Die Selbsthilfegruppe normaler Menschen
Den Großeltern
"Warum beginnen wir nicht mit Ihnen?"
Die Blicke im Raum richten sich alle auf eine verklemmt dasitzende, junge und mittelhübsche Dame. Ihre Frisur und Kleidung schreien aufdringlich, während ihr Gesicht scheinbar einen Tag Schminkfasten feiert.
"Ja, ich komm ja sonst auch nicht als erstes...", murmelt sie in sich hinein.
"Bitte, sprechen Sie lauter!", kommt es aus der anderen Richtung.
"Mein Name ist Jacqueline, ich bin Prostituierte und ich bin sarkastisch."
"Wie macht Ihnen der Sarkasmus denn Probleme?"
Die Szenerie wechselt zu einer dunklen Häuserecke der Stadt. In den Lichtkreis der nächsten Straßenlaterne schiebt sich das Bild von dem Mädchen, das wir soeben kennen lernen durften. Jedoch ist ihre Kleidung nun noch aufdringlicher und ihr Blick suchend. Ihre gesamte Körperhaltung wirkt offener. Ein Auto bleibt neben ihr stehen.
"Hey, du, stehst du hier wegen... du weißt schon?"
Das Mädchen verdreht die Augen ein wenig.
"Nein, ich warte hier auf meinen Ehemann!"
"Oh schade.", meint der Mann, lässt das Fenster wieder nach oben und fährt davon.
Wir wechseln zurück in den vorherigen Raum. Jacqueline murmelt
"Es ist ein Problem..."
Die Anwesenden nicken verständnisvoll.
"Das ist sehr nachvollziehbar." Kommt es wieder von demselben Mann von der anderen Seite. Er leitet scheinbar die Gespräche. "Ich würde vorschlagen, wir machen einfach im Uhrzeigersinn weiter. Bitte!"
Ein müde dreinblickender Mann im ergrauten grauen Anzug sieht auf.
"Ich bin Charles, Banker, und ich kann nicht mit Zahlen umgehen."
"Das ist äußerst merkwürdig. Wieso sind sie dann Banker geworden?", kommt als Antwort.
"Meine Mutter war immer schlecht mit Zahlen und hat mir deswegen immer mir alles zugeschoben was in die Richtung zu erledigen war."
"Was war mit ihrem Vater?"
"Den hab ich nie kennen gelernt."
"Oh."
"Ich hab die Sachen dann aber immer dem Freddie gegeben und es ihr nie gesagt. Sie war immer so begeistert. Und hat drauf bestanden, dass ich Banker werde."
"Aber, wie können sie sich denn jetzt behaupten? Wie geht das überhaupt?"
"Naja, Freddie ist jetzt auch mein Mitarbeiter,... und..." Der müde Mann verstummt und blickt wieder zu Boden.
"Das war sehr beeindruckend, Charles, Dankeschön. Machen wir weiter?"
Ein Mann mit Halbglatze und Strickwollpullover daneben sieht auf.
"Ach, ja, ich bin der Roman, hallo. Hallo. Ich mag Kinder nicht, müssen Sie wissen."
"Steht das im Konflikt mit ihrem Beruf?"
"Ja, ich bin Lehrer, müssen sie wissen."
"Erzählen Sie uns, warum Sie Lehrer geworden sind."
"Ja, wissen Sie, ich war immer schlecht im Lernen, und nach der Schule hab ich mich gefragt wo man auf der Uni das wenigste Lernen müsste und ich hab gehört, das wäre beim Lehramt. Das hab ich dann auch gemacht. Obwohl ich die Schule doch hasse, wissen Sie?"
"Faszinierend. Wie geht es Ihnen in der Schule?"
Romans Blick wird etwas glasig. Durch den Nebel seiner Augen fahren wir in seine Erinnerung vom letzten Dienstag. Die Farben seiner Vorstellung sind in leichten Brauntönen gehalten. Er sitzt gerade auf dem Lehrersessel bei seinem Tisch und beäugt einen Schüler der nervös vor ihm steht.
"Warum hast du sie diesmal nicht gemacht?!"
"Ich, ich...", stottert der Jüngling vor seiner Nase.
Jedoch auch in dieser Version von Roman wird sein Blick glasig und wir fahren erneut in seine Visage um in einer grauen Welt aufzutauchen. Die Erinnerung einer Erinnerung. An eine sehr, sehr alte Zeit. Hier steht Roman in beinahe derselben Situation, nur in vertauschten Rollen. Nervös steht er seinem Lehrer gegenüber; diesmal ist ER eine Rechenschaft schuldig.
"Ich, ich,... ich wollte einfach am Nachmittag nicht an die Schule denken."
Ehrlich spricht er aus, was er denkt. Sein Gegenüber jedoch erbebt. Der Kopf läuft dunkelgrau an und der Lehrer beginnt zu brüllen.
Wir verlassen die graue Welt wieder und landen in der braunen Welt der direkten Erinnerung. Und Roman starrt gerade in das Gesicht seines Schülers, der ihm die selbe Ausrede auftischt. Während Romans Kopf dunkelbraun anläuft und er zu brüllen beginnt, erinnert er sich daran, wie er sich früher gewünscht hatte, dass sein Lehrer anders reagiert hätte. Nur Roman kann nicht so reagieren.
"Ich verstehe, Roman. Danke für dein Vertrauen.“
Wir bewegen uns weiter in der Runde. Einer nach dem anderen erzählt aus seinem Leben. Da ist der Masseur mit Berührungsängsten und der Fleischer, der kein Blut sehen kann, dann der Holzfäller mit Heuschnupfen, eine notorische Langschläfer-Bäckerin und die Vegetarierin, die Managerin bei McDonalds geworden ist.
Und endlich kommen wir auch bei dem Leiter des Gruppengesprächs an.
"Ja, meine Lieben, das war heute ein schöner Abend. Danke, danke für die Ehrlichkeit und noch ein schöner Abend allerseits."
Augenblicklich beginnen Stühle zu scharren und ein allgemeines Gemurmel zieht sich durch den Raum, während die Leute zusammenpacken und sich anziehen. In dem Getümmel nähert sich Roman, der Lehrer, dem Leiter des Gesprächs.
"Entschuldigen Sie bitte, aber Sie haben sich nicht vorgestellt, oder aus ihrem Leben erzählt."
Der Gruppenleiter dreht sich zu Roman. Ein Schimmer von Furcht läuft über sein Gesicht.
"Ich bin Andreas und ich habe Angst vor Menschen.", stößt der Gruppenleiter hervor und eilt beinahe fluchtartig davon.
"Aber wieso sind Sie denn dann geworden, was Sie sind?", ruft ihm Roman nach.
Schlagartig wird es im Raum mucksmäuschenstill und Roman bemerkt, dass er keine angemessene Frage gestellt hat.