Was mir von diesem Weihnachtsfest in Erinnerung geblieben ist? Sehr viel. Ähnlich eingeprägt haben sich nur wenige Familienfeiern oder gerade Weihnachtstage. Das erste Fest mit Martin natürlich. Oder seine ersten Schritte ein Jahr später. Ebenso jenes, als Jan noch ein Baby gewesen war. Das Erste ohne Elli. Oder ohne Jakob. Das Erste ohne Kinder. Das Einzige bis dato Gott sei Dank. Dies hier war der erste Heiligabend mit einem Enkelkind unterm Baum Wir hatten fast vergessen wie es war, einen aufgeregten 4-jährigen im Haus zu haben.
Der an diesem Tag beschäftigt werden wollte, weil die Zeit in seinen Augen nicht verging. Der immer wieder versuchte, einen Blick auf den Baum zu erhaschen. Der das Christkind herbeisehnte und dank seines Onkels in eine alte Familientradition eingeweiht wurde. Zusammen hatten sie Milch und Kekse auf einem Tischlein vor dem Wohnzimmer drapiert. Wie sein Vater vor etwa 25 Jahren beobachtete David den Tisch von der Treppe aus. Im Gegensatz zu seinem Vater damals schlief er aber nicht darüber ein, sondern ließ sich von Martin im Schnee bespaßen. Es wurden kleine und große Schneemänner gebaut, mit Isa eine Schneeballschlacht ausgetragen und Schlitten gefahren.
Dazwischen sprang der Welpe herum, den David natürlich in sein Herz geschlossen hatte. Auch Paul mischte an diesem sonnigen Tag draußen mit. Und Nele kam dazu, als die Schneemänner Nasen, Augen und Münder erhielten. Isabelle half unserem Enkel, einen alten Hut von Paul auf den größten der Schneegebilde zu setzen. Zufrieden schmiegte sich der Junge an sie.
Es war eine Freude, den Jungen so ausgelassen und fröhlich spielen zu sehen. Ganz ungezwungen und seine Anhänglichkeit schien wie weggeblasen. Mit rosigen Wangen und zerzausten Haaren saß er am frühen Nachmittag mit uns in der Bibliothek und trank seine heiße Schokolade. Martin und Nele waren in der Einliegerwohnung verschwunden um sich für den anstehenden Kirchgang fertig zu machen. Ich hatte meine Vorbereitungen für das Abendessen abgeschlossen.
Der Kartoffelsalat stand im Kühlschrank, der Rollbraten wartete darauf, in den Ofen zu dürfen, die Würstchen machten sich sowieso wie von selbst und Brot hatte ich am Vortag selbst gebacken. Einen grünen Salat würde Nele später bringen. Wir hielten es an Heiligabend schon immer unspektakulär. Paul hatte von dem guten Rotwein aufgezogen und bereits dekantiert. Der Sekt zum Anstoßen lag kühl und die alkoholfreien Getränke sowieso. Die Geschenke hatten wir am frühen Morgen schon unter den Baum gelegt und Martin hatte nochmal die Rennbahn überprüft. Oder besser gesagt, ausprobiert. Er hatte nicht widerstehen können, wie er mit einem Schmunzeln zugegeben hatte.
Ich beobachtete Jan, David und Isabelle. Sie wirkten wie eine kleine Familie auf mich. David vertraute der neuen Freundin seines Vaters, gab ihr hier und da ein Küsschen und schien sie vollkommen als Frau in Jans Leben akzeptiert zu haben. Ganz selbstverständlich ging er mit ihr um, kuschelte innig mit ihr. Natürlich kannte er sie schon lange und mochte sie sehr. In der Kita war sie seine liebste Erzieherin gewesen. Mittlerweile hatte Isabelle dort aber die kommissarische Leitung der Einrichtung übernommen. Ihr Umgang mit dem Kleinen war natürlich und liebevoll. Gleichzeitig verhätschelte sie ihn aber auch nicht. Er wusste auch bei ihr genau, wann er gehorchen sollte. Zusammen saßen sie in einem der tiefen Sessel. Wir hatten das Kinder-Weihnachtsprogramm im Fernsehen laufen und David quietschte hier und da vergnügt. Mit der einen Hand strich sie dem Jungen durch die Haare, mit der anderen hielt sie Jans Hand, der auf dem Sofa daneben lag.
