„Keine Sorge, er lebt.“ Sie hob den Blick und sah in die graugrünen Augen. „Danke“, brachte sie hervor. Er nickte bloß. Mit einer Hand wischte sie sich über das Gesicht und verschmierte etwas von Alics Blut auf ihrem Gesicht. „Warte mal.“ Er holte ein Tuch aus seiner Jackentasche und wischte damit über ihr Gesicht. „Danke“, sagte sie erneut und sah dann ihren Bruder an. Sie nahm das Tuch, welches er ihr hinhielt und wischte damit über Alics Gesicht. Sie hielt schwer die Tränen zurück. Als sie erneut hoch sah, fragte sie: „Kannst du mir bitte helfen?“ Das hätte sie niemals gefragt, wenn es nicht um ihren Bruder ginge. „Klar.“ Er stand auf und auch Selena rappelte sich auf. Sie versuchte nicht auf den Mann zu schauen, der tot auf dem Boden lag. Stattdessen starrte sie den Mann an, der sie erst beklaut, dann sie und ihren Bruder gerettet hatte. Er hob Alic vorsichtig auf und trug ihn. Er trug ihren Bruder. Der Typ war also stark. Kein Wunder auch, als sie sich an seine Muskeln erinnerte. „Wo lang?“, fragte er sie. „Hier lang.“ Sie lief voraus. Als sie an dem vereinbarten Treffpunkt ankamen, stieß Thea einen Schrei aus. Auch Tiaras Augen weiteten sich. Der Mann, der sie gerettet hatte, legte ihren Bruder vorsichtig hin. „Was um Himmels Willen ist passiert?“, fragte Thea und eilte zu Alic. Auch Tiara lief auf ihn zu. Selena hingegen sah, den Mann an. „Vielen Dank.“ Erneut traten ihr Tränen in die Augen. Schließlich konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und umarmte ihn. Er hatte keine Ahnung, wie er reagieren sollte, also klopfte er ihr sanft auf den Rücken. Eine Art von Trost, vermutete er. Tiara sah ihre Freundin an. „Sel, was ist passiert?“ Sie ließ ihn los und umarmte stattdessen Tiara. „Wir wurden von fünf Männern angegriffen. Der eine war kurz davor Alic vor meinen Augen zu…“ „Oh Gott.“ „Doch dann ist…“ Sie hielt inne und sah ihn fragend an. „Damian“, stellte er sich vor. „Dann ist Damian aufgetaucht und hat uns beiden das Leben gerettet.“ Anscheinend fühlte sich Damian, bei soviel Dank unwohl. Er wollte gehen aber Selena hielt ihn am Handgelenk fest. „Nicht so schnell. Ich will meine Karte zurück.“ Er sah zu Alic rüber. Dann schloss er kurz die Augen. Ihm wurde bewusst, wieso sie zurück gekommen waren. Wenn er die Karte nicht geklaut hätte, wäre das nicht passiert. „Also gut.“ Er holte aus seiner Jackentasche die Karte raus und reichte es Selena. Sie faltete es auseinander um nachzuschauen, ob es die Richtige war. Er konnte nach vollziehen, dass sie ihm nicht traute. „Ich hatte eigentlich vor, dich in Stücke zu zerreißen, aber da du meinem Bruder das Leben gerettet hast, verschone ich dich.“ „Sehr großzügig.“ Er wandte sich ab und ging ein paar Schritte, bevor er stehen blieb und sich noch einmal umdrehte. „Ein Rat von mir, diese Wälder sind nicht sicher. Vor allem bei Nacht nicht. Wenn ihr überleben wollt, bleibt in der Nähe, des Baches.“ „Warum?“, fragte Selena. Er runzelte die Stirn. „Ist das dein Ernst?“ Als sie schwieg sagte er: „Wegen den Dämonen, sie fürchten Wasser und Licht.“ „Es gibt seit Jahren keine Dämonen mehr.“ Er sah Selena an, als würde sie eine andere Sprache sprechen. „Wo um Himmels Willen hast du gelebt? Seit fünf Jahren gibt es Dämonenangriffe.“ Selena und die anderen starrten Damian an. „Ihr wusstet das alle nicht?“ Langsam dämmerte es Selena. Sie sah Tiara und Thea an. „Deswegen haben sich unsere Eltern immer getroffen. Deswegen durften Alic und ich nie mit. Verdammt sie haben es uns verschwiegen.