Ich betrachtete die Bar einen Moment lang von außen. Sie war die Nummer vier auf meiner Liste. Die Fassade sah mittelmäßig gepflegt aus. Doch das Schild >Ellington‘s - Jazz Club and Bar< war in gutem Zustand, die Fenster geputzt. Der Teil der Bar, den man dahinter erkennen konnte, sah einladend aus. Ich gab mir einen Ruck und stieß die Tür auf. Sofort kam mir ein starker Geruch entgegen. Eine Mischung aus Holz und Bier. Er war stark, aber nicht unangenehm. Die Bar war schlicht gehalten. Nur hier und da gab es einen leicht extravaganten Touch. Die rote Couch, in goldfarbenes Holz gerahmt, fiel sofort ins Auge. Ich musste Lächeln. Hier hätte es ihr mit Sicherheit gefallen. Ich ließ den Blick weiter durch den Raum schweifen, während ich zur Bar ging. Es waren nur wenige Tische besetzt, aber das schien mir nicht verwunderlich, war es schließlich noch früh am Nachmittag. Für mein Vorhaben ideal. Je weniger Kunden, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass ich ohne große Probleme mein Ziel erreichen konnte. Hinter der Bar stand ein einzelner Barkeeper. Er schien sich zu langweilen, denn er tippte fleißig auf seinem Handy herum. Ich setzte mich genau vor ihn auf einen Barhocker. Der Barkeeper beendete in aller Ruhe seine Nachricht, bevor er endlich aufsah. „Was möchten Sie?” Freundlichkeit war offensichtlich nicht seine Stärke. Doch das würde mich nicht von meinem Vorhaben abbringen. Ich lächelte ihn an. „Einen Naomi Spezial, bitte.” Ich genoss einen Moment sein verwirrtes Gesicht. „Das haben wir nicht. Hier ist unsere Karte.” Er kam einen Schritt auf den Tresen zu und schob mir einen laminierten Zettel herüber. Ich würdigte ihn nicht mal eines kurzen Blickes. Der Barmann wollte sich wieder seinem Telefon widmen, doch ich hielt ihn davon ab. „Würden sie mir den Drink zubereiten, wenn ich Ihnen sage wie?” Er sah kurz auf sein Handy, dann zuckte er mit den Schultern. „Warum nicht. Hier ist eh nicht viel los. Also, was brauchen wir?” Er lächelte. Die Aussicht auf einen Moment außerhalb der Routine schien ihm zu gefallen. Diese Bar war zu Recht auf meiner Liste.
Ich kannte das Rezept in- und auswendig, jedes Detail. Bei jedem Schritt hatte ich ihr Gesicht vor Augen. „Als erstes brauchen wir einen halben Apfel.” Routiniert griff der Barmann in eine der vielen Schubladen hinter der Theke und holte einen Apfel hervor. Mit dem Messer in der Hand wartete er auf weitere Anweisungen. „Als erstes schneiden Sie zwei schöne Scheiben ab für die Dekoration, den Rest in kleine Stückchen.” Ich war nie sehr talentiert gewesen, was die Dekoration anging, doch der junge Mann vor mir wirkte durchaus kompetent. „Die Stücke kommen in ein Cocktailglas. Jetzt kommt der Fenchel.” Er hielt inne und sah mich an. „Fenchel? Sowas haben wir nicht.” Ich war auf alles vorbereitet. Ich trug noch immer meine Jacke. Ohne etwas zu sagen, griff ich in eine der Taschen und legte den Fenchel daraus vor mir auf die Theke. Der Barmann sah mich unsicher an. Er entschied sich keine Fragen zu stellen und nahm den Fenchel entgegen. „Wir brauchen ungefähr ein Stück von 3 cm Länge. Das schneiden Sie in etwas kleinere Stücke, als den Apfel und geben ihn ebenfalls ins Glas.” Er folgte den Anweisungen, doch ich konnte die Falten auf seiner Stirn sehen. Gut so. Er würde sich noch eine Weile an diese Begegnung erinnern. „Jetzt zerstößt du das Ganze mit dem Stößel.“ Mit wenigen kräftigen Stößen hatte er den Saft aus dem Apfel gepresst. Dem Fenchel konnte man die Auswirkungen weniger ansehen, doch ich wusste, dass er bereits seinen Geschmack beisteuerte. „Als nächstes eine Prise Zimt darüber, dann kommt das Eis und einen ordentlichen Schuss Gin.” Meine Finger tippten unruhig auf die Theke. Ich freute mich schon auf den einzigartigen Geschmack, der mich erwartete. Der Barkeeper versah mein Glas automatisch mit der Dekoration und einem Strohhalm und stellte es vor mich. „Voilà. Ihr Naomi Spezial. Wirklich eine sehr spezielle Mischung.” Ich griff nach dem Glas und stand auf. Mit einem Lächeln sah ich noch einmal zum Barmann. „Sie sollten ihn unbedingt mal probieren.” Ich prostete ihm zu und ging dann zu einem Tisch etwas abseits. Jetzt war es Zeit abzuwarten. Währenddessen konnte ich meinen Drink genießen. Das erste Mal, dass ich diesen Mix probiert hatte, war bereits sechs Jahren her. Ich erinnere mich noch immer, als wäre es gestern gewesen.
