Es heisst, man begegne sich immer zweimal im Leben. Aber manchmal hat der Zufall gute Laune und dann haben gewisse Menschen das Glück, sich mehr als zweimal zu begegnen.
Jemand war gerade in der Zwischenwelt angekommen. Es war wie ein leichtes Ziehen in mir drin, das mir verriet, wenn eine Person das Museum betrat oder verliess.
Neugierig hob ich den Blick von der Zeichnung, die ich mit einem roten Kugelschreiber auf eine Serviette gekritzelt hatte und meine Miene erhellte sich sofort, als ich Viviane sah, die vorsichtig durch die Ausstellung schlenderte.
Sie winkte mir zaghaft zu, bevor sie zu mir kam und vor mir stehen blieb. Ihre Haare fielen ihr wie schwarze Seide über die Schultern und wenn sie lächelte begannen ihre Augen zu strahlen, wie die Sterne am Nachthimmel, die ich schon so lange nicht mehr gesehen hatte.
«Hi», sie lächelte.
«Hi», ich lächelte ebenfalls.
Sie liess sich mit gekreuzten Beinen vor mir auf dem Boden fallen und schielte neugierig auf die Serviette in meiner Hand. «Was ist das?»
Schnell zerknüllte ich das Papier in meiner Hand. «Nichts, das ist nichts.»
«Ach komm schon!» Grinsend zupfte sie an meinen Fingern und ein angenehmes Kribbeln schoss durch meinen Körper. Seufzend liess ich die Serviette schliesslich los und Viviane strich sie sorgfältig glatt.
«Das ist total gut! Bin...bin ich das?» Ihr Mund stand fragend offen und ein leises Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, als sie das Bild eines Mädchens betrachtete. Die Skizze war noch nicht fertig, aber die funkelnden Augen, die vollen Lippen und die zierliche Nasa waren unverkennbar. Schnell senkte ich den Blick.
Nach ein paar peinlichen Sekunden nickte ich schliesslich zustimmend und schob sogleich nach: «Wieso bist du eigentlich schon wieder hier?»
«Freust du dich etwas nicht, mich zu sehen?» gespielt beleidigt verzog sie ihre Lippen zu einem Schmollmund. Wie gerne ich diese Lippen küssen würde!
«Also, die OP verlief eigentlich nach Plan, glaube ich, aber offenbar ist etwas doch nicht so gut gegangen. Ich war kaum bei Bewusstsein und meine Brust tat furchtbar weh. Und dann war ich hier.»
Ich nickte nachdenklich. Das ganze klang gar nicht gut, aber ich wollte Viviane nicht wissen lassen, wie besorgt ich um sie war. So sehr ich mich auch freute, dass sie hier war, so sehr hätte ich mir gewünscht, sie müsste nie wieder hierher kommen.
Als ob sie meine Gedanken gelesen hätte, legte Viviane sanft ihre Hand auf meine und lächelte mich an. «Mach dir keine Sorgen. Ob ich zurückkomme oder nicht, darauf haben wir keinen Einfluss. Aber jetzt bin ich hier. Ich habe keine Schmerzen und wir haben jede Menge Zeit etwas zu unternehmen!»
Dieses Mädchen war der Wahnsinn! Als wir uns an der Bar im Café eine Limo holten, hatte sie den Durchgang zu der kleinen Küche entdeckt. Wie das mit den Esswaren hier funktionierte, hatte ich selbst noch nicht ganz begriffen. Man musste nichts essen, um am Leben zu bleiben, aber wenn man etwas zu Essen suchte, so fand man es stets so vor, wie es auch im echten Museum gewesen war.
Auf jeden Fall fand Viviane in einem der Küchenschränke alles, was sie brauchte um ein halbes Dutzend Schokomuffins zu backen, die wir jetzt verputzten. Wir sassen am gleichen Tisch wie letztes Mal, ganz dicht an der grossen Glasscheibe, assen die Küchlein und schauten hinaus in die Landschaft, die in den goldgelben Schein der untergehenden Sonne getaucht war.
Wir redeten nicht viel. Irgendwie gab es nichts zu sagen und ich genoss es, einfach still da zu sitzen und in Vivianes Nähe zu sein.
Die Sonne stand jetzt dich über den Bergen und warf lange Schatten über die Hügel und Täler. Ich sah zu Viviane hinüber, die die Augen geschlossen hatte, das Gesicht den wärmenden Strahlen zugewandt. Als ob sie meinen Blick gespürt hätte, sah sie mich blinzelnd an und lächelte.
