In einer kleinen Biobäckerei am Ortsrand von Potsdam steht ein sportlich gebauter Mann im hinteren Teil der Filiale. Seine starken Finger umklammern sanft den Teig, der die nächsten Sekunden von ihnen zu einem perfekten Laib geformt wird. Sven (39, Name geändert) ist so sehr in seine Routine vertieft, dass er erst nach vorne blickt, nachdem er das Blech mit den Brötchen in den Ofen geschoben hat.
„Teig kneten beruhigt mich“ lächelt er sanftmütig und tritt mit wenigen Schritten in den Gästebereich, während er sich die mehligen Hände in seiner weißen Schürze abwischt. „Das Handwerk habe ich als Kind von meiner Mutter gelernt“. Es ist noch früh, die restlichen Holztische mit den blutroten Sitzgarnituren stehen leer.
Wenn man Sven bei seiner Arbeit zuschaut, bekommt man schnell das Gefühl, er mache das schon sein Leben lang. Doch der Anblick täuscht. Er ist erst seit zwei Jahren Bäcker. Auf seinen früheren Beruf ist er nicht unbedingt Stolz – Sven war davor nämlich Profikiller.
„Ich weiß, wie das für andere klingt. Die meisten denken da sofort an die gängigen Klischees. An Agenten- und Actionfilme“ schüttelt Sven den Kopf. Er wirkt ernst, sein Lächeln ist verschwunden. Aber dann lockert sich seine Miene wieder. „Wenn sie wüssten, wie das tatsächlich abläuft, wären sie enttäuscht.“ Seine Worte klingen ganz normal, als würde er über einen Beruf wie jeden anderen reden. Und in Kombination mit seiner weißen Schürze und dem Mehlfleck auf seiner Wange verschwindet auch fast die Angst, die sich im Zuhörer angesichts Svens Hintergrund auftut. Aber nur fast. Es gibt nun mal Fakten, die kann der Mensch nicht wegdenken, wenn er einmal davon Bescheid erlangt hat.
Im Film haben sie viele Namen. Auftragsmörder, Auftragskiller, Profikiller, Killer. Im Film sind sie meistens eiskalt und drücken ohne Zögern ab. Doch im wahren Leben läuft das anders ab, meint Sven. Wenn es jemand weiß, dann er. Auf die Frage, wie er zu der Berufung gekommen ist, antwortet er mit seiner Lebensgeschichte.
Aufgewachsen ist er als Einzelkind in einem Viertel Berlins. Die ersten Lebensjahre verlaufen relativ geregelt – bis Sven 7 Jahre alt ist. „Da hat sich etwas geändert. Angefangen hat es mit Streitigkeiten zwischen meiner Mutter und meinem Vater.“ Der Vater blieb immer öfters weg, kam manchmal tagelang nicht nach Hause. Zwei Jahre später, als Sven 9 ist, verlässt der Vater die Familie endgültig für eine seiner Liebhaberinnen. „Meine Mutter war am Boden zerstört“ erinnert er sich. „Ich habe die Welt nicht verstanden. Ich wollte nur noch, dass Mama aufhört zu weinen.“
Doch die Trennung konnte sie nie wirklich verkraften. Während Svens Klassenkameraden mit ihren Familien Ausflüge machten und ein scheinbar unbeschwertes Leben führten, stand Sven bald ohne Mutter da. Er musste früh lernen, sich selbst zu versorgen, übernahm den Haushalt und kümmerte sich um seine Mutter, die keinen Fuß mehr vor die Haustür setzte. Sich Hilfe zu holen, daran dachte er nicht. Er war noch ein Kind und glaubte fest daran, dass seine Mutter die Phase der Traurigkeit überwinden würde. Ob er selbst unter dem Abzug des Vaters gelitten hatte? „Ja“ antwortet Sven, „aber ich konnte es mir nicht erlauben, ihm nachzutrauern. Das hätte alles noch schlimmer gemacht. Außerdem habe ich ja gesehen, wie sehr meine Mutter jahrelang unter der Ehe mit meinem Vater litt. Als Kind versteht man noch nicht weshalb, man spürt nur intuitiv, dass da was falsch läuft zwischen den Eltern.“
Irgendwann wurde es ihm zu viel, irgendwann konnte er nicht mehr. Sven war am Ende seiner Kräfte und konnte nur noch zuschauen, wie es seiner Mutter immer schlechter ging. Seine Noten genügten nicht mehr, er blieb sitzen.