“ Selena lachte auf und fügte hinzu: „Soviel zu Ehrlichkeit.“ „Ich kann nicht fassen, dass mein Vater mir das verschwiegen hat“, Thea schüttelte fassungslos den Kopf. „Was hat das mit euren Eltern…“ Erkenntnis breitete sich auf Damians Gesicht aus. „Ihr seid die Kinder von den vier Beschützern“, stellte er fest. „Okay, damit will ich überhaupt nichts zu tun haben.“ Er lief los. Selena eilte ihm hinterher und hielt ihn fest. „Warte, wieso willst du damit nichts zu tun haben?“ „Wieso?“, wiederholte er. Sie sah ihn fragend an. „Weil die Dämonen sich an euren Eltern rächen wollen. Und ihr seid leichte Beute. Mir ist mein Leben zu kostbar, also verschwinde ich.“ Er sah ihre Hand an. Sie ließ ihn los. „Du suchst den Mondstein. Hör damit auf und geh nachhause. Immerhin warst du da bis jetzt sicher.“ Er ging weiter und sie hinterher. „Dieser Mondstein, es kann die Dämonen vernichten, habe ich recht?“ Erneut blieb er stehen. Inzwischen hatten sie sich von den anderen entfernt, sodass sie nichts mitbekamen. „Ja.“ „Und wieso wolltest du es haben?“ „Weil ich somit mich selbst beschützen kann.“ „Nur dich?“ Sie runzelte die Stirn. „Mein Leben ist mir wichtiger, als wie die der anderen. Nenn mich egoistisch aber so ist das nun mal.“ „Warum gibst du mir dann die Karte zurück?“ Das verstand Selena nicht. Wenn er sich selbst beschützen wollte, wieso gab er ihr das Einzige zurück, was ihn beschützen konnte? „Weil ihr nur deswegen in Gefahr geraten seid. Ich will keine Menschen auf dem Gewissen haben. Zumindest keine Unschuldigen.“ Da war was dran. „Kannst du denn die Karte lesen?“, fragte sie schließlich. „Ja, warum?“ „Kannst du uns dorthin bringen? Zum Mondstein, meine ich.“ „Nein. Ich bin lieber für mich alleine.“ „Na gut. Zwingen kann ich dich nicht.“ Er wollte weiter gehen. „Damian?“ „Was denn?“, fragte er etwas gereizt. „Danke, dass du meinem Bruder das Leben gerettet hast. Dafür werde ich für immer in deiner Schuld stehen.“ „Du schuldest mir nichts, …“ Er hielt inne als ihm auffiel, dass er ihren Namen nicht kannte. Das Mädchen von vorhin, hatte sie mit Sel angesprochen, aber das war höchstwahrscheinlich ihr Spitzname. Sie lächelte. „Ich heiße Selena. Falls du es dir anders überlegst, du weißt ja, wo wir hinwollen.“ Sie kehrte um und lief los. Er starrte ihr nach. Selena. Selena. Er erinnerte sich an die Geschichte, die ihm seine Mutter erzählt hatte, als er noch ein kleines Kind gewesen war. Die Geschichte über die Mondgöttin, die einst den Mondstein bewacht hatte. Denn Selena bedeutete wunderschöne Mondgöttin. Wunderschön war sie auch. Sie hatte hellblaue Augen mit grünen Sprenkeln. Ein Grübchen an der rechten Backe, volle Lippen und weiche Gesichtszüge. Sie war viel kleiner als er und er fragte sich wie lang wohl ihre Haare waren. Sie trug sie zu einem Dutt, und dieser Dutt sah groß aus. Sie musste also lange Haare haben. Er schüttelte den Kopf und ging weiter. Kannst du mir bitte helfen. Niemand hatte je nach seiner Hilfe gebeten. Aber als sie ihn gefragt hatte, hatte er sofort, ohne zu überlegen, zugestimmt. Eigentlich hatte er sich überhaupt nicht einmischen wollen, aber als er gesehen hatte, dass der Mann ihren Bruder vor ihren Augen umbringen wollte, konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Er sah über seine Schulter zurück. Sie kniete inzwischen neben ihrem Bruder. Dann verschwand er zwischen den Bäumen.