Draußen schneite es sich ein. Obwohl kaum 16 Uhr war es schon fast stockdunkel. Dicke Wolken hingen am Himmel und nahmen den letzten Rest Helligkeit. Überall im und am Haus brannte die Weihnachtsbeleuchtung. Auch die kleine Tanne im Hof war mit einer Lichterkette geschmückt. Martin schippte gerade den Schnee aus der Einfahrt und winkte mir mit roten Wangen zu. Ich selbst stand in der Küche und schnitt Gemüse klein. Für das Abendessen hatte ich schon einiges vorbereitet, nur Kleinigkeiten waren noch zu machen. Paul betrat durch die Hintertür den Raum und schüttelte sich den Schnee von den Schuhen.
"Na, weiße Weihnachten hatten wir ja ewig nicht", brummte er. Seine Jacke ließ er in dem kleinen Vorraum hängen, schlüpfte in seine Pantoffeln und kam dann an den Herd. "Meinst du nicht, du übertreibst mit dem ganzen Essen?", fragte er. "Weihnachten ist doch erst morgen", schob er noch nach und griff nach einem Karottenstückchen.
"Ach was. Die drei haben eine lange Fahrt hinter sich und sind dann sicher hungrig." Neugierig lupfte Paul einen Deckel. "Die ist für Jan, falls er noch nicht alles wieder essen kann", meinte ich, als mein Mann betrübt die Suppe betrachtete. "Die Rouladen kommen gleich in den Bräter. Wann sie wohl hier sind?" Aus den Augenwinkeln sah ich Paul schmunzeln, während ich durch die Küche wuselte.
Wie auch ich war Paul einfach nur erleichtert, dass Jan jetzt nach Hause kam. Wir waren beide der Auffassung, dass er einfach länger hier bleiben sollte um sich zu erholen. Der Anruf von Alex am Montag hatte uns sehr erschreckt. Im Nachhinein waren wir Alex beinahe sogar dankbar, dass er sich nicht schon am Sonntag gemeldet hatte. Das hätte ich vermutlich nicht ertragen. Die Ungewissheit. Das Warten vor dem Telefon.
"Was macht der Baum?", fragte ich und verscheuchte Paul vom Herd.
"Steht, können wir später schmücken. Martin kümmert sich um die Lichterkette, sobald er draußen fertig ist." Ich hielt inne. Stützte mich an der Arbeitsplatte ab. Langsam drehte ich meinen Kopf in seine Richtung. Ich atmete tief durch.
Die Eingangstür ging und Martin stapfte ins Haus. Ich hörte ihn leise fluchen ob der Schneemengen. "Die Einfahrt ist jetzt frei. Fragt sich nur wie lange", meldete er. Paul bedachte mich mit einem Blick, den ich gut kannte. Er rief unserem Ältesten zu, dass er gleich kommen würde.
In den letzten Tagen hatte er mich oft so angesehen. Mit einer Mischung aus Verständnis und Liebe. Er kannte meine Sorgen. Wir hatten eine Nacht nur gesprochen. Paul hatte meine Panik ernst genommen und mir versucht, die Ängste zu nehmen. Aber ich bin Jans Mutter. Ich konnte nicht anders.
Doch jetzt kam er nach Hause. Mit David. Und mit Isabelle, mit der wir mehrfach telefoniert hatten. Ich ahnte, dass ich mich erst beruhigen würde, wenn ich meinen Sohn endlich in die Arme schließen konnte. Nie waren mir fünf Tage länger und quälender erschienen. Nicht mehr, seit seinen ersten Tagen auf dieser Welt. Paul wusste darum und hatte versucht, mir jegliche Unterstützung zu schenken.
"Wir sind im Zeitplan, Schatz", meinte er einen Moment später. Wir waren uns einig, dass wir David ein besonders schönes Fest bieten wollten. Nach den aufregenden Wochen sollte unser kleiner Sonnenschein einfach eine gute Zeit hier bei uns haben. Paul blieb an der Küchentür stehen.
"Ob wir sie mögen werden?", fragte ich zögerlich. Paul lachte leise auf.
