Er schnappte sich die Tasche und rannte los. Sofort war Selena auf den Beinen und rannte ihm nach. „Stehen bleiben!“ Er dachte nicht einmal daran. Er war schnell aber sie auch. „Ich sagte, bleib stehen!“, rief sie noch einmal. Sie durfte ihn nicht entkommen lassen. In der Tasche war ihr Notizbuch und viel wichtiger, die Karte. „Verdammt!“, zischte sie. Sie zog den Dolch aus ihrem Gürtel und schleuderte es auf ihn zu. Es bohrte sich in seine linke Schulter. Er ließ die Tasche fallen und blieb stehen. „Tut mir echt leid“, sagte sie außer Puste, „aber diese Tasche ist mir sehr wichtig.“ „Du hast mich erdolcht. Was bist du für eine Gestörte?“, fragte er sie und versuchte den Dolch heraus zu ziehen. Stattdessen verzog er vor Schmerzen, sein Gesicht. „Ich soll die Gestörte sein? Du hast mich beklaut. Halt jetzt still.“ Sie trat hinter ihn. Mit der rechten Hand hielt sie seine gesunde Schulter fest und mit der linken, zog sie vorsichtig den Dolch raus. „Keine Sorge, ich habe nichts Wichtiges getroffen.“ Er drehte sich zu ihr um und sah zu ihr runter. „Du hast sie wirklich nicht mehr alle“, stellte er fest. „Vielen Dank, du weißt wirklich, wie man jemandem dankt.“ „Danken? Du hast mich erdolcht, schon vergessen?“ Selena zuckte mit den Schultern. „Und du hast mich beklaut.“ Sie packte seinen rechten Arm, hob ihre Tasche auf und zog ihn hinter sich mit. „Lass los. Wo schleifst du mich hin?“ „Dahin wo du mir meine Tasche geklaut hast. Ich hoffe die anderen sind nicht zurück.“ „Und wieso bringst du mich dahin?“ Sie blieb stehen und sah ihn an, als wäre er begriffsstützig. „Die Wunde versorgen, die ich verursacht habe?“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Du willst mir die Wunde versorgen?“ „Ja.“ „An dem du Schuld bist?“ „Ja.“ „Warum zum Teufel, hast du sie mir dann verpasst?“ „Weil du nicht stehen geblieben bist.“ Sie zog ihn weiter. „Du bist definitiv gestört.“ „Wie oft willst du das noch sagen?“ Daraufhin sagte er nichts mehr. Selena atmete erleichtert auf, als noch niemand angekommen war. „Setz dich!“, befahl sie ihm. Aus einer anderen Tasche holte sie Verbandszeug. „Mann bin ich gut. Das muss ja nicht einmal genäht werden.“ „Darauf bist du stolz?“ „Ja. Du hast nicht zufällig noch ein Oberteil da?“ „Nein.“ „Hm, dann musst du es ausziehen.“ „Wie bitte, was muss ich tun?“ „Na, entweder zerreiße ich es oder du ziehst es aus.“ „Du musst mir aber helfen, ich kann meinen linken Arm nicht mehr richtig bewegen.“ „Jammer nicht so rum.“ Trotzdem half sie ihm, sein schwarzes, lockeres Shirt auszuziehen. Muskeln zeichneten sich unter seiner Haut ab. Sie wollte ihn nicht anstarren, aber das war unmöglich. Selena befeuchtete einen Lappen und wusch das Blut um die Wunde herum weg. Sobald ihre Hände sein Rücken berührte, spannten sich seine Rückenmuskeln an. Schweigend konzentrierte sie sich auf die Wunde. Als sie gerade dabei war, einen Verband an zu legen, hörte sie: „Was zum Teufel ist hier los?“ Selena sah hoch. Ihr Bruder, sowie auch die anderen standen vor ihnen. „Reg dich nicht auf.“ „Sel?“ Ihr Blick wanderte zu Tiara. „Oh, äh das sieht viel schlimmer aus, als wie es ist“, sagte sie und befestigte den Verband. „Was ist passiert?“, wollte Thea wissen. „Er ist verletzt aus dem Wald gestolpert und ich habe ihm geholfen.“ Sie log und er schaute sie fragend an. „Und du hilfst einem Fremden? Wirklich, du bist so schlau!“, meinte Alic sarkastisch. „Ich helfe nun mal Leuten, die Hilfe brauchen“, konterte Selena. „Also… danke für deine Hilfe, aber ich verschwinde jetzt.“ Er stand auf und stützte sich an einem Baum ab. „Wäre auch besser so“, „Von wo kommst du eigentlich?