Es war zur Zeit des Karnevals gewesen. Die Straßen waren aufwendig geschmückt. Ich arbeitete in einer kleinen Bar als Pianist. Es waren nicht viele Kunden in der Bar, doch wir hofften es würde sich bald füllen, denn in diesem Jahr verlief die Parade direkt durch die kleine Straße, in der sich die Bar befand. Ich hatte gerade das Stück ‘The Entertainer’ angefangen, als die Tür aufging. Noch bevor auch nur eine der Personen sichtbar wurde, konnte man bereits ihr Gelächter hören. Meine Finger glitten völlig automatisch über die Tastatur, sodass ich die Szene genauestens beobachten konnte. Es waren drei junge Frauen in aufwendigen Karnevalskostümen. Alle drei trugen farbenfrohe, knielange Kleider. Aus den Schultern ragten prachtvolle Federn. Zwei von ihnen trugen Masken über den Augen, darunter waren die vollen Lippen zu sehen. Sie wurden durch knalligen Lippenstift betont. Die dritte trug eine elegante Maske über das gesamte Gesicht. Die Dekorationen betonten ihre Augen. Selbst von meinem Klavier aus bemerkte ich ihre strahlenden Augen. Die Masken endeten bei allen in einem imposanten Kopfschmuck. Mit ihren hochhackigen Schuhen und den Federn auf dem Kopf waren sie zu groß für unsere Tür. Sie stießen sich alle der Reihe nach daran. Das sorgte nur für noch mehr Gekicher. Als sie sich etwas beruhigt hatten, bemerkten sie meine Musik. „Oh, lass uns tanzen!” Die anderen beiden reagierten mit Gelächter. Eine der Frauen mit Halbmaske zog ihre Freundin in die Mitte des Raumes und sie begannen tatsächlich zu tanzen. Einen Standardtanz. Zu meiner Musik. Sie tanzten gut. Zwischendurch schwankten sie ein wenig. Das mochte vielleicht an dem Alkohol liegen, den sie schon vernichtet hatten. Alle Augen in der Bar waren auf sie gerichtet. Ich sah stattdessen zu der dritten im Bunde, die mit der Vollmaske. Sie stand an der Bar und trank ein Bier. Selbst von der Seite konnte ich ihre wunderschönen Augen sehen. Auch mit dem Mund verdeckt, verrieten ihre Augen, dass sie lächelte während sie ihren Freundinnen beim tanzen zusah. Dann stoppten meine Finger und plötzlich war es still. Das Stück war zu Ende. Sie drehte den Kopf zu mir und sah mich erwartungsvoll an. Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. Hastig suchte ich in meinen Noten nach tanzbaren Stücken. Ich fand einige Jazzstücke und begann zu spielen. Mein Blick war starr auf das Papier gerichtet. Die Frauen stießen einen freudigen Schrei aus. In meinen Augenwinkeln konnte ich sehen, dass sie wieder begonnen hatten zu tanzen. In der Hoffnung, dass alle Blicke wieder auf das Tanzpaar gerichtet waren, wagte ich einen Blick zur Bar. Ihre Augen erwarteten mich bereits. Sie sah mich direkt an. Ein Kribbeln durchfuhr meinen Körper. Ich lächelte unweigerlich. Es war schwer meinen Blick von ihr abzuwenden, doch die nächste Passage des Stückes beherrschte ich nicht vollkommen. Als ich wieder auf die Noten sah, ließ das Hochgefühl augenblicklich nach. Ich kam mir dämlich vor. Wut machte sich breit. Wut auf mich selbst. Warum reagierte mein Körper auf diese Weise? Niemals wäre eine solch hübsche, junge Frau an einem alternden Musiker wie mir interessiert. Ich konzentrierte mich auf mein Klavierspiel. Mit jedem weiteren Stück, das ich spielte, schien die Stimmung in der Bar zu steigen. Die Frauen hatten weitere Gäste ermuntert zu tanzen. Vorsichtig schielte ich zu den Tanzenden hinüber. Ich spürte einen leichten Stich in der Brust. Auch die Frau mit der Vollmaske tanzte jetzt. Sie tanzte mit einem jungen Burschen, der sich ungeschickt anstellte. Doch sie schien sich köstlich zu amüsieren. Das war es was sie suchte. Ich konnte also aufhören über sie nachzudenken. Dann drehte sie den Kopf in meine Richtung. Hatte sie mich angesehen? Das bildete ich mir bestimmt nur ein. Ich widmete mich wieder meinen Noten. Ich war hier um zu arbeiten. Nach kurzer Zeit ließ ich mich erneut von der guten Stimmung anstecken. Ich spielte passioniert, wie schon lange nicht mehr. Und die Gäste folgten meinem Takt. Es wurde getanzt und getrunken. Nach kurzer Zeit war die Bar gut gefüllt. Einige Stücke später merkte ich, dass meine Finger langsam anfingen zu schmerzen. Es war Zeit für eine Pause. Ich schielte auf meine Uhr neben dem Klavier. Ich hatte fast drei Stunden