"Am Telefon warst du doch ganz begeistert von ihr. Nun lass es doch mal auf uns zukommen", riet er mir.
"Entspanne dich ein bisschen. Sie werden bald hier sein und dann haben wir viel Zeit über die letzten Tage zu sprechen", sagte er leise. Paul verschwand aus der Küche und ließ mich in Ruhe werkeln. Irgendwann hörte ich die Haustür und kurz darauf Martin, der mit seinem Vater diskutierte. Jedes Jahr das Gleiche dachte ich. Die beiden waren sich nie einig, wo genau der Baum stehen sollte. Wie üblich kam ich irgendwann dazu und spielte den Schiedsrichter.
"Und Nele kommt ganz sicher?", fragte ich meinen Sohn, als wir gemeinsam den Baum betrachteten. Der nickte.
"Na klar, Mama. Wie ausgemacht." Langsam streichelte ich ihm kurz über den Arm und beobachtete dabei Paul, der mit der Krippe beschäftigt war. Die Krippe, die Jakob im Sommer vor seinem Tod begonnen und Jan später beendet hatte. Paul hatte im Herbst alle Figuren überarbeitet und stellte diese nun sorgsam auf. Dabei wuselte Fred aufgeregt herum und ich lenkte den Welpen mit einem Leckerchen ab. Unruhig sah ich dann zur Uhr.
Isabelle hatte kurz angerufen, ehe sie losgefahren waren. Sie hatte uns schon darauf vorbereitet, dass sie für die Strecke länger brauchen würden. Feiertagsverkehr. Pausen für Jan. Die zweite lange Fahrt nach der Operation. Sie waren erst vor zwei Tagen aus Wien gekommen. Ich wollte mir lieber nicht ausmalen, wie anstrengend dies für Jan war. Gestern hatte ich für ihn zwei Termine bei Dr. Niehues ausgemacht, der sich um die Nachsorge kümmern würde. Nur unter dieser Auflage hatte Jan das Spital verlassen dürfen.
Ich ließ die Männer alleine und ging in den ersten Stock. Nochmal prüfte ich, ob die beiden Gästezimmer auch fertig waren. Für David hatten ich Martins altes Zimmer hergerichtet, so dass Jan und Isabelle etwas Zeit für sich haben konnten. Frische Handtücher lagen bereit, Wasser hatte ich aufgefüllt und für den Kleinen einen bunten Korb mit Süßigkeiten im Schrank. Auf seinem Bett wartete schon der alte Teddy seines Vaters, den er hier gerne zum Kuscheln wollte. Auf Jans Bitte hin hatte Martin die alte Autorennbahn vom Dachboden geholt und zusammen mit Paul schon aufgebaut. Natürlich würde sie der Junge erst am Heiligabend zu Gesicht bekommen.
Auf dem Fensterbrett von Jans Zimmer hatte ich einen Christstern gestellt. Mit Kleinigkeiten hatte ich es versucht, den beiden gemütlich zu machen. Ich hoffte sehr, dass sich Isabelle wohlfühlen würde. Nun war ich wirklich aufgeregt, sie persönlich kennen zu lernen. Albern? Vielleicht. Mir war irgendwie seit unserem ersten Gespräch klar, trotz der Umstände, dass sie in Jans Leben ab sofort eine wichtige Rolle spielte. Und in Davids Leben. Ich verharrte eine Weile am Fenster. Es schneite noch immer und David würde ganz bestimmt morgen seinen Spaß haben. Paul hatte sich etwas besorgt geäußert, da wir noch keinen Eindruck hatten, wie fit Jan nun wirklich schon war.
Lange hatten wir auch darüber nachgedacht, was wir ihnen schenken wollten. Schließlich war uns eine Idee gekommen, die beinahe schon lächerlich einfach war: Zeit.
Ein paar Tage Texel, vielleicht nach Neujahr oder im Frühjahr, während wir auf David aufpassten. Immerhin hatten sie bisher wenig Zeit für die Zweisamkeit gehabt. Und wir konnten uns nur zu gut vorstellen, dass sie das brauchen konnten. Nochmal strich ich die Bettdecken glatt, schüttelte die Tagesdecke auf und ließ den Rollo schon halb herunter. Die kleine Lampe auf dem Sideboard spendete ein sehr warmes Licht.
