Bis vor ein paar Tagen hatte ich noch ziemlich genaue Vorstellungen von meiner Zukunft. Ich wollte mein Abitur erfolgreich bestehen und danach meine Ausbildung als Tänzerin beginnen. Später wollte ich um die gesamte Welt reisen, um all die Schönheit fremder Länder und Kulturen, die mich schon von klein auf fasziniert hatten, mit eigenen Augen sehen zu können. In meinen Träumen habe ich in einem Café in Paris gesessen und den Eiffelturm betrachtet, die Freiheitsstatue bewundert und meinen Blick über die exotischen Pflanzen irgendwo inmitten eines Regenwalds schweifen lassen. Irgendwann wollte ich mich dann in einem wunderschönen weißen Brautkleid im Spiegel bewundern können und in die lachenden Gesichter meiner Kinder blicken.
Vielleicht war es auch deshalb so ein Schock gewesen. Hätte ich diese winzige Wahrscheinlichkeit und ihre Betroffenen nicht betrachtet wie eine andere Welt, völlig fernab von meiner, hätte mich das Schicksal vermutlich nicht so plötzlich getroffen. Hätte ich gewusst, dass ein Tag, der so unbedeutend angefangen hatte, mein Leben völlig verändern würde, wäre ich vielleicht vorbereitet gewesen.
Doch die Diagnose war über mich hereingebrochen wie einer dieser Hurrikans, über die so oft im Radio berichtet wird. Einer, der alles zerstört, Häuser verwüstet und Familien auseinander reißt.
Hätte ich es gewusst, dann hätte ich mein Haus gesichert, mich in einem Bunker verbarrikadiert und meine Bekannten gewarnt.
Doch das hatte ich nicht und die Zerstörung hatte einen Teil von mir mitgerissen und fortgetragen, in die ewigen Weiten des Universums.
Alles begann an einem Freitag. Es war einer dieser Tage, an denen das Wetter zeigte, dass der Sommer der Vergangenheit angehörte. Finstere Wolken ballten sich am Himmel zusammen und warfen einen dunklen Schatten auf die Straßen, als würden sie jeden Moment ihren Inhalt auf die Erde ergießen. Die Luft roch nach Gewitter und Menschen in grauen Anoraks flüchteten wie Ameisen in ihre Häuser. Vor allem erinnere ich mich an den Regen, der kurze Zeit später auf die Stadt hinabprasselte. Große, schwere Tropfen, die meine Haare benetzten und sich wie kleine, kühle Perlen auf meine Haut legten. Glücklich und unbeschwert wie ich zu diesem Zeitpunkt noch war, streckte ich mein Gesicht gen Himmel, um den Regen zu begrüßen. Ich ahnte nicht, was mich erwarten würde.
Kurze Zeit später betrat ich, gefolgt von meiner Mutter, die Arztpraxis des einzigen Augenarztes von Haywood, die sich in einem kleinen, unscheinbaren Haus am Ende der Straße befand, mit hohen Fenstern und gepflegtem Vorgarten. Ich war hier erst einmal gewesen, als ich noch sieben Jahre alt war und meine Mutter begleiten wollte. Schon damals konnte ich den Ort nicht ausstehen. Der allgegenwärtige Geruch nach Desinfektionsmittel stach einem schon beim Öffnen der Tür unangenehm in die Nase und trotzdem konnte er das Gefühl von Krankheit, das bei allen mir bekannten Ärzten allgegenwärtig schien, nie ganz vertreiben. Weiße, kahle Wände ließen die Räume leer und abweisend wirken. Die hellen Töne stachen unangenehm in meine Augen und die genervten Blicke der wartenden Patienten brannten sich in meinen Rücken. Seufzend ließ ich meinen Blick über die höfliche Frau am Tresen, die uns über ihre große, rote Brille hinweg lächelnd ansah und das auffällige Plakat über den Aufbau des menschlichen Auges an der Wand schweifen, das einen förmlichen zwang, den Blick darauf zu lenken.
