Geburt
Also, eigentlich hab ich mich ganz wohl gefühlt, glaube ich. Schließlich war es wohlig warm, es schwappte ein wenig zugegeben, aber es war aushaltbar. Dämmerlicht, ich lag weich, es gab genug Nahrung und ich war nicht allein! Richtig ausstrecken ging zwar nicht und die Füße des anderen im Gesicht, waren irgendwann dann doch zu viel.
Meine Mutter und somit auch ich, war zu diesem Zeitpunkt in Wilhelmshagen, einer wunderbaren Enklave am östlichen Stadtrand von Berlin, im Hause welches von meinen Großeltern bewohnt wurde. Aprilwetter, alle Jahreszeiten in einer viertel Stunde! Die Luft war frühlingshaft frisch, geschwängert von Blütenduft der umliegenden Vorgärten und von den in Teer getränkten Eisenbahnschwellen der nahen Berliner S-Bahn. In den angrenzenden Püttbergen waren die ersten Sommerfrischler unterwegs. Der Geruch von Kiefern und Sand, ist dem der Ostseedünen zum verwechseln ähnlich.
Die Zeichen standen auf Veränderung. Alles wuchs und gedieh und so wollte auch ich nicht abseits stehen. Auf ein unmerkliches geheimnisvolles Signal hin, machte ich mich mit der Unterstützung meines Bruders auf den Weg, den Weg in die Welt!
Das das meiner Mutter sehr weh tat, konnte ich nicht verhindern und so wurde ein Barkas der Schnellen Medizinischen Hilfe gerufen, immerhin per hauseigenem Fernsprecher.
Der gelb-rote Barkas mit Milchglasscheiben, Rundumleuchten und allem Pipapo kam auch prompt, Staus gab es damals noch nicht flächendeckend. Auf zum Krankenhaus am Rande der Stadt. Erstaunlich, für mich auch heute noch, dass die normalste und freudigste Sache der Welt, in Krankenhäusern stattfinden soll. Sei´s drum, in Köpenick war alles voll und so ging die Fuhre nach Norden, nach Kaulsdorf. Wald- und Wiesenkrankenhaus, aber eine Sache die sowieso stattfindet, werden sie wohl begleiten können, so die allgemeine Hoffnung. Der Andere, der mein Leben in den letzten neun Monaten im Bauch zunehmend eingeengt hatte, sollte zu erst gehen, rutschen oder weiß der Kuckuck was, auf jeden Fall raus. Und spätestens jetzt drängt sich jedem Leser sicherlich das Bild der christlichen Seefahrt auf, dass der Kapitän zu letzt das (Mutter)Schiff verlässt. Nun gut, gegen dieses Bild wehre ich mich nicht! Ich verschone hier alle mit Einzelheiten. Erstens wäre das nicht gerade appetitlich und zweitens hat jeder Leser dieses Erlebnis selbst einmal gehabt. Da ich schon immer ein, sagen wir mal Mann der Tat war, ging die Sache auch verhältnismäßig gesittet ab. Schließlich haben alle beteiligten überlebt, auch dank meines beherztem und nicht uneigennützigem Zutuns. Dann endlich draußen, war das alles anders als ich mir das vorgestellt hatte. Keine Romantik, überall dieser Lärm, viel zu viel Licht, viel zu wenig Wärme. Alles war plötzlich neu und anstrengend. So anstrengend, dass ich mir noch ein paar Tage unter der wärmenden elektrischen Sonne in der Frühchenstation gönnte. Mann kann nicht früh genug anfangen, Urlaub zu machen! Vielleicht wurde dort meine Abneigung gegen Pauschalurlaub mit Vollpension geprägt. Das Animationsprogramm war nicht alles so, dass man es mit fünf Sternen bewertet hätte. Zwar kamen pünktlich die Frauen die sich um meine Nahrung kümmerten und auch dafür sorgten, dass Untenrum alles bedarfsgerecht erledigt wurde. Aber die waren für mich ja mindestens zwanzig Jahre zu alt, taten ihre Taten für Geld und hatten nicht ausreichend Zeit für ausgiebige Gespräche über Dies und Das. Weil man ja nicht immer auf der faulen Haut liegen kann und die Personalien auf der Station nicht unbedingt meinen Präferenzen entsprachen, ging es nach einigen Tagen auch für mich nach Hause, wo und was immer das auch sein sollte. Das war dann erst mal nicht so einfach. Zum Glück kannte ich ja schon einen in der neuen Realwelt. Alle anderen beguckten mich tätschelten und zerrten an mir, so dass ich am liebsten zurück wollte in den Bauch. Der Wunsch wurde mir verwehrt und so gewöhnte ich mich an den alltäglichen Wahnsinn. Mein Bruder schlief und soff, wie auch heute noch, in mir nicht bekannten Umfang. So musste ich das, wie auch heute noch, alles allein machen. Welterkunden, lieb sein, trinken, essen, Stuhlgang. Ich war wesentlich früher am rumlaufen und plappern, als der Ältere (halbe Stunde)! Ob Fluch oder Seegen, wenn man immer einen Gleichaltriegen auf der Pelle hat, der auch noch aus dem gleichen Stall kommt, wird man immer verglichen. Das ist manchmal schön und manchmal schrecklich aber immer eigentlich entbehrlich. Denn als Mensch und auch Kinder sind Menschen, manchmal zumindest, hat man nun mal unterschiedliche Talente und Entwicklungsetappen. Aber, weil das das Leben mit Babies hochemotional ist, setzt das Gehirn schon mal auch länger und dauerhafter aus, als man landläufig bei Erwachsenen sonstig erwarten würde. Meine Lieblingsschwester stellte sich vor. Erzählte irgend ein Witz den ich nicht verstand, das ist heute meistens auch noch so! Wahrscheinlich kann ich da sechseinhalbjahre später drüber lachen, wenn ich dann so alt bin, wie sie gewesen ist als sie mir den Witz erzählt hatte. Puh, das war jetzt schwer. Oder ich kann nie darüber lachen, weil sie ein Mädchen ist und das bis an ihr Lebensende auch so bleiben wird, was ich immer noch nicht blöd finde! Dann kommt mein großer Bruder und schaut au mich herab. In den ersten Jahren war das mein Sodabruder. Der war nur so da. Hatte nicht wirklich mit mir etwas mehr als den Familiennamen gemein. Das hat sich im laufe der postpubertären Jahre dann aber geändert. Jetzt ist das Verhältnis auch nicht eng, aber offen und sehr angenehm, wer hätte das gedacht? Meine Eltern und Großeltern gaben sich alle Mühe uns Kinder hochzupäppeln. Die Jungs waren und blieben bis in die Erwachsenenjahre alle dünn in allen Schattierungen und bei der Schwester war es natürlich anders!