gespielt. Nachdem das Stück zu Ende war, stand ich auf und stellte den Plattenspieler an. Es sollte nicht an Musik mangeln während meiner kurzen Pause. Ich sah zu den Menschen auf der Tanzfläche. Sie schienen den Unterschied nicht einmal zu bemerken. Dann konnte ich vielleicht auch eine etwas längere Pause machen. Unbewusst hatte ich den Raum abgesucht, bis ich sie gefunden hatte. Sie saß an einem der Tische mit dem jungen Burschen. Er redete ohne Unterbrechung. Ich wusste nicht, ob sie zuhörte, doch ihr Kopf war in meine Richtung gedreht und sie sah mich an. Plötzlich berührte der Junge ihren nackten Oberschenkel und gewann so ihre Aufmerksamkeit zurück. Ich nutzte den Moment um mich abzuwenden und ging zur Bar. Sie war bloß gelangweilt und hatte in den Raum gestarrt. Es war reiner Zufall, dass sich unsere Blicke erneut getroffen hatten. Ich musste wirklich aufhören darüber nachzudenken. Ein Bier würde mir helfen. Als ich an der Bar ankam, hatte Mike mir bereits ein Pint gezapft. Ich lächelte ihn dankend an und nahm einen großen Schluck. „Du spielst heute unglaublich, Ruben!” Mike war jung und begeistert von seinem neuen Job als Barmann. Seine Gesellschaft war eine nette Abwechslung zum tristen Baralltag. „Danke. Die Stimmung ist grandios, das beflügelt.” Mike nickte wissend. Ich nahm noch einen großen Schluck. Es tat gut. Ich hatte nicht bemerkt, wie ausgetrocknet ich gewesen war. „Willst du was essen, bevor Tom die Küche zumacht?” Ich nickte. „Gerne.” Mike verschwand in die Küche und ich blieb mit meinem Bier allein zurück. Ich hielt mich daran fest, um mich nicht umzudrehen. Wieder und wieder sagte ich mir, dass ich mir die Blicke eingebildet hatte. Ich war viel zu alt und unansehnlich. Ich könnte ihr Vater sein, hätte ich je eine Beziehung lange genug durchgehalten. Bevor ich dem Drang mich umzudrehen, nachgeben konnte, kam Mike zurück. Er hatte mir ein Sandwich mitgebracht. „Danke.” Wie aufs Stichwort knurrte mein Magen. Ich löste meinen Griff um das leere Bierglas, um mich meinem Essen zu widmen. Mike nahm mein Glas und füllte es ohne zu fragen auf. Nachdem er es vor mir abgestellt hatte, kümmerte er sich wieder um die Kunden. Die Bar war noch immer brechend voll. Ich genoss diesen Moment etwas fernab von all dem Trubel. Früher war ich gern tanzen gegangen. Ich war ein guter Tänzer, doch mittlerweile mangelte es an willigen Tanzpartnerinnen. Also hatte ich es aufgegeben. Jetzt spielte ich nur noch für die anderen. Ich hatte gerade den letzten Bissen des Sandwichs in den Mund genommen, als die Schallplatte einen schrecklichen Laut von sich gab und nur noch wirre Töne darauf folgten. Ich sprang von meinem Barhocker auf und sprintete zum Plattenspieler. Hastig stellte ich ihn ab. Die Stimmung war schlagartig unterbrochen worden. Alle starrten in meine Richtung, unsicher was sie jetzt tun sollten. Ich dehnte schnell meine Finger und setzte mich an das Klavier. Die Noten vor mir rutschten vom Ständer, als ich sie ordnen wollte. Mir war bewusst, dass wir die Stimmung und mit ihr die Kunden schnell verlieren würden, wenn ich nicht sofort etwas spielte. Es würde zu lange dauern, die Noten einzusammeln. Also spielte ich, was ich am besten konnte: The Entertainer. Und es funktionierte. Langsam fingen die Leute wieder an zu tanzen und sich zu unterhalten. Erleichterung wollte sich in mir breitmachen, doch ich wusste nicht, ob der Chef heute Abend hier war. Ich hoffte inständig, dass dies nicht der Fall war. Hektisch suchte ich die Bar ab, konnte sein markantes Gesicht aber nirgends entdecken. Ich wusste, dass die Platte einen Sprung am Ende hatte. Er wusste es auch. Ich hatte zu lange Pause gemacht. Ich ließ meinen Blick ein weiteres Mal durch den Hauptraum streifen. Als ich ihn noch immer nicht entdecken konnte, entspannte ich mich wieder etwas. Dann fiel mir auf, dass mein Blick nicht an IHR hängen geblieben war. Vielleicht war sie bereits gegangen? Wahrscheinlich mit dem jungen Burschen. Ein Grund mehr mich wieder auf meine Arbeit zu konzentrieren. Ich musste am Ende des Stückes schnell meine Noten einsammeln und das nächste Stück auswählen. Vielleicht ein schneller Swing. Bei den rapiden Drehungen würde ihr Kleid sich leicht abheben und mitdrehen. Ich schüttelte energisch meinen Kopf. Ich versuchte diese Gedanken loszuwerden, doch mein Körper schien mir in keiner Funktion wirklich zu gehorchen. Ich beendete das Stück deutlich aggressiver als beabsichtigt. Die angetrunkenen Menschen in der Bar schienen es jedoch nicht zu bemerken. Ich machte mich eilig daran, die Noten vom Boden einzusammeln und zu ordnen. Meine Knie protestierten bei jeder Bewegung. Als ich mich gerade hochhieven wollte, hielt mir jemand ein paar Zettel unter die Nase. „Die hier haben versucht zu entkommen.