Anfang Zwanzig, alles im allen, eine fabulöse Zeit. Ungetrübte gelebte Hoffnung. Männchen in diesem Alter leiden perse an Größenwahn, Selbstüberschätzung und Selbstdarstellungszwang. Im selben Maß, sind sie nun eine Gefahr für die Gesellschaft. Statistisch ist diese Gruppe am häufigsten kriminell, verursacht die meisten Unfälle im Straßenverkehr und macht all das, was man mit fünfzig nicht mehr tut. Die Gesellschaft strahlt dann auf sie zurück und erzieht sie, im Normalfall! Als ich so alt war, gab es keine gewachsene Gesellschaft. Es gab Chaos, jeden Tag. Bei mir lag die Pubertät in den Endzügen, die Menschwerdung war weit fortgeschritten aber im Vereinten Deutschland grassierte die Pubertät all umfänglich und in vollen Zügen! Ich war Anfang zwanzig und die Naht, manche sagen auch Wunde, der Vereinigung die mitten durch Berlin ging, war grade 2 Jahre alt. Alles musste sich täglich neu finden und vieles gänzlich neu erfunden werden. Alles was heute richtig erschien, konnte morgen absolut falsch und im echten Wortsinn „von Gestern“ sein. Da das mit dem lernen bei mir noch nicht so lange her war und viele meiner Bekannten mich als neugierig bezeichnen, war der Umstand täglich Neuland zu betreten (auch örtlich), wie gemacht für mich. Wie ein Schwamm nahm ich neue Eindrücke und Erfahrung in mich auf. Es war extrem bereichernd von der „Schule des täglichem Wahnsinn“ immer neue Dinge vorgeführt zu bekommen. Ich dachte, wenn der Alltag so aussieht, dass man permanent neue tolle Dinge lernt, fantastische Möglichkeiten einfach wahrnimmt und selbst Teil dieser sensationellen Entwicklungen ist, kann es gar nicht langweilig werden. Ängste und Sorgen von Teilen der Bevölkerung in Ost oder West die immer noch meckerten, konnte ich nicht nachvollziehen. Sicher wären diese Menschen auch im Paradies unzufrieden, weil es viel zu schön ist. Zu verlieren hatte ich nichts, zu gewinnen gab es aber auch nichts, soweit war ich schon desillusioniert. Man konnte und musste sich alles erarbeiten und dazu war ich im privaten und beruflichem Bereichen vollkommen bereit. Da für das Haus in der meine Wohnung im P-Berg lag, Rückübertragungsansprüche (schönes deutsches Wortmonster) gestellt wurden, hörte zeitgleich eine vernünftige Verwaltung auf. Defekte Glühlampen und Türklinken wurden nicht mehr ersetzt, der Müll nur noch sporadisch abgeholt und gegen die dann folgenden Ratten wurde nicht wirklich etwas unternommen. Da musste ich weg!Also Anfang der Neunziger in Berlin eine neue Wohnung suchen, ein Kinderspiel! Eine Woche dauerte da bei mir. Vitamin B, war hilfreich und ich war auch wirklich nicht anspruchsvoll, was Lage und Ausstattung betraf. Hinterhof, vier Treppen, Ofenheizung, deutsche Verwahrlosung mit mehren Rotweilern, einen Hausmeister-Motorradclub und allgemeiner Migrationsmehrheit hatten einen völlig neuen Beigeschmack. Was sich mit dem Umzug zum besseren änderte, war die Versorgung mit einem Telefon. Im P-Berg hingen ab und an öffentliche Fernsprecher ohne jegliche Abschirmung an den Hauswänden. Das Geile daran war, dass natürlich jeder zweite defekt war und sich an den anderen sich Schlangen bildeten. Privatsphäre war nicht gewährleistet und vom Betreiber der technischen Anlagen wohl ursprünglich auch nicht gewünscht. War man dann endlich an der Reihe, so konnte man sich darauf verlassen, dass genau in diesem Moment, der Besitzer des Trabants am Straßenrand irgendetwas am Motor prüfen und reparieren musste und dadurch eine ungestörte Unterhaltung über die ohnehin knarchende Leitung unmöglich war. Im Wedding nun, erhielt ich sage und schreibe, zwei Tage nach der Beantragung meinen ersten privaten Telefonanschluss und was den unbegrenzten Fortschrittsglaube entfachte, ein Faxgerät wurde auch gleich angeschlossen. Verrückte Zeiten.
Beruflich hatten wir viel zu tun. Nicht immer wurden wir für unseren Job angemessen und manchmal gar nicht bezahlt. Marktwirtschaft der untersten Schublade. Dabei war mir das Wurst ob der Auftraggeber nur zu dämlich war, alles zu kalkulieren und deswegen kein Geld hatte, oder sich schlichtweg betrügerisch an uns Vergangen hat. Das Ergebnis war das gleiche, kein Einkommen! Mit viel Fleiß und Glück überstanden wir viele Durststrecken. Dagegen konnte ich auch im privaten einiges tun. Mit einem Freund, der um die Ecke wohnte, unternahmen wir Feldstudien der örtlichen Gastwirtschaften. Berliner Eckkneipentour, jede Woche eine andere. Und Eine schlimmer als die Andere. Das Bier war Schultheiss oder Engelhardt, oft nicht kalt und ohne Blume. Das waren schon die guten Fakten über diese Etablissements. Dass die Luft aus zum schneiden dicke Rauchwolken bestand, die ehemalig weißen Gardinen nun fast braun und löchrig waren, die Kunstlederpolster speckig und ausgesessen, der Tresen klebrig und die Bedienung dreimal so alt war und nur halb so viele Zähne wie wir hatte, waren die schlechten Fakten. Niemals hätte ich auf die Idee kommen können, hier etwas essen zu wollen. Das Publikum passte sich in Durchschnittsalter und Erscheinung hervorragen an die örtlichen Gegebenheiten an. Gestört wurde das harmonische Bild lediglich von einigen Jugendlichen in Adiletten, Ballonseidetrainingshosen und Feinrippunterhemden aus nicht näher bestimmbaren Balkanrepubliken, sowie durch Eindringlinge wie wir sie waren.
So als junger Erwachsener ist man oft auch Ziel mafiöser Strukturen. So verging keine Woche, ohne das ich zum Abschluss einer Lebensversicherung, eines Bausparvertrages oder eine Private Krankenversicherung genötigt wurde. Die fliederfarbenen Vertreter der Branche waren schmierig und ignorant. Angesteckt von der Goldgräberstimmung der Wiedervereinigung versauten sie mir nachhaltig auf alle Tage den Respekt vor Handelsvertretern aller Art.
Dann bekam ich Post vom Wehrkreisersatzamt, -komando, ich weiß nicht mehr sicher wie das hieß. Um die eine Armee bin ich durch taktieren und verzögern herum gekommen, jetzt wollten sie mich für die andere. Hätten die gewusst, was ich für ein demilitarisierender Mensch war, hätten sie auf diesen Versuch mich zu den Waffen zu rufen, verzichtet. Mit Hilfe einer Beratungsstelle gegen Zwangsdienste…, gelang es mir, mich erfolgreich dem regulären Zugriff der Bundeswehr legal zu entziehen. Wäre ja auch noch bekloppter, mich in eine Armee wegsperren zu lassen, der der Feind durch Auflösung der Sowjetunion abhanden gekommen ist. Da wäre auch schon wieder das W-A-R-U-M Problem bei mir gewesen. Legal vor den Auswirkungen unangenehmer Gesetze drücken, wenn man sich rechtzeitig kümmert! Rechtsstaat-Lektion gelehnt Georg , bravo!