Unser Herz schlägt 60 Mal in der Minute.
86'400 Mal am Tag.
Und über 30 Millionen Mal im Jahr.
Aber manchmal hört es einfach auf zu schlagen und wir sind tot.
Bis es schliesslich wieder weiterschlägt.
60 Mal in der Minute, 86'400 Mal am Tag.
Und wir wieder leben.
Grelles, künstliches Licht blendete Viviane, als sie die Augen aufschlug. Verwirrt strich sie sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht und setzte sich auf. Das Mädchen trug die gleichen Kleider wie zuvor. Ihre schwarzen Laufschuhe, die enge Sporthose und den weiten, blauen Pulli aus dem Schrank ihrer Mutter.
Der Raum, in dem sie sich befand, war nicht derselbe wie zuvor. Er war weit, die Wände allesamt weiss. Die Decke schien unendlich weit weg und hoch oben hingen sirrende Kunststoffröhren, von denen das Licht herrührte.
Vorsichtig stand Viviane auf und machte ein paar Schritte in der Halle. Interessiert trat sie an eines der grossen Bilder heran, die überall aufgehängt waren. Es zeigte scheinbar wahllos gezogene Striche in Grün und Gelb, die sich über einen kirschfarbenen Hintergrund zogen. Kopfschüttelnd ging sie weiter und überlegte derweilen, wie sie hierhergekommen war. Das hier war eindeutig ein Kunstmuseum oder eine Galerie oder so, aber das letzte woran das Mädchen sich erinnerte, war, wie sie an einem verregneten Sonntagmorgen ihre Runden auf der Laufbahn absolviert hatte. Danach war nichts mehr.
Den Jungen, der unbemerkt aus den Schatten an sie herangetreten war, bemerkte Viviane erst, als er sich räusperte. Erschrocken machte sie einen Schritt zurück und schaute erschrocken in seine meerblauen Augen.
«Hi», sagte er.
«Hi», antwortete sie perplex und nicht besonders einfallsreich. Er verzog nur den Mund und wandte sich wieder ab.
«Hey, warte einen Moment… kannst du mir vielleicht sagen, wo ich hier bin?» Vivianes Stimme klang irgendwie weinerlich, aber sie versuchte möglichst stolz dazustehen und sich nichts anmerken zu lassen.
Der Typ drehte sich wieder zu ihr herum und zog spöttisch eine Augenbraue nach oben. «Du bist in der Zwischenwelt. In meiner Zwischenwelt.»
«Zwischenwelt? Zwischen was denn bitteschön?» Jetzt verstand das Mädchen überhaupt nichts mehr.
Ihr Gegenüber seufzte theatralisch auf: «In der Welt zwischen Leben und Tod.» Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging durch den Saal davon. Viviane bemühte sich, ihm hinterher zu kommen.
«Tod? Was soll das heissen? Wieso bin ich denn hier? Und was machst du hier?»
Plötzlich stand er direkt vor Viviane. Überragte sie und funkelte zu ihr hinunter. «Woher soll ich denn wissen, was du hier machst? Vielleicht bist du von einer Brücke gesprungen oder hast dich zu sehr aufgeregt, als dein Hündchen einen Haufen auf dein Bett gemacht hat. Und was mich betrifft, wie schon gesagt, das ist meine Zwischenwelt. Ich lebe hier.»
«…Ich bin ihm hinterhergerannt. Der Autofahrer zündete sich gerade eine Zigarette an und schaute nicht nach vorne. Das Auto traf mich mit voller Wucht. Und seitdem stecke ich hier fest. Ich weiss nicht, ob ich je wieder aufwachen werde.»
Vivianes Stimme war nicht viel mehr als ein Flüstern, als sie fragte: «Wie lange?»
Finn schluckte schwer. «Seit knapp 17 Monate.»
Eineinhalb Jahre. Das war eine verdammt lange Zeit, um einfach so im Koma zu liegen.
Es hatte eine Weile gedauert, bis Viviane Finn, den Jungen mit den meerblauen Augen, dazu überreden konnte, ihr zu erzählen, wo genau sie sich befand, was sie hier machte und wieso er hier war.
Er meinte, sie hätte wahrscheinlich einen Herzstillstand gehabt. Überbelastung oder so. Aber genau wusste er das auch nicht. Er bekam wohl nur öfters Besuch von Leuten, die irgendwo zwischen Leben und Tod hingen. Manchen kamen mehrmals, andere nur einmal und für wieder andere war das hier bloss der Anfand einer langen Reise.
Mittlerweile sassen Finn und Viviane auf dem Boden vor seinem Lieblingsbild und er erklärte ihr, was er daran so mochte. Sie verstand nicht, was an einem überdimensionalen Auge, auf dessen gefrorenen Tränen ein kleines Mädchen Schlittschuh fuhr, so faszinierend sein sollte, aber sie mochte seine Stimme, also liess sie ihn reden und nickte ab und an, wenn sie es für angebracht hielt.
Nach einer Zeit, die Viviane wie Stunden vorkam, wandte Finn plötzlich den Blick zu einer Türe am anderen Ende der Halle und runzelte die Stirn. Sie folgte seinem Blick und sah, wie eine Person den Raum betrat. Es war eine Frau in einem grauen Kleid, die Gesichtszüge makel- und alterslos.
«Wer ist sie?», wollte Viviane neugierig wissen.
«Das ist Dzana.»
«Dzana?», Das Mädchen wollte mehr wissen. «Du kennst sie, oder? Hängt sie auch hier fest?»
Finn schüttelte den Kopf. «Du wirst es gleich selbst sehen.»
Als die Frau, Dzana, bei ihnen angekommen war, blieb sie lächelnd und mit verschränkten Händen vor den beiden stehen. «Du bist Viviane, richtig?» Sie sah freundlich aus und ihre Gewänder wogten sanft um sie herum.
Die Angesprochene schaute unsicher zu Finn hinüber, bevor sie nickte. «Wer sind Sie?»
Dzana besah sie mit einem mütterlichen Lächeln: «Ich bin die Übermittlerin zwischen den Welten. Es ist Zeit für dich, zu gehen.»
«Gehen? Muss ich etwa sterben?»
«Nein meine Liebe. Du kehrst ins Leben zurück.»
Sanft nahm sie Vivianes Hand in ihre und führte das Mädchen zu dem Durchgang hinüber, durch den sie eben gekommen war. Kurz bevor sie durch ihn hindurchtraten warf Viviane einen letzten Blick zurück zu dem Bild mit dem Augen und zu Finn, der mit gekreuzten Beinen am Boden sass und ihnen hinterher schaute, als sie ins Leben zurückkehrten.
Die Zeit kommt für jeden einmal, aber sie war noch nicht so weit.