“ Ich hatte bereits an dem Kleid auf meiner Augenhöhe erkannt, wer vor mir stand. Ich spürte wie mir heiß wurde. Mein Herz begann zu rasen. In meinem Alter dachte man als erstes an die Symptome eines Herzinfarktes. Doch an alles woran ich denken konnte, war, dass ihre Stimme genauso schön war wie ihre Augen. Ich traute mich schließlich meinen Blick von den Noten, den Arm hinauf zu ihrem Gesicht gleiten zu lassen. Sie trug noch immer ihre Maske. Ihre Augen strahlten. Ich konnte das Lächeln unter der Maske förmlich spüren. Sie war also noch nicht gegangen. Ich war plötzlich unglaublich nervöse. Ungeschickt richtete ich mich auf und wurde rot. Sie hielt mir noch immer meine Noten hin. Ich nahm sie ihr ab und erinnerte mich, dass ich etwas spielen sollte. Die Kunden warteten und mit einem Mal hatte ich das Gefühl ihre Blicke auf mir zu spüren - auf uns. „Danke. Ich sollte vermutlich weiterspielen.” Ich deutete auf das Klavier. „Es wäre schade, wenn nicht. Du spielst wunderbar.” Das Kompliment ließ mich grinsen und noch röter werden. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass sie mich duzte. „Was spielst du als nächstes?” Ich bemerkte, dass ich sie angestarrt hatte und räusperte mich. „Swing vielleicht.” Es war mehr eine Frage, als eine Antwort. „Oh das wäre wunderbar!” Ich schaffte es endlich mich wieder zum Klavier zu drehen und die entsprechenden Noten auf dem Ständer zu platzieren. Sie blieb neben dem Klavier stehen, während ich mich in Position brachte. Ich wagte es noch immer nicht in den Raum zu schauen, aus Angst alle würden mich anstarrten. Ich kam mir vor wie am Anfang meiner Karriere. Es war als hätte ich wieder Lampenfieber. Ich sah sie an. „Stört es dich, wenn ich hier stehen bleibe während du spielst?” Ich schüttelte den Kopf. Es kostete mich ungeheure Kraft, meinen Blick von ihr abzuwenden und endlich weiter zu spielen, aber ich wollte nicht, dass sie ging. Zum Glück kannten meine Finger die meisten Stücke so gut wie auswendig. Sie hatte sich auf die Seite meines Klaviers gelehnt und lauschte mit geschlossenen Augen. Ich schielte immer wieder über den Rand meiner Noten zu ihr hinüber. Aus der Nähe war sie sogar noch schöner. Jeder Widerstand sie weiterhin anzusehen, über sie nachzudenken, war gebrochen. Ich versuchte mir einzureden, dass sie nur wegen der Musik bei mir stand, doch es half nichts. Nachdem ich mich ein wenig an ihre Gegenwart gewöhnt hatte, ließ auch meine Nervosität nach. Ich versuchte sogar sie mit gewagten Improvisationen zu beeindrucken. Das ging so weit, dass ich bei einer gewagten Stelle zu ihr sah, anstatt auf meine Finger - und mich prompt verspielte. Sie kicherte leise und ich lief natürlich rot an. Peinlich berührt, versuchte ich meinen Ausrutscher zu überspielen, doch es wurde nur noch schlimmer. Ich geriet vollkommen aus dem Takt und beendete das Stück kurzerhand etwas abrupt. „Ich hoffe ich habe dich nicht mit meinem Lachen aus dem Takt gebracht.” In ihrer Stimme lag echte Sorge. Ich lächelte sie aufmunternd an. „Ganz und gar nicht. Ich habe mich einfach nur verzettelt.” Ich schaffte es nicht ihrem Blick lange standzuhalten. Und doch wollte ich die Augen nicht von ihr lassen. Als eine erneute Hitzewelle mich überkam, räusperte ich mich schnell und suchte ein neues Stück heraus. Ich begann zu spielen, bevor meine Aufmerksamkeit wieder zu ihr gezogen wurde. Doch ich beobachtete sie weiter aus den Augenwinkeln. Ihre Haltung hatte sich geändert. Sie spielte mit den Federn an ihrem Kostüm. War sie etwa nervös? Ich befürchtete sie hatte genug von meiner Musik und wollte sich höflich verabschieden. Je näher ich dem Ende des Stückes kam, desto größer wurde der Kloß in meinem Hals. Ich wollte nicht, dass dieser Moment endete. Aus welchem Grund auch immer sie bei mir stand, es sollte nicht enden. Dann hatte ich das Ende des Stückes erreicht und machte mich