtig, dass auch Sie daran glauben und ihm das zeigen", hatte sie erst gestern noch zu mir gesagt. Jan wollte Weihnachten wiederkommen. Nur wenige Wochen also. Wir hatten vereinbart, dass er sich jeden zweiten Tag melden sollte. Es fiel mit trotzdem schwer, zumal auch Davids Geburtstag vor der Tür stand und wir den Kleinen an diesem Tag nicht sehen würden.
Mit gemischten Gefühlen sah ich Jans Wagen hinterher, als er vom Hof fuhr. Eine erste Krise, aber das ahnten wir ja damals nicht. Jan selbst war so voller Hoffnung und Motivation.
Depressionen sind hinterhältig. Und wenn man ihnen Nahrung gibt, unberechenbar. Diana hielt das Futter in der Hand. Aber wie hätten wir all das kommen sehen sollen?