“, sagten Alic und Selena gleichzeitig. Er sah zwischen den beiden hin und her. „Das geht dich nichts an. Und danke nochmals“, er deutete auf seine Schulter. Keiner von den anderen wusste, dass er das zweideutig meinte. Er tippte sich auf die Stirn und verschwand dann. „Sel, was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?“, schrie Alic sie an. „Alic, daran ist doch nichts Schlimmes“, sagte Thea und legte eine Hand auf seinen Unterarm. Sofort verblasste sein Ärger. „Wir müssen weiter“, sagte er stattdessen. Thea ließ ihre Hand sinken und trat auf Selena. Dasselbe tat auch Tiara. „Du wirst uns das erklären“, flüsterte Tiara. Selena nickte und hob die Tasche auf. Sie sah in die Tasche. Das Geld war weg. Er hatte sie also zum Schluss doch noch beklaut. Zum Glück war das Notizbuch noch da. Alic lief vorne und Killian etwas weiter hinten. „Jetzt erklär uns das.“ Selena sah ihre beste Freundin an. „Das habe ich doch bereits.“ „Nein, du hast deinem Bruder eine Lüge aufgetischt. Uns machst du nichts vor“, sagte Thea. „Also gut, die Verletzung stammte von mir.“ „Was?“, rief Tiara etwas zu laut. Alic drehte sich um und sah sie fragend an. „Weißt du eigentlich, wo wir hin gehen?“, fragte Tiara um Alic auszuweichen. „Ja.“ Er lief weiter. Selena wartete eine Weile bevor sie fortfuhr. „Er wollte meine Tasche klauen und ich bin ihm hinterher gerannt. Er ist nicht stehen geblieben und…“ „Und du dachtest, hey komm ich erdolch ihn mal?“, fragte Tiara. „Ich weiß, nicht gerade meine beste Idee.“ „Das kannst du laut sagen“, murmelte Thea. „Wie heißt er?“, fragte Tiara. Selena runzelte die Stirn. „Ich habe ihn nicht nach seinem Namen gefragt“, sagte sie leise. „Aha. Warum nicht?“ Thea sah sie grinsend an. „Ich weiß es nicht.“ „Hm, vielleicht lag es daran, dass er verdammt heiß aussah?“ Selena sah Thea mit großen Augen an. „Was? Nein!“ „Nein, du hast nicht deswegen gefragt. Oder nein, er ist nicht heiß?“, wollte diesmal Tiara wissen. „Denn meiner Meinung nach, war er wirklich heiß“, fügte sie hinzu. Selena schwieg. Denn sie konnte ihren Freundinnen nicht wiedersprechen. Mit seinen pechschwarzen, etwas längeren Haaren, hatte er etwas Verwegenes. Aber diese graugrünen Augen, mit den langen dichten Wimpern, hatten sich in Selenas Gedächtnis eingeprägt. Er hatte ausgeprägte Gesichtszüge, drei Tage Bart. Er war groß und schlank. Das hieß aber nicht, dass er nicht durchtrainiert war. Selena bedauerte es, dass sie nicht nach seinem Namen gefragt hatte. Außerdem fragte sie sich, von wo er stammte. Er trug nicht die Farben von Terra. Auch nicht die des Ignis Lapis oder Aquariel. Selbst das von Caeli war nicht vertreten gewesen. Er hatte ein schwarzes Shirt und eine zerfranste Hose angehabt. Es war keins der Kriegerklamotten. Es war so, als würde er zu niemandem gehören. Killian räusperte sich und holte somit Selena in die Gegenwart. „Mir fällt gerade auf, dass wir hier zum dritten Mal vorbei laufen“, sagte Killian. Selena sah sich um. Da sie so sehr in Gedanken versunken gewesen war, hatte sie es überhaupt nicht bemerkt. „Das kommt dir nur so vor“, erwiderte Alic. „Mir kommt dieser Ort aber auch bekannt vor“, warf Tiara ein und sah sich um. „Das kommt euch nur so vor“, sagte Alic erneut. Diesmal aber gereizter. „Bekomme ich bitte die Karte?“, fragte Thea. „Äh…Ja.“ Sie nahm es ihm mit einem Lächeln aus der Hand und schaute es sich an. „Wie kannst du hier etwas erkennen?“, fragte sie ihn schließlich. „Ich bin eben ein guter Kartenleser.“ Selena verdrehte Augen und trat neben Thea. „Was ist denn das?“ Sie sah das Stück Papier an. „Das ist nicht die Karte, die ich dabei… Fuck!“ Selena riss Thea die Karte aus der Hand. „Ich bring diesen Kerl um!“, zischte sie. „Sel, was ist los?“, fragte Tiara besorgt. „Er hat die Karten vertauscht.“ „Wer?“ „Der Kerl, den ich verarztet habe.