auf das Schlimmste gefasst. Nachdem die letzte Note verklang und ich meine Hände von den Tasten nahm, kam sie einen Schritt auf mich zu. Sie verströmte einen angenehmen Duft. Jetzt knetete sie ihre Hände. Dann gab sie sich sichtlich einen Ruck. „Tanzt der Pianist auch?” Ich starrte sie mit gerunzelter Stirn an. „Wie bitte?” Hatte ich wirklich richtig gehört? Ihr entfuhr ein nervöses Lachen. „Ich fordere dich zum Tanzen auf.” Ich traute meinen Sinnen noch immer nicht. Warum würde sie mit mir tanzen wollen? Der Kloß in meinem Hals war noch immer da. „Mit mir?” Meine Stimme versagte und es kam nur ein Krächzen heraus. Doch sie verstand die Geste in meine Richtung. „Ja mit dir.” Jetzt lachte sie herzhaft. Ich war mit dieser Frage oder Bitte noch immer überfordert. „Aber jemand muss doch Musik machen.” Meine Stimme war zurück. Ohne zu zögern ging sie zum Plattenspieler und stellte ihn an. Dann kam sie zu mir und nahm meine Hand. Sie deutete an mir vorbei zur Tanzfläche. „In ihrem aktuellen Zustand merken die Leute den Unterschied gar nicht mehr, siehst du?” Ich folgte der Richtung in die sie zeigte. Sie hatte Recht. Der Level an Müdigkeit und Alkohol war bereits so hoch, dass die Leute mehr schaukelten, als tanzten. Jede Form von Musik würde ihnen reichen. Sie hielt noch immer meine Hand und zog mich von meinem Stuhl. In meinem Kopf drehte sich alles. Mein Kopf versuchte einen Sinn zu erkennen, in dem was passierte. Mein Herz raste gefährlich schnell. In meinem Magen machte sich ein wohlig flaues Gefühl breit. Wie in Trance folgte ich ihr zur Tanzfläche. Ich wagte es nicht ihren Körper zu berühren. Also nahm sie meine Hand und platzierte sie auf ihrem Rücken. Mit ihren hohen Schuhen war sie leicht grösser als ich. Ich verlor mich in ihren blauen Augen. „Du kannst doch tanzen oder?”, fragte sie mich plötzlich. Mir wurde bewusst, dass wir bereits eine ganze Weile reglos auf der Tanzfläche standen. Als Mann war es an mir den Tanz zu starten und zu führen. Ich konzentrierte mich auf die Musik, dann machte ich den ersten Schritt. Sie ließ sich gut führen, doch ich war nervös wie ein Schuljunge am ersten Tag und trat ihr prompt auf den Fuß. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Doch sie lachte nur und wartete, bis ich von vorn anfing. Es brauchte noch ein, zwei weitere Versuche, bis ich langsam in meine Form zurückfand. Ich versuchte eine erste Figur. Sie war überrascht, folgte aber perfekt meiner Führung. Nach jeder Drehung kehrten ihre strahlenden Augen zu mir zurück. Ich war so glücklich, wie schon lange nicht mehr. Wie noch nie in meinem Leben. Das Tanzen hatte mir gefehlt. Und die Frau in meinen Armen bewegte etwas in mir, was ich bisher noch nie gespürt hatte. Selbst wenn es nur diesen Abend dauern würde, diese Erinnerung würde ich für den Rest meines Lebens bewahren. Ich kannte die Platte auswendig und wusste genau, welches Stück als nächstes kam. Ein Kribbeln machte sich in mir breit vor Aufregung. Dann begann das Stück. Es war ein schneller Takt. Ich musste meine Schritte beschleunigen. Sie passte sich sofort dem neuen Tempo an. Ich konnte nicht aufhören zu grinsen. Sie war eine unglaubliche Tanzpartnerin. Obwohl sie immer wieder vor Freude lachte, wenn uns eine Figur gelang, verlor sie nicht ein einziges Mal den Takt. Dann begann ich sie um ihre Achse zu drehen. Ihr Kleid hob sich leicht dabei. Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte herzhaft. „Weiter, weiter! Dreh mich weiter!” Und das tat ich. sie war so elegant in jeder ihrer Bewegungen. Ich versuchte mir dieses Bild einzuprägen, damit ich es niemals verlieren würde. Die Federn ihres Kostüms wogten auf und ab. Es wirkte, als wäre sie ein Vogel, der seinen Tanz aufführte. Ich drehte sie immer weiter, immer schneller. Und dann passierte es. Sie entglitt meiner Hand und stürzte zu Boden. Panik verdrängte mein Glücksgefühl. Sofort stürzte ich auf die Knie neben ihr. „Ist alles ok? Was ist passiert?” Sie rieb sich den rechten Knöchel. „Ich bin umgeknickt mit diesen dämlich hohen Schuhen.” Ich tastete vorsichtig ihren Knöchel ab. Bei der kleinsten Berührung schrie sie auf vor Schmerz. „Es tut mir so leid. Ich hätte dich nicht so lange drehen sollen.” Sie machte eine abwinkende Geste. „Das ist nicht deine Schuld. Aber vielleicht sollten wir eine kleine Pause