Windhauch
Der Termin war geplatzt. Hier in meiner Heimatstadt. Wo ich aufgewachsen bin. Ein fadenscheiniger Grund! Naja, vielleicht ganz gut so. Ich hatte von Anfang an schon so ein merkwürdiges Gefühl, als der Termin vereinbart worden war.
Ich überlegte kurz. Ein paar Minuten entfernt war die Strasse, in der ich meine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Kurzentschlossen bog ich ab in Richtung "alte Heimat". Vertraute Hausfassaden kamen ins Blickfeld. Zwar mit neuem Anstrich, aber ich erkannte sie wieder. Dann unser Haus. Ich hielt gegenüber an und betrachtete es. Das Sechsfamilienhaus hatte neue Fenster und eine neue Haustüre erhalten. Für einen neuen Anstrich hatte es allerdings nicht gereicht. Das Grau der Siebzigerjahre hatte sich tapfer gewehrt und stand in krassem Gegensatz zu den neuen Fenstern und den renovierten Nachbarhäusern.
Ein Haus weiter war früher der Metzger, bei dem mein Vater eine Zeit lang gearbeitet hatte. Von unserem Balkon aus konnte ich ihn damals manchmal sehen. Heute war dort eine Pizzeria ansässig. In dem Haus links war früher ein Laden, in dem meine Mutter immer ihre Nylonstrümpfe zum reparieren abgegeben hatte. Haushaltswaren, Spielwaren, Kleidung, alles Mögliche wurde damals dort verkauft. Die Inhaberinnen, zwei ältere Schwestern, hielten den Laden damals am Laufen. Nun stand er leer.
Ich bog in die kleine Anliegerstrasse ab und hielt an einem Spielplatz an. Hier hatten meine Freunde und ich früher oft zusammen gespielt. So manche Sandburg erblickte hier das Licht der Welt und fiel später dann der Zerstörungswut der feindlichen Ritter zum Opfer. Ein Stück weiter rechts.....der Fußballplatz. Hier hatte ich mein halbes Kinderleben verbracht, bis ins Jugendlichenalter. Beim Blick auf den Platz erinnerte ich mich an meine damaligen Mitspieler. Peter, unser Torwart. Udo, der lange Mittelstürmer, der immer drüber köpfte. Und natürlich Murat. Der kleine Türke war so flink und schnell, dass er gleich drei Gegner auf einmal austricksen konnte. Waren wir damals froh, dass er in unserer Mannschaft spielte.
Ich setzte mich auf die beschädigte Holzbank am Spielfeldrand und sah auf den Platz. Alte Erinnerungen kamen in mir hoch. Spiele um die Ehre. Eine Strasse gegen die andere. Manche Klopperei. Und am nächsten Tag haben wir wieder alle zusammen Fußball gespielt.
Wind kam auf. Kleine Staubwolken tanzten über den Aschenplatz.
Sie wirbelten auf mich zu. Ein Windhauch streifte mein Gesicht. Und plötzlich stand er da. Wölfi! Mein alter Freund Wölfi! Sechzehn Jahre. Schwarze lange lockige Haare. In Scharen liefen ihm die Mädels damals nach. Wir hatten uns im Fußballverein angefreundet und waren ständig zusammen. Sein Spitzname war "Matte", weil seine Haare ihm bis über die Schulter reichten und ständig sagte er "is schon gut so".
Wir hatten uns gemeinsam für den Mopedführerschein angemeldet damals. Klasse 4. War noch ein bisschen simpler damals. Man meldete sich beim TÜV an, füllte einen Prüfbogen aus und hatte seinen Führerschein - wenn man gelernt hatte. Ich hatte damals diesen kleinen wesentlichen Teil wohl vergessen und war beim ersten Mal "durchgerauscht". Wölfi hielt stolz seinen Führerschein in der Hand. Gemeinsam fuhren wir manchmal mit seiner alten Kreidler Florett durch die Gegend und machten die Strassen unsicher....
Für den nächsten Termin hatte ich mich gleich wieder angemeldet und damit begonnen, die Fragen der Prüfbögen zu lernen. Wenn ich bestanden hatte, wollten wir gemeinsam eine Mopedtour vom Feinsten machen. Wölfi hatte eine gute Lehrstelle angetreten und fuhr jeden Morgen um sechs Uhr mit seiner Kreidler zur Arbeit und Abends trafen wir uns meist. Zwei Tage vor meiner Prüfung fuhr Wölfi wie gewohnt morgens zur Arbeit. Er musste die rote Ampel völlig übersehen haben. Das Taxi, dass ihn voll in die Seite traf, hatte keine Chance.
Wölfi lag eine Woche im Koma. Danach verabschiedete er sich für immer. Ich habe es damals nicht fertiggebracht, ins Krankenhaus zu fahren. Wölfi kam auf mich zu. Wie früher legte der grosse Kerl freundschaftlich seine Hand auf meine Schulter und sah mich an.
"Is schon gut so".
Ein Windhauch nahm ihn wieder mit.
Den Führerschein der Klasse 4 habe ich nie gemacht....
Tolkien