Als ich wieder nach unten kam, bot sich mir ein friedliches Bild. Der Baum stand endlich an seinem Platz und Vater und Sohn saßen einträchtig bei einem Grappa am Kamin. Fred lag zu Füßen seines Herrchen und hob neugierig den Kopf. Dann sprang er auf und lief zur Tür. Tatsächlich hörte ich kurz darauf ein Auto. Ich sah zu Paul, der schon aufgesprungen war, dann folgten wir dem Hund gemeinsam.
Als wir auf den Hof traten, stieg eine junge Frau aus Jans Wagen. Zuerst sah ich nur ihre brünetten Locken. Sie ging langsam um das Auto herum, Jan war auf der uns abgewandten Seite ausgestiegen. Im nächsten Moment hörte ich David, der auf mich zu lief. Ich fing den Wirbelwind auf und nahm ihn hoch. Sofort bedeckte er mein Gesicht mit feuchten Küssen. Über seine Schulter sah ich, wie Jan mit seiner Freundin an das Hand auf uns zu kam. Ich schluckte kurz und zwang mich, mir nicht ansehen zu lassen, was ich empfand.
Er war noch schmaler als vor ein paar Wochen. Man konnte sehen, dass ihm jeder Schritt schwer fiel. Er versuchte dennoch zu lächeln. Langsam setzte ich David ab, der sofort weiter zu Paul lief, der sich etwas im Hintergrund gehalten hatte. Jan ließ die Hand Isabelles los und stand nun direkt vor mir. Ich nahm ihn fest in den Arm, glaubte nur Haut und Knochen zu fühlen. "Ach, Jan", seufzte ich leise. Er drückte sich an mich.
"Bub, wir haben uns solche Sorgen gemacht. Was machst du denn nur?" Wir lösten uns und ich sah in Jans erschöpfte Augen. "Wie geht es dir jetzt?", wollte ich wissen.
Isabelle war zurück zum Auto gegangen und öffnete gerade den Kofferraum. Martin nickte uns knapp zu und bot ihr dann seine Hilfe an.
"Es wird besser, Mama. Im Moment tut es höllisch weh, durch das lange Sitzen", antwortete Jan vorsichtig.
"Dann geh schon rein, Papa zeigt David bestimmt erst die Überraschung." Paul war mit dem Jungen schon Richtung Schuppen unterwegs. Nickend drückte Jan meine Hand. Ich folgte ihm zum Haus. Auch Martin und Isabelle kamen mit dem Gepäck dazu.
"Herzlich Willkommen bei uns", begrüßte ich endlich die junge Frau. Sie strahlte mich an und ihre braunen Augen hatten etwas furchtbar sympathisches im Blick. "Ich bin Anke und wir fänden es schön, wenn wir direkt Du zueinander sagen." Martin ging grinsend an uns vorbei, um die Koffer nach oben zu bringen. Hinter Jans Rücken zwinkerte er mir zu.
"Das ist furchtbar lieb, danke. Ich bin Isa oder Isi, ganz wie ihr mögt. Es ist super schön, dass wir jetzt hier sind. Ich bin sehr neugierig auf alles und euch." Sie sah zu Jan, der sich umständlich aus seiner Jacke geschält hatte. Die Liebe, die ich in ihren Worten am Telefon gehört hatte, bekam ich hier zu sehen. Und was ich noch sah, machte mich froh und gab mir Hoffnung. Jan ließ es zu. Ließ sie zu. Ihre wortlose Frage beantwortete auch er mit einem Blick.
"Anke, können wir uns erst ein bisschen frisch machen? Jan sollte sich ein bisschen hinlegen nach der Fahrt." Ich nahm meinem Sohn die Jacke ab.
"Natürlich, die Zimmer sind gerichtet."