»Ginger Coley?«, hörte ich die vornehme Stimme der Arzthelferin, die sich professionell die rote Brille zurechtrückte, während sie meine Krankenkassenkarte einscannte. Fasziniert betrachtete ich die dicken, kirschroten Ränder und die riesigen Gläser, hinter der ihre Augen wie die eines Fisches wirkten. Ich fragte mich, wer solche Gestelle wohl verkaufte, oder viel eher, wer sie denn kaufte. Aber vielleicht wollte die Sekretärin einfach ein bisschen Farbe in die langweilige Praxis bringen, überlegte ich und sofort schien mir die Frau viel sympathischer. Bei meinem nächsten Besuch würde ich ein quietschbuntes T-Shirt tragen, aus Loyalität.
Als ich ihren wartenden Blick bemerkte, nickte ich schnell und sah zu meiner Mutter hinüber, die sich schon ins Wartezimmer gesetzt hatte, wo sie interessiert in einer Fachzeitschrift blätterte. Zwischen ihren Augen hatte sich eine konzentrierte Falte gebildet und ihre strengen Gesichtszüge wollten so gar nicht zu dem lockeren Kleid passen, das sie trug. Ihre langen roten Haare, die sie mir vererbt hatte, waren in einem Dutt nach oben gesteckt und auf ihrer Nase thronte eine große runde Brille, die meiner Meinung nach perfekt zu ihrem Beruf passte. Grace Coley war Lehrerin und hielt sehr viel von einer guten Bildung, was sie auch nie vergaß zu betonen. Sie liebte es, neues zu lernen und es meiner kleinen Schwester Chloe und mir begeistert zu erklären.
»Du hast starke Schwierigkeiten beim Sehen im Dunkeln?«, riss mich die Stimme der Arzthelferinnen aus meinen Gedanken und ich blinzelte.
Schnell nickte ich und spürte sofort die schmerzende Stelle am Knie, die sich bei meiner Erinnerung an die letzte Nacht bemerkbar machte. Obwohl es noch nicht vollkommen dunkel gewesen war, hatte ich letzte Nacht kaum etwas erkennen können und war ziemlich unglücklich gestürzt. Solche Missgeschicke passierten mir öfter, ich konnte die unzähligen Male, an denen ich mir die Zehen an der Bettkante oder die Schulter im Türrahmen gestoßen hatte kaum noch zählen. Vermutlich hätte ich dem Vorfall auch keine große Bedeutung geschenkt, wenn meine Mutter nicht darauf bestanden hätte, meine Augen untersuchen zu lassen. Im Bezug auf Krankheiten war sie sehr paranoid und selbst die Tatsache, dass ich nachts etwas schlechter als der Durchschnitt sah, bereitete ihr Sorgen.
Kurz darauf saß ich im Wartezimmer zwischen einer jungen Frau, die gebannt an die Wand starrte und meiner Mutter, die mir mit gedämpfter Stimme fasziniert einen Artikel über irgendeine Krankheit mit unaussprechbarem Namen vorlas, den ich ein paar Sekunden später schon wieder vergessen hatte. Die Frau neben mir starrte uns unverholen an, als wäre es ein Verbrechen, die heilige Stille des Wartezimmers zu durchbrechen.
Währenddessen fischte ich mein Handy aus der Tasche und checkte den Empfang. Nicht einmal freies Wlan gab es hier! Seufzend wühlte ich in meiner Hosentasche nach der Packung Erdbeerkaugummis und begann gelangweilt vor mich hinzukauen. Das hatte ich nun davon, hätte ich meinen Sturz doch bloß verschwiegen. In der Zeit, die ich hier mit warten vergeudete, hätte ich auch in die Tanzschule zum Training fahren können. Vermutlich vermissten sie mich dort, ich hatte schon zwei der täglichen Treffen verpasst.
Meine Augen wurden schwer und das laute Ticken der Wanduhr über mir hallte in meinem Kopf wieder. Um nicht einzuschlafen, versuchte ich möglichst große Kaugummiblasen zu machen.