Lange geschlafen hatte er. Weit über zwölf Stunden. Es ging ihm deutlich besser, auch wenn ihm beim Wechseln des Verbandes schwindlig geworden war. Erst am späten Vormittag war er nach unten gekommen, hatte dann aber ordentlich von der Suppe gegessen. Nur zu zweit hatten wir eine Stunde zusammen in der Küche verbracht. Jan hatte entspannter und aufgeräumter gewirkt als am Abend und vor allem nicht mehr so abgeschlagen. Der Körper hatte sich geholt, was er gebraucht hatte. Noch immer war liegen für ihn am angenehmsten, trotzdem wollte er später mit zur Kirche und auf den Friedhof.
Wir hatten über Isa gesprochen. Dass wir sie mochten und ihm ehrlich wünschten, dass sie eine Zukunft hatten. Er hatte ein bisschen verlegen gelächelt und sich darüber gefreut. Er mochte sie. Sehr.
Das stand ihm ins Gesicht geschrieben und ich sah es später in seinen Augen, wenn er sie ansah. Alle anderen Themen hatte ich gedanklich verschoben. Jan hatte angedeutet, dass dieser Tag David gehören sollte und er selbst noch ein bisschen Zeit brauchte. An Jan war der Zusammenbruch und die Operation nicht spurlos vorbei gegangen. Er hatte daran zu knabbern, nicht nur körperlich.
Damit er es bequem hatte und sich, wie von den Ärzten empfohlen, schonte, hatten wir in der Bibliothek den Kamin schon am Vormittag angeheizt. Dort hatte es sich Jan gemütlich gemacht, während alle anderen draußen im Schnee herumgetobt waren. Er hatte gelesen, ferngesehen und bis eben nochmal geschlafen. Schmerzen, so hatte er mir versichert, hatte er dank der starken Tabletten aber derzeit keine.
Immer wieder hatte ich nach ihm gesehen. Ich wollte auch verhindern, dass er zu viel alleine war.
Als er vorhin so unter der Decke gelegen und geschlafen hatte, da hatte er mich wirklich sehr an den Jungen erinnert, der er gewesen war. Meine Gefühle für ihn waren in diesem Moment so stark gewesen. Ich liebte ihn so sehr und ich hatte ihn so gerne beschützen wollen, vor allem Übel dieser Welt. Aber das hatte ich nicht geschafft. Ich hatte nicht verhindert bekommen, dass er nicht nur einmal verletzt worden war.
Jetzt hatte er die Augen aufgeschlagen und betrachtete still seinen Sohn. Der strahlte und rutsche von Isabelles Schoss, weil Paul in der Tür erschien.
"Ich mag nicht drängeln, aber mit David und Jan werden wir etwas länger brauchen als üblich zu Fuß", meinte der. Nickend setzte sich Isabelle auf und sah zu Jan. "Bist du dir sicher?", fragte sie ihn. Jan lächelte und kam langsam in den Sitz. Er wirkte noch etwas verschlafen.
"Ja, ich komme mit", erklärte er dann. Isabelle war schon aufgestanden, gab ihm im vorbeigehen einen Kuss, dann rief sie nach David, der Paul in den Flur gefolgt war.
"Das Christkind war immer noch nicht da!", maulte der Junge. "Das wird warten, bis wir alle weg sind. Dann komm mit, damit auch wir uns umziehen können", hörte ich Isabelle antworten. Jan zwinkerte mir zu. Mit leichtem Protest verschwand David an Isabelles Hand auf der Treppe.
"Waren wir auch so?", fragte Jan mich. Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und warf einen Blick auf die Uhr hinter mir.
"Martin war noch schlimmer als dein Kleiner. Mit allen Wassern gewaschen. Und furchtbar ungeduldig." Ich schmunzelte und sah ihn an. Hoffte so sehr, dass er meine Liebe spürte und sie ihm bewusst war. Dass er würde kommen können. Immer und jederzeit. Er atmete durch und senkte kurz den Kopf.