Eine aufmerksame Lehrerin war die Rettung. Da Svens Eltern bei den Sprechstunden und Schulfesten nie anwesend waren, schöpfte sie verdacht und sprach Sven nach der Schule auf die Verhältnisse daheim an. Erst weigerte sich Sven, sich ihr anzuvertrauen. Er wollte an der heilen Welt festhalten, die nur noch in seiner Fantasie existierte. Gleichzeitig wollte er aber auch alles beenden, sich Hilfe holen. „Ich war so erschöpft. Ich wollte nicht mehr. Nicht mehr zur Schule gehen, nicht mehr aus dem Haus gehen.“ Und so erzählte Sven der Lehrerin, dass es seiner Mutter nicht gut geht. Dass sie seit Monaten kein Wort mehr geredet hat. Durch das Einschreiten der Lehrerin kam die Mutter ins Krankenhaus, wo sie professionelle Hilfe erhielt. Sven kam vorübergehend zu Verwandten, wo er sich erholen konnte. Seine Noten wurden wieder besser, der Druck ließ nach. An die Stelle der Erschöpfung durch den Überlebenskampf drängte sich immer mehr Wut. „Ich war wütend, erst auf mich, dass ich nicht schon früher Hilfe geholt habe. Doch die Wut richtete sich dann immer mehr auf meinen Vater. Ich hielt ihn verantwortlich für all das Leid, das er uns zugefügt hat. Dass er unser Leben – meins und das meiner Mutter – zerstört hat. Das tue ich heute noch.“ Sven blickt nach unten auf seine Hände, beide zur Faust geballt, die Sehnen sichtbar. „Er ist schuld daran, dass sich meine Mutter letztendlich das Leben genommen hat.“ Kurz nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde.
Sven trat den Wehrdienst trotzdem an, taub vom Schock, als Ablenkung. Dort lernte er, wie man mit Waffen umgeht. Sein außergewöhnliches Talent zeigte sich schon bald und so kam er zur Infanterie, in die Einheit, in der die Soldaten für den Nahkampf ausgebildet werden. „Ich war damals der Beste in unserer Einheit und das entging auch den anderen nicht“. Sven bekam auch von den Offizieren viel Aufmerksamkeit. Es dauerte nicht lange, bis einer von ihnen auf ihn zukam und ihm ein Angebot machte. „Der Auftrag hatte nichts mit dem Militär zu tun, betonte er. Es ging um die Beseitigung einer Person aus hohen Kreisen, diskret und professionell.“ Wie er reagiert habe? Alleine schon das Honorar ließ ihn zweifeln. Sven glaubte, es wäre ein Test und lehnte den Auftrag ab. Tage später ließ ihn der Offizier zu sich rufen, in einen Raum mit einem Tisch und zwei dünnen Stühlen. „Ich kann mich noch genau erinnern, wie mein Puls in die Höhe schoss, als ich den Raum betrat. Es war kalt und kahl, er saß mir gegenüber. Der Schweiß lief mir über die Stirn und ich begriff, dass der Auftrag ernst gemeint war. Kein Test“ sagt Sven. „Ich sollte tatsächlich wen umbringen. Der eigentliche Gunman ist ihnen abgesprungen.“ Erst weigert er sich, doch je mehr Details der Offizier bekannt gibt, umso plausibler klingt der Auftrag. Sven verrät keine weiteren Einzelheiten; nur, dass ihn die Tatsache, dass die Zielperson dieselbe Position in der Berufswelt einnahm wie sein Vater, ihn die endgültige Entscheidung fällen ließ. Eine Entscheidung, die sein Leben grundlegend verändern würde. „Nach Monaten der stillen Trauer und der verdrängten Wut spürte ich den Drang, den Auftrag annehmen zu müssen. Meiner Mutter und all den Frauen zuliebe, die solchen Männern wie mein Vater zum Opfer gefallen sind.“ Dass das keine Entschuldigung für seine Taten ist, weiß Sven. Er versucht auch nicht, sich zu rechtfertigen. Er erzählt von der Vergangenheit so objektiv und nüchtern, als würde er über die Erfahrungen eines fernen Bekannten reden.
