- Nach Sonnenuntergang heute im Schnarchenden Keiler. -
Ich ließ die krakelige Notiz in meiner Gürteltasche verschwinden und trat auf die Straße hinaus. Um mich herum breitete sich das Papierviertel aus, welches seinen Namen durch das gigantische Bibliotheksgebäude in meinem Rücken bekommen hatte. Renovierungsbedürftig wie es aussah, hatte die darin verwahrte große Sammlung alter Texte über die Jahre hinweg viele wissbegierige Menschen angelockt, die bei dämmrigen Licht in dicken Büchern blätterten.
Ich war einer von Ihnen. Seit meiner Geburt in einer der wohlhabenderen Familien der Grafschaft war meine Neugier unzähmbar gewesen und nun verweilte ich bereits drei Jahre im Schatten des alten Baus; bereut habe ich es nie. Während ich die von Fachwerkhäusern gesäumte Straße hinabschlenderte, grübelte ich darüber nach was mein Studienkollege Alphons wohl entdeckt hatte.
Die Notiz trug unverkennbar seine Handschrift, zumal niemand, den ich sonst kannte, quer über eine Verleihkarte geschrieben hätte. In Gedanken vertieft lenkten mich meine Schritte zielstrebig zum schnarchenden Keiler, einer bodenständigen Kneipe, wo sich mehrmals die Woche ein Großteil der Wissenssucher einfand. Erst Alphons' Gebrüll und der Geruch von schalem Bier weckten mich aus meiner Grübelei. „Hier drüben!“ Mein Kollege winkte mich freudestrahlend zu sich herüber: „Du wirst nicht glauben, was ich heute gefunden habe!“
Er klopfte auf einen Gegenstand, den er unter der Tischplatte vor neugierigen Blicken verbarg. „Ich sage es dir, mein werter Kollege, endlich hat sich meine Mühe bezahlt gemacht.“
Mit vor Stolz geschwellter Brust legte er ein dünnes, unscheinbares Büchlein zwischen uns auf den Tisch.
„Wundersame Wesenheiten der Vergangenheit. Verfasst von Joldar dem Zweiten“, las ich den Titel leise vor und mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Von einem Augenblick auf den nächsten blendete ich die gemütliche Atmosphäre, die in der Schankstube herrschte, komplett aus.
„Wo hast du das her?“, flüsterte ich Alphons zu, der immer noch grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Aus der siebten Kellerebene der Bibliothek, hätte es unter einem Berg verstaubter Pergamentrollen beinahe übersehen.“ Ich blickte Alphons unschlüssig entgegen, nicht in der Lage einen konkreten Satz zu formulieren.
>Wenn es sich bei dem Büchlein wirklich um vergessene Aufzeichnungen von Joldar dem Zweiten handelt, begehen wir hier gerade Hochverrat<, schoss es mir durch den Kopf. Seinerzeit hatte der heute berüchtigte Schreiber und Abenteurer nämlich maßgeblich zur Invasion durch die Fürsten der Eiswüste beigetragen, was fast das Ende der Menschheit herbeigeführt hätte. Heutzutage galten seine Notizen und Bücher offiziell als vernichtet und nur in einem Ammenmärchen durfte noch straffrei von ihm gesprochen werden, so dass er im Laufe der Zeit mehr und mehr zu einem Schreckgespenst verkommen war.
„Dir ist bewusst, dass du uns beiden damit effektiv den Strick um den Hals gelegt hast“, fragte ich ihn. Doch Alphons winkte ab: „Nun sei doch nicht gleich so pessimistisch. Schau dich um, niemand hier interessiert sich für uns. Aber wenn du nicht wissen willst, ob die ganzen Geschichten über den alten Kauz wahr sind, dann mach ich das alleine.“ Er erhob sich und steckte das Buch wieder ein, im Gehen klopfte er mir noch auf die Schulter, wobei er leichthin meinte: „Wenn du es dir anders überlegen solltest, ich bin morgen Abend zur gleichen Zeit am alten Mausoleum.“
Damit ließ er mich mit meinen sich überschlagenden Gedanken alleine, wenig später trat auch ich den Heimweg an. Ich hatte keinen Blick für die vielen Leute, die zu so später Stunde noch auf der Straße an verschiedensten Dingen werkelten, ebenso wenig nahm ich die vielen kleinen Lampen auf den Fenstersimsen wahr. Alphons' Entdeckung hatte mich aufgewühlt, so dass ich noch lange wach in meiner Kammer lag und erst viel später in einen unruhigen Schlaf fiel.