«Schnell, komm mit! Ich muss dir etwas zeigen!» Ich war so hektisch aufgesprungen, dass Viviane erschrocken zusammenzuckte und mein Stuhl polternd hintenüber fiel. Mir war plötzlich etwas eingefallen.
«Finn, alles in Ordnung?» Sie klang beunruhigt.
«Ja, aber komm jetzt, sonst verpassen wir es noch!» Ich streckte ihr meine Hand entgegen und sie ergriff sie nach kurzem Zögern.
Gemeinsam rannten wir die Treppe nach oben und durchquerten den Ausstellungsraum im ersten Stock. Ich ignorierte ihre Fragen und lotste Viviane stattdessen über eine schmale Treppe weiter nach oben, bis wir schliesslich vor einer unscheinbaren Tür zum Stehen kamen.
«Wo sind wir?»
Ich schmunzelte. «Das wirst du gleich sehen.» Vorsichtig drückte ich die Klinke hinunter und die Türe öffnete sich lautlos.
Ein lauer Wind schlug uns entgegen, als wir auf das Dach des Museums hinaustraten. Ich lehnte mich an die Wand neben den Ausgang und beobachtete Viviane, die vorsichtig an die Dachkante herantrat. Ich sah nur ihre Silhouette vor dem feuerroten Himmel des Sonnenuntergangs. Sie breitete die Arme aus und blieb dann reglos stehen. Ich lächelte sanft aus sie sich zu mir herumdrehte. Einige Strähnen ihrer Haare wurden vom Wind erfasst und ich glaube zu sehen, wie sie mich angrinste.
Jetzt leuchteten die letzten Strahlen der untergehenden Sonne wie eine Krone über den schneebedeckten Gipfeln am Horizont.
Langsam schlenderte ich zu Viviane, setzte mich und liesse die Beine über die Dachkante baumeln. Sie setzte sich neben mich.
Einen Moment lang schwiegen wir, bevor ich sagte: «Pass auf, gleich passiert es.», und zum Horizont deutete, an dem ein Farbenspiel aus Rot und Violett tobte.
Ich hatte das Spektakel schon oft genug gesehen, deshalb konzentrierte ich mich ganz auf Vivianes Gesicht. Als ihre Augen sich weiteten und einen freudigen Glanz annahmen, wusste ich, dass es soweit war. Ich drehte den Kopf und schaute in den Himmel hinauf.
Gegenüber der Stelle, wo kurz zuvor die Sonne versunken war, stiegen jetzt die beiden Monde, königsblauer Mani und Iana in goldrute, auf. Der kleinere Mond Iana drehte sich schillernd um Mani, währendem sie beide über den Himmel wanderten.
Ich hatte den Monden mythologisch Namen gegeben, weil ich es liebte mir vorzustellen, es gäbe irgendwo, weil oben im Himmel Götter, die sich betranken, Spass hatten und nebenbei die Welt, das Schicksal, die Liebe kontrollierten.
«Es ist wunderschön», hauchte Viviane.
«Hmm.»
Dann schwiegen wir wieder.
Nach einer Weile lehnte Viviane den Kopf an meine Schulter. Ich wagte es nicht mich zu bewegen, traute mich kaum noch zu atmen, aus Angst sie könnte wieder von mir abrücken. Der Duft ihres Shampoos stieg mir in die Nase – Mandeln und Honig.
"So sollte es immer bleiben", dachte ich bei mir, schloss die Augen und gab mich ganz den Moment hin.
Mittlerweile standen die Monde hoch über uns und das Rot des Himmels war einem Zartrosa und Azurblau gewichen.
Als Viviane ihre Finger mit meinen verschränkte, kribbelte meine Haut. Das Gefühl schoss durch meinen Körper und drang in jede Zelle. Unsere Blicke trafen sich und ich verlor mich in der Tiefe ihrer Augen.
Wie von selbst beugte ich mich vor, spürte ihren Atem auf meiner Haut. Und als unsere Lippen sich berührten, vergass ich alles um uns herum.
Ich vergass, dass wir keine Zukunft hatten. Ich vergass, dass es nur sie und mich und nicht uns beide zusammen gab.
Alles was zählte war dieser Moment, denn er war das einzige, was wir hatten!
Es gibt Dinge im Leben, die man nicht beeinflussen kann. Dinge, die einfach so passieren. Und manchmal nennen wir das ein Wunder!