einlegen.” Ihre Augen strahlten bereits wieder. Ich war ein wenig erleichtert. Zumindest ihr Lächeln hatte sie nicht verloren. Sie zog ihre Schuhe aus. Zusammen mit Mike half ich ihr hoch. Wir stützten sie bis zu einem nahe gelegenen Tisch, an den sie sich setzen konnte. Die anderen Gäste hatten dem Vorfall kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Das war mir nur recht. Ich hastete zum Klavier, um das Kissen von meinem Stuhl zu holen. Bei dieser Gelegenheit drehte ich schnell die Schallplatte um, sie war bereits gefährlich nahe an ihrem Sprung angelangt. Als ich zurückkehrte, platzierte ich das Kissen auf einem zweiten Stuhl, sodass sie ihren verletzten Fuß darauf ablegen konnte. „Würde vielleicht etwas Eis helfen?” Mike wirkte fast genauso besorgt wie ich. Sie legte nachdenklich ihre Hand auf die Maske, wo sich ihr Kinn verbarg. Es brachte mich erneut zum Schmunzeln. „Ich wüsste vielleicht, was helfen könnte.” Mike war ganz Ohr. „Dazu bräuchte ich einen Apfel, Zimt, Eis, Gin und das wichtigste: Fenchel.” Er sah sie leicht verwirrt an. „Fenchel? Da muss ich in der Küche nachschauen, ob wir den dahaben.” Sie nickte. „Danke. Ach und ein Messer wäre zauberhaft.” Er machte sich unverzüglich auf den Weg. „Das hast du nun davon, dass du ausgerechnet mich zum Tanzen aufgefordert hast. Ich hoffe es ist nichts Schlimmes.” Wieder machte sie eine abwinkende Geste. „Das wird schon wieder. Der ist bestimmt nur verstaucht. Ich weiß sowieso nicht, wieso ich mir immer wieder diese Schuhe antue. Es lag bestimmt nicht an deinem Tanzstil. Das ist doch nicht nur ein Hobby?” Wieder brachte sie mich durch dieses indirekte Kompliment in Verlegenheit. „Als ich jung war, habe ich beides intensiv betrieben. Die Musik und den Tanz. Doch irgendwann kam der Tag, als ich mich entscheiden musste.” Sie sah zum Klavier. „Und es ist die Musik geworden.” Es war keine Frage, sie stellte fest. Trotzdem nickte ich. Ich wollte sie fragen, warum ausgerechnet ich. Warum hatte sie mich zum Tanz aufgefordert? Sie hätte jeden in der Bar fragen können, niemand hätte sie abblitzen lassen. Doch bevor ich fragen konnte, kam Mike mit einem Tablett zurück. Er hatte alle erforderlichen Zutaten gefunden. „Wenn Sie noch etwas brauchen, scheuen Sie sich bitte nicht mich oder Ruben zu fragen.” Ich nickte bestätigend. „Danke. Ich denke ich habe soweit alles.” Dann begann sie mit der Zubereitung ihres Heilmittels. Sie zerteilte den Apfel und den Fenchel. Dann nahm sie ein leeres Glas vom Tisch, leerte die Reste in den Tischabfall und füllte es mit den geschnittenen Zutaten. Sie zerstieß sie mit dem Griff des Messers. Ich zuckte, als ihre Hand in Richtung der Schneide rutschte und sie sich fast noch die Handfläche aufschnitt. Zum Glück war nichts passiert. Dann gab sie Zimt dazu und das Eis. „Und das hilft deinem Fuß?“ Ich war etwas skeptisch. Sie grinste mich an. „Das kommt drauf an.” Sie übergoss alles mit dem Gin und fischte einen Strohhalm aus einem anderen Glas. „Es hängt davon ab, wie man es anwendet.” Dann nahm sie einen Schluck von ihrem Drink. „Ich präsentiere den Naomi Spezial.” Wir mussten beide Lachen. Sie stellte ihr Glas ab. „Ruben also?” Ich nickte. „Es tut mir leid, dass ich mich in dem ganzen Trubel gar nicht vorgestellt habe. Es freut mich dich kennen zu lernen, Naomi.” Plötzlich lachte sie auf. „Oh ein Gentleman alter Schule.” Ich war mir unsicher, ob in ihrer Stimme Spott mitschwang. Sie bemerkte meine Unsicherheit und fügte schnell hinzu: „Versteh mich nicht falsch. So viel Höflichkeit bin ich nur sonst gewohnt. Ich freue mich auch sehr dich kennen zu lernen, Ruben.” Es gefiel mir, wenn sie meinen Namen aussprach. Doch was tat ich eigentlich noch hier? Tanzen war eine Sache. Ich wollte sie nicht mit einem Gespräch langweilen. Ich machte Anstalten aufzustehen. Sie sah mich mit großen Augen an. „Danke für den wunderbaren Tanz. Ich lasse Sie jetzt besser in Ruhe.” Mein Herz wurde schwer bei dem Gedanken sie zu verlassen, doch es war für alle das Beste. „Oh. Ich dachte wir könnten uns ein wenig besser kennenlernen.” Ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich eine Spur von Enttäuschung in ihren Augen sah. „Ich will Sie nicht langweilen. Und außerdem.” Ich sah zum Klavier. „Erstens: Wie waren bereits beim DU. Und ich werde schon sagen, wenn ich mich langweile. Wann hast du denn offiziell Feierabend?” Ihre Augen strahlten mich erneut an. „Theoretisch, wenn es sich nicht mehr lohnt zu spielen.” Sie sah sich zu den anderen Gästen um. Sie hatten sich überwiegend dem Alkohol gewidmet. „Ich finde es lohnt sich nicht mehr.” Sie berührte den Stuhl neben sich. „Also setz dich wieder. Du bist es mir schuldig, für meinen Fuß.” Sie lachte. „Lass mich wenigstens selbst urteilen, ob du mich langweilst.” Ich musste grinsen und setzte mich schließlich wieder. Wir begannen zu reden. Über alles und jeden. Sie machte mir einen ihrer seltsamen Drinks. Ich ließ mich überreden ihn zumindest zu probieren - Es war eine Offenbarung. Nie hätte ich gedacht, dass diese Mischung so gut sein würde. Also tranken und redeten wir. Ich erzählte ihr alles über mich an diesem Abend. Nie hatte ich mich jemandem so vollkommen geöffnet. Den Alkohol trifft vermutlich eine Mitschuld. Ich erfuhr auch eine Menge über sie. Sie kam aus der Nachbarstadt und arbeitete im Eisenwarenladen ihres Vaters. Sie kannte sich mit Autos aus, aber auch mit Musik. Ich war hin und weg. Sie war intelligent und humorvoll. Trotz des Altersunterschieds hatten wir unglaublich viel gemeinsam. Wir diskutierten und lachten. Ich vergaß vollkommen die Zeit und blendete meine Umgebung aus. Meine Aufmerksamkeit galt nur ihr. Als wir uns von einem gemeinsamen Lachanfall erholten, brach plötzlich die Realität über mir herein. Das hier war nur ein Traum. Je länger er dauerte, desto schmerzhafter würde das Erwachen. Ich stocherte in meinem Glas und sammelte den Mut endlich diese eine Frage zu stellen. Die Frage, die mir schon seit Stunden auf den Lippen brannte. Ich hob den Blick und sah sie direkt an. „Warum ich? Wieso bist du auf mich zugekommen? Ich bin so viel älter und nicht besonders attraktiv.” Sie zuckte mit den Schultern. „Du bist mir sofort aufgefallen. Du hast eine gewisse Ausstrahlung, die mich angezogen hat, die ich näher erkunden wollte. Da spielt auch das Alter keine Rolle.” Plötzlich beugte sie sich vor und berührte meine Wange mit ihrer Hand. Ich zuckte leicht unter der Berührung, doch ließ es zu. Es fühlte sich gut an. „Und bisher habe ich es nicht bereut. Ich habe schon lange nicht mehr einen so schönen Abend verbracht.” Ich lächelte sie an, doch ein leichter Zweifel blieb. Ich war mir sicher, dass sie noch schnell genug erkennen würde, dass ich nicht war, wonach sie suchte.
Plötzlich wurden Stimmen laut am anderen Ende der Bar. „Nein! Ich habe nein gesagt.“ Es war eine von Naomi's Freundinnen. Sie hatte mit einem jungen Mann in einer Ecke gesessen. Jetzt war sie wütend aufgesprungen und entfernte sich von ihm. Die zweite Freundin hatte den Vorfall mitbekommen und kam zu ihr. Sie sprachen kurz miteinander. Nach einer Umarmung kamen sie schließlich zu uns herüber. „Hey Naomi. Wir wollen weiterziehen. Wie sieht es mit dir aus?” Sie musterten mich neugierig. Ich wurde erneut verlegen und kam mit fehl am Platz vor. „Ich bleibe lieber noch hier. Außerdem bin ich nicht sehr mobil im Moment.“ Sie deutete auf Ihren Fuß. Die beiden stießen ein besorgte Oh aus. „Keine Sorge. Es ist nichts Schlimmes. Und ich bin in guten Händen.“ Jetzt wurde ich auch noch rot. Die beiden grinsten sie an und verabschiedeten sich dann. Sie drehte sich wieder zu mir um. „Wo waren wir stehen geblieben?“ Ich war noch immer rot und wusste nicht was ich sagen sollte. Bevor sich eine peinliche Stille einstellen konnte, wurden wir erneut unterbrochen. Diesmal war es Mike. „Hey. Die letzten Gäste sind dabei einzuschlafen. Ich würde sie vor die Tür setzen und dann gerne abschließen. Ist das OK für euch?“ Ich schielte auf meine Armbanduhr und erschrak leicht über die späte Uhrzeit. „Ja klar, kein Problem. Wir sind so gut wie weg.“ Ich sah langsam zu Naomi. Wie würden wir diesen Abend jetzt beenden? Die Stimmung war mit einem Mal seltsam. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. Dieser Abend konnte nicht vollkommen bedeutungslos gewesen sein. Ich würde es bereuen, es nicht wenigstens versucht zu haben. Also setzte ich alles auf eine Karte. „Hättest du Lust den Abend woanders fortzusetzen?“ Ich machte mich auf eine Absage bereit. Am liebsten hätte ich die Augen geschlossen. „Ich dachte schon du würdest nicht fragen.