Am nächsten Morgen weckte mich vielstimmiges Geschnatter und das Trampeln aberhunderter Füße unsanft aus dem Schlaf. Mit noch halb geschlossenen Augen schlurfte ich zum Fenster und zog die Vorhänge zur Seite. Grell machte mich der Sonnenschein darauf aufmerksam, dass bereits früher Nachmittag herrschte. Ich riskierte einen Blick hinab auf die Straße und mich traf der Schlag.
Menschenmassen wuselten zwischen kleinen Holzbuden umher, an denen bergeweise Obst, Gemüse und andere Erträge der umliegenden Dörfer zum Verkauf angeboten wurden.An der nächsten Kreuzung hatte jemand einen behelfsmäßigen Altar errichtet, wo die Leute ihren Göttern für die reiche Ernte dankten.
>Das Herbstfest<, dachte ich: >Wie schnell ein Jahr doch vorübergeht.< Schnell schlüpfte ich aus meinem Nachtgewand in etwas geeignetere Kleidung und hängte noch ein kleine Lampe aus dem Fenster, die mit einem freundlich blickenden Gesicht verziert worden war. Bis ich mich jedoch selbst unter die Festbesucher mischte, war die Sonne bereits fast hinter den hohen Häusergiebeln verschwunden, als wäre sie von meiner Anwesenheit verärgert.
Auch die Menschenmenge hatte sich gelichtet, die gemütlich-heitere Stimmung, welche die vielen Menschen mitgebracht hatten, war jedoch geblieben. Direkt neben meiner Haustüre stand eine kleine Familie und die Kinder betrachteten verträumt die gegenüberliegende Häuserfront.
Im Vorbeigehen hörte ich, wie die Kleinste fragte: „Mama, warum steht hier in jedem Fenster so eine lustige Laterne?“ Die Antwort ihrer Mutter verging im schallenden Gelächter einer Traube älterer Herren, deren Geruch unmissverständlich über die getrunkene Weinmenge Aufschluss gab. Die gute Laune auf den Straßen war äußerst ansteckend, wie ich bald bemerkte und so beschloss ich entgegen der Stimme in meinem Kopf, Alphons aufzusuchen.
Je näher ich dem alten Mausoleum aber kam, desto weniger Leute zeigten sich draußen. >Wer möchte auch an einem Festtag bei den Toten verweilen?<, versuchte mich die Vernunft ein letztes Mal zur Umkehr zu bewegen. Die Herbstsonne hatte unterdessen auch ihre letzte Strahlkraft verloren, sodass ich in nächtlicher Dunkelheit vor dem klobigen Sandsteinbau zum Stehen kam, das Eingangsportal war geschlossen.
„Alphons?“ Ich erhielt keine Antwort. Vorsichtig näherte ich mich dem Portal und versuchte, die schweren Flügel aus Eichenholz zu bewegen. Laut knarzend gelang es mir, und aus dem Innenraum schlug mir abgestandene Luft entgegen. Im Schein der Straßenlaternen hinter mir meinte ich, einen Schemen an der Rückwand zu erkennen.
Tatsächlich war ich nicht allein, denn wenig später knallten die Sohlen eines weiteren Stiefelpaars in unregelmäßigen Abständen auf die kalten Steinfliesen.
„Alphons“, fragte ich erneut, mein Blick wanderte angestrengt suchend durch den dunklen Raum.
„Ah, schön dich zu sehen. Ich hätte fast geglaubt, dass du deine Neugier bezwungen hättest“, hallte seine Stimme von den Wänden wider. „Als ob“, antwortete ich bestimmt: „Was soll die ganze Heimlichtuerei denn nun?“
„Das wirst du gleich sehen, doch zuerst müssen wir hinab zu den Toten.“ Aus dem Schatten einer grob zurecht gehauenen Säule trat mein Kollege, seine Gewänder hatten bereits die enge Bekanntschaft mit Staub und Spinnweben gemacht; seine linke Hand umklammerte das kleine Büchlein.