»Ginger, kannst du dich noch an diesen Artikel erinnern, den ich dir letzten Monat gezeigt habe? Der ganze Kaugummi ist echt nicht gut für deine Zähne!«, fing meine Mutter wieder zu sprechen an und prompt wurden wir von allen Seiten angestarrt. Anscheinend schien es ein ungeschriebenes Gesetz, dass man im Wartezimmer leise sein musste.
»Fördert die Konzentration«, antwortete ich und ließ eine Blase platzen.
»Und den Karies.« Meine Mutter verdehte die Augen, lächelte aber dabei.
Als wir eine gute Stunde später endlich aufgerufen wurden, war ich einfach nur erleichtert, bald von hier weg zu kommen. Damals hatte ich noch keine Ahnung gehabt, was mich erwarten würde. Doch das Schicksal war tückisch, es schlug immer in den Momenten zu, in denen man es am wenigsten erwartete und so kam es, dass mein Leben genau in diesem, eigentlich unbedeutenden Moment, eine große Wende einlegen würde.
Der Arzt war ein freundlich lächelnder Mann mit müden Augen und grauen Haaren, der wirkte, als würde er seinen Job schon seit Ewigkeiten verfolgen.
Sein markantes, faltiges Gesicht ist eines der wenigen Dinge, an die ich mich noch erinnern kann, nachdem ich das Behandlungszimmer betreten habe. Ein weiteres sind seine Worte. Sie haben sich unwiderruflich in mein Gedächtnis gebrannt und hallen noch heute wie ein Echo durch meinen Kopf. Ich erinnere mich an die kalte Liege, in die ich meine Hände gekrallt habe und das schreckliche Gefühl in meiner Brust, das alles andere zu verdrängen schien. An den lauernden Moment der Ungläubigkeit kurz vor der Erkenntnis.
Es fühlte sich an, als würden alle Träume, Wünsche und Gedanken wie Glas zersplittern und sich als scharfe Scherben in mein Herz rammen, immer und immer wieder. Ich weiß noch, wie ich aus dem Zimmer stolperte und wie blind vor Tränen durch die verhassten Zimmer rannte, bis ich endlich den Ausgang der Praxis fand.
Draußen regnete es in Strömen und Blitze zuckten über den Himmel. Ein paar Minuten stand ich einfach nur da, bis die schweren Tropfen mein Haar durchnässt hatten. Die Kälte nahm ich nicht wahr, alles was ich spürte war dieser schreckliche Schmerz, der Schock, der einfach nicht nachlassen wollte.
Und dann fing ich an zu weinen. Ich weinte so lange, bis mein Kopf schmerzte und meine Augen brannten. Die Tränen vermischten sich mit dem Regen und rannen meine Wangen hinunter, tropften auf den Boden und verschwanden in den grauen Pfützen. Es war eigenartig, doch es fühlte sich so an, als könnte der Regen mich verstehen, als würden die Wolken mit mir weinen. Und trotz des Schmerzes fühlte ich mich auf eine seltsame Art und Weise geborgen.
»Ginger, du schaffst das. Bitte hör auf zu weinen. Ginger!«, drangen die verzweifelten Worte meiner Mutter an mein Ohr.
Ihre Stimme war belegt und ich konnte deutlich die unvergossenen Tränen aus ihr heraushören. Ich weiß noch, wie ich sie angeschrien habe, sie solle verschwinden, doch meine Wut verrauchte so schnell wieder, wie sie gekommen war. In mir tobte ein Sturm aus Gefühlen, Ängsten und Schmerz, als ich schließlich zusammenbrach und auf den dunklen Asphalt fiel, der sich wie eine Schlucht unter mir auftat. Das letzte, was ich spürte, bevor mich die Dunkelheit mit offenen Armen in Empfang nahm, war der Regen, dessen Tränen sich wie ein Schleier über mich legten.
Ich würde erblinden.
Und das war der Augenblick, in dem sich alles änderte, der Augenblick, in dem meine Geschichte beginnt. Ob sie gut oder schlecht war, kann ich zum heutigen Zeitpunkt nicht sagen, doch eins war sie auf jeden Fall: der Beginn von etwas Neuem.