“ „Verdammt, Sel“, rief Alic und raufte sich die Haare. „Wartet mal, das heißt dann, dass er vom Mondstein weiß.“ „Und wie soll uns das weiterhelfen, Tiara?“, fragte Alic aufgebracht. „Ich mein ja nur, wenn wir ihn finden, können wir ihn über den Mondstein ausquetschen.“ Alic runzelte die Stirn. „Okay, und wo finden wir ihn?“ Selena fing an, an ihrer Unterlippe zu kauen. Das tat sie immer, wenn sie nachdachte. „Also, mir kam es so vor, als würde er im Wald leben. Daher, wäre es für ihn geschickt, in der Nähe des Baches zu leben“, dachte Selena laut. „Ergibt Sinn. Aber wir haben uns zu weit vom Bach entfernt.“ Tiara sah die anderen an. „Dann müssen wir eben zurück“, sagte Selena entschlossen. „Aber nicht mehr heute. Es dämmert bereits. Wir schlagen unser Lager hier auf. Killian, hilf mir mal.“ Alic machte sich an die Arbeit. Er packte das Zelt auseinander und baute es gemeinsam mit Killian auf. Währenddessen sammelten die Mädchen Feuerholz. „Du hättest ihm nicht helfen sollen“, bemerkte Tiara nach einer Weile. „Das hätte mein Gewissen nicht zugelassen“, murmelte Selena. „Du hättest ihn auch nicht erdolchen brauchen“, warf Thea ein. „Manchmal überdenke ich eben Sachen nicht.“ „Wenn das Alic erfährt, gibt es mächtig Ärger, das ist dir bewusst oder?“, fragte Tiara. „Für wen?“ „Für euch beide.“ „Bevor Alic mich zusammen staucht, mache ich erst den Kerl fertig, der mich zum Schluss doch noch beklaut hat“, zischte Selena. Zusammen liefen sie zurück zum Zelt und machten ein Haufen aus den Stöcken. Selena entfachte ein Feuer und sie setzten sich um das Feuer herum. „Ich kann nicht fassen, dass ich nicht bemerkt habe, dass er an meiner Tasche war“, murmelte Selena und gähnte. „Jetzt ist es sowieso zu spät“, sagte Alic. Killian holte aus einem Rucksack Sandwiches und reichte jedem eins. Sie bedankten sich bei ihm. Nachdem sie gegessen hatten gingen die Mädchen schlafen, während Alic und Killian abwechselnd Wache hielten. Doch Selena bekam kein Auge zu. Ihre Gedanken wanderten von ihren Eltern zu dem Mondstein und dann zu dem Dieb. Sie seufzte und stand dann doch auf und verließ das Zelt. Zu ihrer Überraschung, war es Alic der die erste Schicht übernommen hatte. „Was ist los?“, fragte er sie. Sie zuckte mit den Schultern und setzte sich neben ihn. „War es richtig von mir, das hier zu machen?“ „Du meinst die Suche nach dem Mondstein?“ Selena nickte und sah zu den Sternen. Ihr Blick wanderte zum Mond. Bald hatten sie Vollmond. „Erst war ich mir nicht sicher aber inzwischen spüre auch ich, dass dieser Mondstein sehr wichtig ist. Ich kann nur nicht zuordnen, wieso.“ „Und das macht dir Angst?“ Diesmal war es Alic der nickte. „Was ist, wenn all das schief läuft?“, fragte Selena und sah ihren Bruder an. „Dann biegen wir das wieder gemeinsam hin. Du weißt, dass ich immer an deiner Seite bin und daran wird sich niemals etwas ändern, Sel.“ Sie lächelte ihn an und legte ihren Kopf an seine Schulter. Er legte den rechten Arm um sie. „Ich hab dich lieb.“ „Ich dich auch, Sel.“ Sie grinste. „Wenn Mom uns so reden hören würde, würde sie glatt anfangen zu weinen.“ Er lachte leise auf. „Oh ja.“ „Glaubst du sie sind sehr sauer auf uns?“ „Sie werden es verstehen.“ Ganz überzeugend klang er nicht aber Selena sagte nichts mehr. Sie sah erneut zu den Sternen hoch. „Dort oben sieht alles so friedlich aus“, murmelte sie. Sie spürte, dass Alic nickte. „Sel, geh jetzt schlafen. Morgen wird ein langer Tag.“ „Okay.“ Sie stand auf, wandte sich aber wieder zu ihrem Bruder. „Hey Alic?“ „Ja?“ „Versprich mir, dass ich mir diesen Mistkerl zuerst vorknöpfen darf.“ Er grinste. „Versprochen.“ Sie lächelte und ging wieder in das Zelt. Diesmal fiel es ihr leichter einzuschlafen.