Mein Hochzeitskleid.
Meine Finger glitten über den Stoff.
Wie sehr ich es geliebt hatte, eine Braut zu sein.
Ich träumte mich ein wenig davon.
Ich sah Margarete vor mir.
Wie sie es damals für mich nähte.
Leopold, wie er mich stolz zum Altar führe.
Und schließlich Paul, der vor Rührung Tränen verdrückte, als ich ihm meine Hand reichte.
Ich dachte an Elli und Jakob, die mich als weiteres Kind in ihre Arme geschlossen hatten.
Immer haben Fotos unseres Hochzeitstages das Haus geschmückt.
Am Kamin.
An der Wand im Treppenhaus zum ersten Stock.
Auf der Wäschekommode in unserem Schlafzimmer.
Auf Pauls Schreibtisch, als das Büro noch im Haus gewesen war. Später in dem Neubau.
Im Kotten, an der Wand der Stube.
In der Bibliothek hing ein besonders schönes Portrait, das Elli auf Leinwand gebannt hatte.
An jenem Tag haben wir uns ein Versprechen gegeben, Paul und ich. Für immer. Durch gute und schlechte Tage. Krankheit und Gesundheit. Wir gegen den Rest der Welt, so hatte Paul nach dem Vorgespräch mit dem Pfarrer gescherzt.
Jetzt, 40 Jahre später, lag ein wunderbarer Weg hinter uns.
Wir hatten an vielen Weggabelungen gestanden. Manches Mal hatten wir die falsche Abzweigung gewählt. Immer aber waren wir Hand in Hand gegangen. Und wir hofften, dass wir noch viele Jahre zusammen weitergehen durften.
Unseren Söhnen hatten wir die gleiche Erfahrung gewünscht. Ich glaube auch heute noch, dass beide auch darauf hofften und sich danach sehnten. Aber vergleichen ist einfach undankbar.
Martin liebt Nele aufrichtig.
Doch beide haben einen starken Willen und einen klaren Plan vom Leben.
Nicht immer waren sie in der Lage, vernünftige Kompromisse zu schließen. Ich weiß, dass mein Ältester die ein oder andere Sturheit bereut. Doch schon als kleiner Junge beharrte er fest auf seiner Meinung und seinen Idealen. Dies hat ihn natürlich auch zu dem gemacht, wer er heute ist. Dies hat ihm den beruflichen Erfolg beschert, den er sich schon mit 15 Jahren ausgemalt hatte.
Zielstrebig.
Dieses Wort beschreibt Martin wie kein anderes. Aber eben auch übermütig. Lebhaft. Gesellig. Wie schon sein Großvater ist er fest in der Dorfgemeinschaft integriert und wird geschätzt. Martin ist so verwurzelt, wie man es nur sein kann. Wie schon in Kindertagen ist sein Freundeskreis groß und bunt gemischt. Die Beziehung zu Nele fordert ihn. Hat ihn aber auch wachsen lassen. Die beiden sind glücklich und harmonieren sehr. Ihr Glück wird nur dadurch getrübt, dass Nele nach einer Eileiterschwangerschaft vor einigen Jahren keine Kinder bekommen kann.
Martin liebt Kinder. Doch für seine Liebe zu Nele hat er auf diesen Herzenswunsch verzichtet. Mir war immer klar, dass er daran zu knabbern hatte. Martin war es gewohnt, dass er für Probleme Lösungen fand. Ganz wie sein Vater. Hier musste er eine Laune der Natur akzeptieren. Die zudem in seinen Augen willkürlich zugeschlagen hatte. Noch überlegten er und Nele, ob sie ein Pflegekind aufnehmen sollten. Aber sie überlegten auch schon eine lange Zeit, ob sie heiraten sollten. Auch da stand Martin seine Sachlichkeit sehr im Weg. Er ist einfach kein romantischer Typ. Ob Nele in der Zeit auf einen Antrag wartete? Ich weiß es nicht. Als aber Jan und Isa ihre Hochzeitspläne verkündeten, lag viel Sehnsucht in ihrem Blick.
Jan hatte im Advent um Isabelles Hand angehalten. Sie waren etwas mehr als ein Jahr zusammen gewesen. Ein Jahr, welches sie für ihr Leben zusammengeschweißt hatte. Viele Tiefen, einige Höhen. Nach Jans Rückkehr aus der Klinik hatte es eine schwierige Wiedereingewöhnungszeit gegeben. Die neue Wohnung. Der schwierige Comebackversuch in München. Die schwere Suche nach einem neuen Vertrag. Der Prozess. Isabelles Fehlgeburt. Probleme mit David. Und Diana.