„Es war erschreckend, wie leicht sich der Auftrag erledigen ließ.“ Noch erschreckender fand er die Genugtuung, die er dabei empfand. Als würde er sich mit der Tat an seinem Vater rächen, der seit Jahren jeglichen Kontakt zu seinem Sohn und der an Suizid verstorbenen Ex-Ehefrau verweigert. „Ich habe natürlich gewusst, wo ich ihn auffinden könnte, schließlich war sein Name nicht unbekannt. Aber nach all dem, was er uns zugefügt hat, wollte ich nichts von ihm wissen.“
Viel Zeit zur moralischen Verarbeitung des vollbrachten Auftrags blieb ihm nicht übrig, bald kam der nächste Auftrag. Doch Sven nahm nicht alle an. Sich bei der Ablehnung bestimmter Aufträge auf die Gewissensfreiheit zu berufen, fand er zwar paradox, aber notwendig. „Man kann jede Person so schlecht ins Licht rücken, dass man damit eine Beseitigung scheinbar rechtfertigen kann. Stellen Sie sich vor, das würde jeder machen – es gäbe nicht mehr viele Menschen auf dem Planeten. Gut und schlecht ist zwar eine Frage der Perspektive“ betont Sven, „aber wenn eine Person das Leben von vielen anderen, vor allem unschuldigen, Personen beeinträchtigt oder gar zerstört, aus Egoismus, Gier, Narzissmus, oder aus welchem Grund auch immer, dann ist das für mich eindeutig schlecht.“ Nach diesem Kriterium habe er über die Jahre hinweg gehandelt.
In der Bäckerei piept es leise. „Die Brötchen müssen raus“ unterbricht Sven sich selbst beim Erzählen. Er entschuldigt sich und verschwindet im Raum, wo er vor einer knappen halben Stunde die schön geformten Laibe in den Ofen geschoben hat. Als er zurückkommt, bringt er den Duft von frisch gebackenem Brot mit. Dann erzählt er weiter.
Vor vier Jahren erhielt er nach langer Pause einen Auftrag. Sven hatte zu der Zeit genug Menschen beseitigt, irgendwann war das Gefühl der Rache, der Genugtuung vorbei. Als ihm dann auch noch die Todesnachricht des Vaters erreichte, verschwand der letzte Rest Hass aus seinem Herzen. „Ich schätze, das war meine Art, das Kindheitstrauma und den Tod meiner Mutter zu verarbeiten. Danach war es nur noch eiskalter Mord. Ich wollte aussteigen.“ Es war ein langer Prozess bis zur Genesung. Ganze elf Jahre hat sie gedauert.
Der Auftrag sollte der letzte werden. Er kam von einer geschiedenen, verbitterten Geschäftsfrau aus Brandenburg. Diesen einen letzten noch wollte Sven annehmen, bevor er endgültig aus dem Geschäft ausstieg. Er hatte bei einer Börsenspekulation viel Geld verloren und die angebotene Summe war weitaus mehr als das Honorar, das er für seine bisherigen Aufträge erhielt.
Die Auftraggeberin wollte vor dem vereinbarten Treffen keine Informationen preisgeben. Nach ein wenig Recherche vermutete Sven, die Zielperson zu kennen: der erfolgreiche Ex-Ehemann. „Das Treffen fand bei der Auftraggeberin statt. Alles an dieser Begegnung war unheimlich: die schweren, antiken Möbel, das gedämpfte Licht im dunklen Wohnzimmer. Vor mir stand eine große, schlanke Frau im blutroten Kleid. Die blauen Augen eiskalt, ihr Blick getrübt von der Verbitterung. Das Leben hat sie ganz schön hingerichtet“ schildert Sven.
Sie erzählt ihm von ihrer gescheiterten, kinderlosen Ehe mit ihrem Ex-Mann, der sie für eine andere Frau verlassen hat. Mit der er nun das erste gemeinsame Kind erwartet. In Sven baut sich ein mulmiges Gefühl, vielleicht sein Gewissen, auf. Er kann unmöglich jemanden beseitigen, der bald Vater wird, der eigentlich nichts verbrochen hat, außer, dass er seine Ehe für eine andere Frau aufgegeben hat.
Ihre Stimme ist kratzig und gleichgültig wie sie erzählt, ihre Augen bleiben glasig. „Sie hat mir trotz der undurchdringlichen Kälte leid getan. Deshalb habe ich beschlossen, ihre Geschichte anzuhören, bevor ich den Auftrag ablehne.“ Sven erfährt vieles über ihre gescheiterte Beziehung, mehr und mehr fühlt er sich an seine eigene Mutter erinnert. Als die Frau jedoch zum Ende kommt, passiert etwas, womit Sven überhaupt nicht gerechnet hätte: sie bietet ihm die doppelte Summe des zuvor vereinbarten Honorars, mit einer einzigen Bedingung. Sven sollte ihr an Ort und Stelle das Leben nehmen.