“ Ich sah sie überrascht an. „Jetzt tu nicht so überrascht. So schlimm ist deine Gesellschaft nicht. Und falls es dir hilft, ich finde dich durchaus attraktiv.“ Sie lachte herzhaft, als ich hochrot anlief. Ich wusste nicht wohin dieser Abend noch führen würde, doch ich war erst einmal froh, dass er noch nicht vorbei war. Ich begann unseren Tisch etwas zusammen zu räumen, um Mike noch etwas beim Aufräumen zu helfen bevor wir gingen. Doch plötzlich berührte mich Naomi am Arm. Sie sah sich um, um sich zu vergewissern, dass Mike beschäftigt war. „Ich muss, ich möchte dir vorher noch etwas sagen.“ Es war da erste Mal, dass sie unsicher wirkte, sich unwohl zu fühlen schien. Sie sah mir nicht in die Augen. Ich hatte Angst, dass es mich betraf. „Ich bin eigentlich nicht Naomi. Also keine richtige Naomi.“ Jetzt sah sie mich an. Doch ich verstand nicht, was sie mir sagen wollte. Als ich nicht reagierte, griff sie zu ihrer Maske. Die Maske, die sie den ganzen Abend getragen hatte, und setzte sie endlich ab. „Mein richtiger Name ist Nathan.” Und dann verstand ich es endlich. An ihrem, seinem Kinn war der Schatten eines Bartes zu sehen. Am Ende machte es endlich Sinn. Erleichtert fing ich an zu lachen. Ich fühlte, wie eine ungeheure Last von mir fiel. Endlich hatte ich es begriffen. Es fühlte sich gut an. Doch als ich Nathans rotes Gesicht sah, hörte ich schlagartig auf zu lachen. „Wenn dich das so sehr belustigt, sollte ich vielleicht mit der Nummer auftreten.“ Er war wütend. Ich legte meine Hand auf seine. Er wollte sie wegziehen, doch ich hielt sie fest. „Bitte, du verstehst mich falsch. Du hast mir die Augen geöffnet. Mein ganzes Leben lang habe ich versucht mein Glück zu finden und heute habe ich endlich verstanden, dass es nicht an mir lag. All die gescheiterten Beziehungen und Enttäuschungen. Ich bin all die Jahre blind gewesen. Danke!“ Ich nahm seine Hand und gab ihr einen Kuss. Ich spürte plötzlich eine nie dagewesene Selbstsicherheit. „Du kannst dir nicht vorstellen, was diese Erkenntnis für mich bedeutet.“ Er sah mich einen Moment stumm an. Ich hatte schon die Befürchtung, dass diese Offenbarung ihn überforderte. Ich wollte etwas hinzufügen, am liebsten meine Worte ungeschehen machen, als er sich plötzlich vorbeugte - und mich küsste. Ich hatte das Gefühl, das der Boden unter mir nachgab. Es war eine Explosion der Gefühle. Automatisch schloss ich die Augen. Alles schien sich zu drehen. Er fasste mein Gesicht mit beiden Händen und der Kuss wurde intensiver. Ich wollte, dass er nie enden würde. Mein Glück war all die Jahre so nah gewesen und endlich hatte ich es erkannt, vielleicht sogar gefunden. Dann lösten sich seine Lippen von meinen. Ich öffnete die Augen. Sein Gesicht war noch immer ganz nah an meinem. Er lächelte mich an. Auch ich musste lächeln. „Der Abend ist also noch nicht vorbei?“ Er schüttelte leicht den Kopf. Ich war erleichtert. Das war alles was ich wollte.
„Entschuldigen Sie.“ Der Mann riss mich aus meinen Erinnerungen. Ich brauchte einen Moment, bis ich mich wieder erinnerte, wo ich war. Der Mann vor mir war nicht der Barmann. Er trug eine Anzughose und ein Hemd. „Entschuldigung, wenn ich Sie störe. Ich bin der Besitzer dieses Clubs. Mein Barmann hat mir ihren etwas außergewöhnlichen Drink präsentiert und ich würde ihn gerne vorläufig in unsere Karte aufnehmen. Sofern Ihnen das nichts ausmacht.“ Ich lächelte ihn an. „Das wäre mir eine Freude. Allerdings hätte ich eine Bedingung.“ Er nickte. „Der Name ist wichtig. Naomi Spezial. Mehr verlange ich nicht.“ Er sah mich freundlich an. Vermutlich hatte er mit weitaus unrealistischeren Forderungen gerechnet. „Das wird kein Problem sein. Ich danke Ihnen für diese Bereicherung. Sie sind immer herzlich willkommen bei uns.“ Dann verabschiedete er sich und ließ mich wieder allein. Das war einfacher als gedacht. Ich holte meine Liste aus meiner Innentasche. Naomi hatte mir bis zu ihrem Tod die glücklichste Zeit meines Lebens geschenkt. Ich fragte mich hin und wieder, ob ich ihr das oft genug gesagt hatte. Doch eines stand fest, ich würde sie niemals vergessen. Und ich würde dafür sorgen, dass auch die Welt sie nicht vergaß. Ich hakte die Bar auf meiner Liste ab. Mit einem letzten Schluck leerte ich mein Glas und machte mich auf den Weg. Es standen zwei weitere Bars auf meiner Liste für heute. Auf dem Weg musste ich noch Fenchel besorgen.