Mit einem Schwung ging die Haustür auf und David fegte herein. Hinter ihm, mit einem breiten Grinsen Paul. "Isi, Papi, da ist ein Hündchen!", rief er. Er hielt sich an Jans Bein fest. Der schüttelte den Kopf. Sofort reagierte Isabelle, die den Jungen anstupste und ihn dann hochnahm. "Ein ganz kleiner Hund. Und so süß!", erzählte David weiter. Paul reichte Isabelle die Hand. Ich konnte sehen, wie er sie kurz musterte und ihr dann in die Augen sah. Er schloss sie sofort in sein Herz. Wie ein Orkan, sagte er einige Monate später.
Paul nahm David mit zum Füttern von Fred, Jan und Isabelle zogen sich zurück und Martin half mir beim Tischdecken. Wir würden uns nach unserem Jüngsten richten, der unverkennbar Schmerzen hatte und etwas Zeit brauchte.
"Hübsch. Offen. Natürlich. Freundlich. So ganz anders als ihre Vorgängerin", kommentierte Martin. Ich reichte ihm die Teller und regelte die Platten herunter.
"Sprich bitte nicht so über Diana, wenn der Kleine dabei ist", ermahnte ich ihn. Martin schüttelte den Kopf und faltete dabei die Servietten.
"Keine Sorge. Der scheint ganz gut drauf zu sein", stellte er fest.
"Gott sei Dank", gab ich zurück.
Leise klopfte es an den Türrahmen. Isabelle sah uns unsicher an.
"Komm nur rein, David hilft Paul beim Füttern des Hundes, die brauchen bestimmt noch", bat ich freundlich und sofort entspannte sie sich.
Martin zeigte auf einen freien Platz und bot ihr etwas zu trinken an. Ich trocknete meine Hände an der Schürze und setzte mich dann zu ihr. Martin war im Keller verschwunden, um noch Wasser und Bier zu holen.
"Wo steckt Jan?", erkundigte ich mich.
"Der ist eingeschlafen, da dachte ich, ich gönne ihm die Ruhe. Die Fahrt war lang und anstrengend. Und zwei so Touren in 48 Stunden sind vermutlich frisch operiert nicht ideal."
Sie legte eine Hand auf meinen Unterarm. So, als würde sie meine Sorgen spüren und sie mir nehmen wollen.
"Ich weiß, es war für euch bestimmt ein großer Schock. Und er hatte Glück im Unglück. Aber bisher verläuft der Heilungsprozess nach Plan. Die Schmerzen jetzt, die kommen nur von der Fahrt. Die Medikamente machen ihn sehr müde, aber ich bin guter Dinge, dass er morgen schon viel besser drauf ist." Auch sie seufzte. "Es ist noch keine Woche her, dass er operiert wurde. Dass er überhaupt schon entlassen wurde, war ein Zugeständnis.", erklärte sie weiter.
Unbemerkt waren Martin und Paul dazu gekommen und standen an der Tür. "Können wir was tun?", fragte Martin und nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Kurz dachte Isabelle nach, während Martin ein weiteres Bier an seinen Vater reichte. Fragend sah er sie an. "Ja, gerne", meinte sie und nahm die Flasche entgegen.
"Er muss sich schonen, hilfreich ist es natürlich, wenn David beschäftigt ist. Wo steckt der eigentlich?", fiel ihr auf. Paul lachte dröhnend.
"Der beobachtet den Welpen beim Schlafen." Entschlossen stand Martin auf. "Dann hole ich ihn mal." Dankbar nickte Isabelle ihm zu.
Ich machte mich an den Schüsseln zu schaffen, dann brachte ich das Fleisch und die Kartoffeln an den Tisch.
"Für Jan habe ich eine Suppe gemacht, Fleischklößchen, die mochte er immer ganz besonders." David stürmte in diesem Moment auf Isabelle zu und kletterte auf ihren Schoß. Aufgeregt und mit einem Leuchten in den Augen erzählte er von dem kleinen Hund. Während ich Salat und Gemüse brachte, sah sie mich lächelnd und dankbar an.
"Danke. Ich werde ihm nachher was bringen.", antwortete sie und küsste den Jungen sanft auf die Stirn. Mein Herz machte einen freudigen Satz, als sich David ganz vertraut herzen ließ. Auch er wurde geliebt. Und beinahe trieb mir diese Erkenntnis wieder Tränen in die Augen. Vor Erleichterung.