„Du willst ein Grab aufbrechen?“ Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter, doch Alphons strahlte regelrecht: „Aber mein werter Kollege, doch nicht irgendein Grab. Die letzte Ruhestätte der Nachtschwingen. Komm mit, ich bin schon fast fertig.“ Die Erwiderung blieb mir im Hals stecken. Alphons wollte tatsächlich die letzte Ruhestätte der sagenumwobenen Leibgarde der 1. Herzogin entweihen. „Nun komm schon, du steckst ohnehin bereits mit drin.“
Mein Kollege stand bereits am Treppenabsatz, der hinab in die alte Krypta führte, und feixte: „Was wäre denn besser, als die Geschichte Joldar des II. von denjenigen zu hören, die ihn damals zur Strecke gebracht haben sollen?“
Seufzend folgte ich ihm die verstaubten Stufen hinab, in unregelmäßigen Abständen spendeten glimmende Holzscheite spärliches Licht.
„So, wir sind da“, sagte Alphons unvermittelt. Vor uns lagen ein halbes Dutzend steinerne Särge, deren Deckel bereits achtlos zur Seite geschoben waren. Mein Kollege blätterte scheinbar willkürlich in dem kleinen Büchlein herum, bis er die richtige Stelle gefunden zu haben schien. Ich bemerkte, dass er schwitzte und seine Augen grünlich schimmerten, sobald er die Stimme hob: „Oh Geister vergangener Tage, erhört meinen Ruf! Eure Geschichten sollt ihr mit mir teilen, und jeder Fleischeslust entsagen. Geister vergangener Tage erhebt euch und erfüllt meinen Wunsch!“
Stille. Gebannt hielt ich den Atem an, doch nichts geschah. Alphons blätterte weiter, immer hektischer, bis er schließlich das Buch wütend in den Staub zu seinen Füßen warf. „Verdammt!“
Ich wagte noch immer nicht meine Stimme zu heben; doch auf einmal bewegte sich etwas in den Särgen. Knarrend und knirschend richteten sich die verblichenen Gebeine mit ungelenken Bewegungen auf. „Äh, Alphons...“, zaghaft tippte ich ihm auf die Schulter, da er gerade wutentbrannt Löcher in die gegenüberliegende Wand starrte. „WAS?!“
Mein Kollege fuhr herum und realisierte binnen weniger Augenblicke die Situation, doch sein anfängliches Grinsen wich bald ernsthafter Sorge. „Wo ist denn nur die Bindungsformel“, murmelte er wie in Trance, sobald er das Büchlein wieder aufgeklaubt hatte. Unterdessen erhoben sich die Leichname in Paraderüstung vollends aus ihrem kalten Bett. „Verflucht noch eins, ich finde sie nicht...“, stammelte er wie im Wahn, konnte seinen Blick aber nicht von den Seiten trennen.
„Alphons, wir sollten gehen.“ Mittlerweile standen drei der Untoten aufrecht und der Gestank, der von ihnen ausging brachte mich zum Würgen. Mein Kollege jedoch zeigte keine Reaktion. „Mach was du für richtig hältst, ich gehe“, rief ich ihm zu, sobald ich die Treppe wieder erreicht hatte, doch statt einer Antwort ertönte das Geräusch von reißenden Gliedmaßen. Mit der Angst im Nacken flog ich die Stufen geradezu hinauf, das knarren der modrigen Knochen verfolgte mich noch bis zum Ausgang des Mausoleums. Mit hämmerndem Herzen sank ich an der Sandsteinwand herab, in der Ferne leuchteten nach wie vor die Lichter des Erntefestes.
>So unschuldig, die armen Leute wissen gar nicht, was ihr zwei heraufbeschworen habt
>Du kannst mir nicht mehr entkommen<, verspottete mich die Stimme unentwegt. Obwohl ich wusste, dass der Weg vom Mausoleum zu meiner Wohnung nicht einmal 1000 Schritt betrug, kam mir die Straße geradezu endlos vor. >Du bist zäh, das muss ich dir lassen. Vielleicht hast du doch noch einen Nutzen für mich<
Allein durch pure Willenskraft hatte ich es zurück zur Hauptstraße des Viertels geschafft, doch hier verließen mich meine Kraftreserven zusehends. „Hilfe“, presste ich zwischen meinen vor Schmerz verzogenen Lippen noch hervor, bevor mein Gesicht die Pflastersteine küsste und das Licht um mich herum erlosch.
Im Trubel der unter den Festbesuchern ausbrach, als unser Studiosus das Bewusstsein verlor, bemerkte niemand das vielstimmige Röcheln, Stöhnen, Knacken und Klappern, welches aus den verschiedensten Gräbern und Krypten ertönte...