Jan hatte weiter kämpfen müssen. Paul und ich hatten mehrfach den Hut vor Isabelle gezogen. Es war haarscharf gewesen. Beinahe hätte sie die Verlobung gelöst. Wir hatten Jan oft hier gehabt. Im Kotten, den wir damals direkt nach seinem Gang in die Klinik aus- und umgebaut hatten, konnte er sich zurückziehen. Sein Fluchtort. Sein Hafen. Sein Versteck, wenn er nicht weiter wusste. Und wir alle waren uns einig: solange Jan in Krisen zu uns kam, in seine Heimat, in sein Zuhause, solange konnten wir ihm helfen.
Er hatte sich durchgebissen. Oft kostete es ihn immer noch Mühe, aber immerhin überwogen die positiven Tage. Er arbeitete wieder. Wohl dosiert hatte er auf die Bühne zurückgefunden und auch dies hatte ihm viel Sicherheit gegeben. Jan hatte gelernt, dass er mit seinem Schicksal leben musste. Dass die Summe der Ereignisse ihn geprägt hatte. Das Trauma der Vergewaltigung und der psychischen Verletzungen durch Diana hat er aufgearbeitet. Im Rahmen des Möglichen. Die Depressionen würden ein Teil von ihm bleiben. Dianas Grausamkeiten hatten diese befeuert und ans Tageslicht gezerrt. Die gute Nachricht war, dass diese behandelbar waren. Im Moment war er gut eingestellt. Die Unberechenbarkeit und den Schrecken hatte die Krankheit ein bisschen abgestreift.
Ich spürte Pauls Atem in meinem Nacken. Lautlos war er hinter mich getreten. Ich fühlte mich ertappt. Er küsste mich sanft, zog mich dann an sich. Schweigend betrachteten wir das Kleid.
"Du warst so wunderschön. Mir blieb einfach nur die Spucke weg, als ich dich darin sah", murmelte er. Ich lehnte mich an ihn.
"Ich war so stolz. So verliebt", gab ich leise zurück.
"Warst?", hakte er nach.
Kichernd genoss ich seine Nähe.
"Ich liebe dich noch immer sehr, Paul. So wie ich damals wusste, dass du der richtige Mann für mich bist, so weiß ich es auch heute. Mit niemand anderem hätte ich mein Leben teilen wollen. Mit niemand anderem hätte ich es hindurch geschafft."
Ich drehte mich in seiner Umarmung und sah ihm in die Augen. Wie ein Bergsee blau. Ich berührte seine Wange. Spielte ein wenig mit einem Barthaar.
"Und ich liebe dich wie am ersten Tag. Du bist nach wie vor mein Gegenstück. Mein Leben", antwortete er.
Wir stehen vor diesem Kleid, das 40 Jahre nach seiner Premiere ein Comeback feiern wird. Ob es diesem Paar ebenso viel glückliche Momente schenken wird wie uns?
"Es wird gutgehen, oder?", fragte ich vorsichtig.
Paul nahm meine Hand und führte mich zum Fenster. Wir standen im alten Zimmer von Martin. Nebenan schlief David. Paul zeigte auf den Kotten, dort konnten wir nur einen Kerzenschein ausmachen. Jan und Isabelle hatte sich an diesem Abend zurückgezogen, wollten ganz für sich sein.
"Diese beiden haben eine wohlüberlebte Entscheidung getroffen. Sie haben sich vielleicht nicht ganz so impulsiv für die Liebe entschieden wie wir. Aber diese Chance hatten sie auch nie. Dafür kennen sie die andere Seite der Liebe vermutlich besser, als wir es je können", meinte Paul mit fester Stimme. Er gab mir einen Kuss und nahm wieder meine Hand.
Schweigend standen wir eine Weile am Fenster, bis das Kerzenlicht gegenüber flackerte. Schmunzelnd zog mich Paul Richtung Tür.
Immer hatte ich mir eine Tochter gewünscht. Morgen würde sich unsere Familie also vergrößern. Isabelle war für mich mehr als einfach nur Jans Verlobte oder zukünftige Frau. Sie war mir teuer wie ein Kind und ich wusste, dass es Paul nicht anders ging. Der Kreis schloss sich damit, dass sie unserem Enkelkind die Mutter war, die es verdiente. Ja, Jan hatte eine kluge Wahl getroffen. Gott sei Dank hatte er gekämpft, als sie in der Sackgasse angekommen waren. Nochmal sah ich zurück zum Kleid, das auf dem Bügel darauf wartete, dass Isabelle hineinschlüpfen würde.
"Sie ist eine wunderschöne Frau. Aber niemand wird so hübsch daran aussehen wie du."
Pauls Worte machten mich verlegen und gleichzeitig unfassbar glücklich. Mit einem verschmitzten Grinsen führte er mich in unser Schlafzimmer und stieß die Tür hinter sich zu.
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ENDE