"Mama", murmelte er heiser. "Mir fehlt ehrlich gesagt im Moment ein bisschen die Kraft. Ich bin froh, dass ich jetzt bei euch bin. Es tut gut, hier zu sein. David ist hier glücklich und ich bin dankbar, dass Isabelle dabei ist." Seine Stimme zitterte ein bisschen. Ich war aufgestanden und setzte mich neben ihn. Er griff meine Hand und drückte sie fest.
"Wir sind da, Jan. Und wir päppeln dich schon wieder auf", gab ich zurück. Ein Räuspern ließ uns zusammenfahren. Paul lehnte am Türrahmen. Schon eine Weile, wie er mir später sagte. Jan fuhr zusammen und ließ meine Hand los. Murmelnd stand er langsam auf und ging zum Umziehen nach oben.
Neugierig hatte sich David in der Kirche umgesehen. Er saß zwischen Paul und mir. Flüsternd erklärte ihm sein Großvater etwas. Der Kleine nickte andächtig. Neben Paul saß Isabelle. Daneben Jan direkt am Gang. Wir hatten beim Hereinkommen viele bekannte Gesichter begrüßt und so langsam wurde es ruhiger. Ich ließ meinen Blick nochmal schleifen. Martin saß zu meiner Linken mit Nele. Sanders auf der anderen Seite des Ganges. Wie jedes Jahr würden wir nach dem Kirchgang mit ihnen einen Likör trinken. Schade nur, dass Alex und Heike mit ihren Kindern dieses Jahr nicht hier waren. Ich nickte Dr. Niehues zu, der mit seiner Frau noch im Gang stand. Überall bekannte Gesichter. Mitarbeiter von Martin, Freunde und Bekannte, wir waren hier so verwurzelt, wie wir es nur sein konnten. Ich wollte mich gerade meinem Ältesten zuwenden, als ich eine Bewegung am Eingang wahr nahm.
Lange hatte ich sie nicht gesehen. Immerhin schien sie nüchtern zu sein. Alt war sie geworden, fiel mir auf. Mit bedächtigen Schritten kam sie den Gang herunter. Hielt aber ein gutes Stück hinter uns an, sprach mit jemanden, der sie dann in die Reihe ließ. Ich wandte meinen Blick ab, drehte den Kopf und sah in Jans erschrockenes Gesicht. Isa plauderte mit Paul und David, aber er fixierte noch immer die ältere Frau, die sich jetzt gesetzt hatte. Mich schien er überhaupt nicht zu bemerken. Er schluckte, biss sich auf die Lippe und sah dann zu Isabelle. Dann beugte er sich über sie hinweg und fragte seinen Vater etwas. Dessen Antwort vernahm ich gut, obwohl er ebenso leise sprach wie Jan. Es war ein knappes "ja".
Jan sah wieder hinter sich. Mittlerweile schien auch Isabelle etwas mitbekommen zu haben. Sie sprach unseren Sohn an, der sich sofort auf sie konzentrierte.
Ich konnte nicht anders. Nochmal suchte ich nach ihr, dabei fragte ich mich, warum sie ausgerechnet heute zum ersten Mal seit Jahren einen Gottesdienst besuchte. Hatte sie gewusst, dass Jan hier sein würde? Wenn ja, woher? Nachdenklich musterte ich sie. Und betete, dass sie uns hier und heute keine Szene machen würde.
Pfarrer Bautz führte uns durch einen kurzweiligen und sehr schönen Gottesdienst. Am Ende lauschten wir dem Ave Maria des Chors. Verstohlen warf ich einen Blick zu Jan, der tonlos seine Lippen bewegte. Zu gerne hätte ich seinen Bariton dazu vernommen. Ich erinnerte mich an das Weihnachten vor 15 Jahren, als er mit Anna so lange für das Solo geübt hatte. Mein Blick glitt zu Isabelle, die mit geschlossenen Augen neben ihm saß, David hatte sich eng an sie gelehnt. Ich schüttelte die Erinnerung beiseite, traute mich kaum nach hinten zu sehen.