„Ich war geschockt. Über die Jahre hat mich keine einzige heikle Situation so sehr aus der Fassung gebracht, wie diese eine Bitte“ sagt er, den Kopf ungläubig schüttelnd. Es dauerte eine Weile, bis er die Zusammenhänge verstand. Sie hatte kein einziges, abwertendes Wort über ihren Ex-Mann verloren. Auch nicht über seine neue Familie. All die Verachtung richtete sich allein gegen sich selbst, sie wollte ihr Leid beenden. „Deshalb bot sie mir ihr ganzes Vermögen an. Dem Retter, der sie von ihrem Leid befreien sollte.“ Sven sah ab dem Zeitpunkt nur noch seine Mutter vor sich: eine verbitterte Frau, die niemanden mehr hatte. Eine Frau, der jegliche Lebensfreude entwichen war. Eine Frau, die in der Gegenwart unter ihrer Vergangenheit litt, ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Eine Frau, die zu schwach war, um sich selbst das Leben zu nehmen. Eine Frau, die es dennoch tun würde, sollte er ablehnen.
„Ich tat, was ich damals auch bei meiner Mutter hätte tun sollen. Ich ging zu ihr, legte ihr die Arme um den Hals. Dann drückte ich sie fest.“ So fest, dass sie glaubte, Sven würde ihre Bitte erfüllen und mit dem dicken weißen Kuvert wieder verschwinden. Doch stattdessen bekam sie nur Svens Wärme zu spüren. Eine entschlossene, aber sanfte Umarmung, die ihr wieder Hoffnung schenken sollte. „Ich konnte nicht zulassen, dass sie ihr Leben so leicht aufgibt. Es gibt so viel Schönes auf der Welt, für das es sich zu leben lohnt. Wieso versuchen wir nicht alle, verlorenen Menschen diese Schönheit wieder näher zu bringen?“ Die Umarmung bringt in ihr etwas zum Brechen. Die Fassade, die sie so vehement aufrecht erhielt, stürzt ein, die Frust und Verzweiflung der letzten Jahre lassen ihren Brustkorb beben. Sven drückt sie noch stärker an sich, er versucht, die zerfallenden Teile zusammenzuhalten.
„Ich hielt sie stundenlang in meinen Armen und hatte das Gefühl, selbst befreit worden zu sein. Irgendwann fing sie an, ihre wahre Geschichte zu erzählen, diesmal emotional, so, wie es war. Von der Eiseskälte war nichts mehr zu spüren, vor mir stand eine zerbrechliche, verlorene Frau, die ihr halbes Leben an einen Mann verschwendet hatte, der sie nicht geliebt hat“.
Nach diesen sehr wirren und aufwühlenden Stunden wusste Sven, dass er ihr seine Unterstützung anbieten muss; das war der Beginn ihrer Freundschaft. Er begleitete sie zur Therapie, sie unternahmen viel gemeinsam. „Es war kein leichter Weg“ berichtet Sven. „Anfangs wollte sie nicht. Doch letztendlich konnte ich sie davon überzeugen, dass das Leben lebenswert ist.“ Zum Neuanfang schenkte ihr Sven eine Rose. Die erste, die sie jemals von einem Mann erhalten hat. Es war eine orangefarbene Rose, ein Zeichen für Hoffnung und Glück.
Ob sie die Hoffnung wieder gefunden hat? „Ja“ meint Sven. Auch er habe sein Leben neu überdacht und sei zu dem Schluss gekommen, dass er seinen Kindheitstraum verwirklichen möchte. Er stieg aus der Branche aus und ließ sich zum Bäcker ausbilden. Die Bäckerei, in der er früh am Morgen das Blech in den Ofen schiebt, ist das Resultat seiner Leidenschaft und seines Fleißes. Doch das ist nicht alles: Sven wird in Kürze die Geschäftsführung zwei weiterer Filialen übernehmen.
„Mein Traum ist in Erfüllung gegangen. Ich kann mich als glücklich schätzen, den richtigen Weg gefunden zu haben“ grinst er und entschuldigt sich wieder, als der erste Gast, eine schlanke, blonde Frau, die Bäckerei betritt. Das verräterische Leuchten in ihren Augen lässt vermuten, dass sich die beiden schon länger kennen.