Der größte Teil der Gemeindemitglieder schlug anschließend unter dem Kirchengeläut den Weg zum Friedhof ein. Der Weg war mit Fackeln gesäumt und ich griff nach Pauls Hand. Wir liebten diese Tradition. Unsere Söhne folgten uns mit ihren Freundinnen und unserem Enkel. Jahrelang hatte ich mir dies ausgemalt. Immer wieder sah ich mich um, entdeckte Sanders und Familie Niehues, aber sie hatte ich aus den Augen verloren. Wir gingen langsam über den Hauptweg. Jan flüsterte mit David, ermahnte den Kleinen, dass er noch eine halbe Stunde besonders brav sein musste. Der wandte sich an seinen Onkel und wollte wissen, ob das Christkind denn nun gerade bei uns war. Martin lachte leise und stellte in Aussicht, das dies gut möglich wäre. Isabelle und Jan unterhielten sich leise, ich konnte heraushören, dass sie sich nach seinem Befinden erkundigte.
Wir kamen an einer ersten Abzweigung vorbei. Ich zwang mich, nicht nach rechts zu sehen. An Pauls Hand ging ich weiter und folgte ihm zum Familiengrab, zwei Querreihen weiter. Martin zückte hinter mir ein Feuerzeug und kümmerte sich um die zwei großen Grabkerzen. Ich hörte, wie Jan scharf die Luft einzog und dann hinter mir vorbeiging. Er zog David vor sich, der sich mit großen Augen um sah.
So gut wie an jedem Grab standen Menschen. Überall flackerten die Kerzen und es wurde kaum gesprochen. Nochmal erklärte Jan seinem Sohn etwas, der drückte sich fest an ihn. Ich vermutete, David hoffte, Jan würde ihn hochnehmen. Aber daran war noch nicht zu denken. Schließlich erklangen die ersten Töne von Stille Nacht. Die kleine Blaskapelle stand auf dem zentralen Platz des Friedhofs und würde etwa eine halbe Stunde spielen.
Dieser Brauch bedeutet uns unheimlich viel. Für diese Zeit waren Elli und Jakob, aber auch Margarete und Leopold uns unheimlich nah und ein Teil des Festes. Nach einer Viertelstunde begann David zunehmend unruhig zu werden. Isabelle nahm ihn schließlich auf den Arm und er beruhigte sich wieder. Verstohlen wischte ich mir eine Träne aus den Augenwinkeln. Martin hatte beide Arme um die vor ihm stehende Nele geschlungen und hatte seinen Kopf auf ihrer Schulter ruhen. Die Beiden wirkten innig und glücklich wie selten.
Als das letzte Lied zu Ende gespielt worden war, setzten sich nach und nach die Menschen wieder in Bewegung. Nur langsam ging es Richtung Hauptportal. Ich hatte mich bei Paul untergehakt und wir trafen auf das Ehepaar Sander. Unsere Söhne samt Anhang hatten wir kurz aus den Augen verloren. Nele und Martin tauchten auf der Menge auf und dann hörten wir auch David, der fröhlich und auch ungeduldig an der Hand seines Vaters zog. Jan sah sich suchend um. Nur vereinzelte Personen hielten sich noch zwischen den Gräbern auf. Ich ahnte, nach wem er Ausschau hielt und mir zog es das Herz schmerzvoll zusammen.
Paul ging mit Ulli langsam los. Martin, Nele und Claudia folgten ihnen plaudernd. Isabelle hatte sich zu mir gesellt und David zog seinen Vater erneut am Ärmel. Jan rührte sich nicht. Aber er sah mich mit einem flehentlichen Blick an. Vorsichtig nickte ich.
"David, komm zur Oma!", rief ich den Kleinen zu mir. Jan flüsterte mir ein lautloses Dankes zu, sah entschuldigen zu seiner Freundin und ging dann mit großen Schritten zurück zum Friedhof. Irritiert sah mich Isabelle an. Ich berührte sie sanft am Arm.
"Gib ihm die paar Minuten, er kommt gleich nach.", meinte ich fürsorglich. In ihrem Blick lagen viele Fragen. Unsicher sah sie zu David und ich war dankbar, dass sie hier nicht weiter fragte. Was auch hätte ich ihr sagen sollen oder können? Dass Jan zwar mit ihr hier war, aber jetzt an das Grab seiner toten Exfreundin ging? Weil er deren Mutter gesehen hatte, mit der ihn eine mehr als schwierige Beziehung verband? Ich hoffte nur, dass dieses Aufeinandertreffen zu keinem Fiasko führen würde.