Manchmal überraschten mich meine Klienten, wie ich sie liebevoll im geheimen immer nannte. Es war manchmal nur ihre Art, wie sie mit mir umgingen. Sie traten mir entgegen, als wäre ich ein alter Freund und sie hätten auf mich gewartet.
Ich erinnerte mich an eine ältere Klientin, ungefähr Anfang 70, schätzte ich. Wie immer hatte ich das Vibrieren in meinen Fingerspitzen gefühlt und ließ mich fallen.
Diesmal landete in der Kurve einer gut einsehbaren Landstraße. Es war ein strahlend schöner Maitag und die Sonne war angenehm wärmend.
Zwei ältere Damen kamen mir hintereinander auf ihren Fahrrädern gemütlich entgegen. Sie unterhielten sich über die Schultern hinweg und lachten unbesorgt, während sie auf dem Weg zu einem Biergarten waren.
Ich folgte ihnen mit einer gewissen Neugier. Zum einen wollte ich wissen, aus welchem Grund ich nun hier war. Zum anderen breitete sich ein mulmiges Gefühl in mir aus. Irgendjemand würde gleich Sterben und nur ich wusste es. Es war schon etwas gruselig, wenn man das Schicksal anderer kannte und sie dabei beobachtete, während sie nichts ahnend friedlich ihr Leben weiterlebten.
Ich schob meine Hände in die Hosentaschen und wartete. Erst als ein Auto um die Ecke bog, dämmerte mir das weitere Geschehen.
„Martha, pass auf!“.
Doch die Warnung kam zu spät. Das Auto erfasste die ältere Dame mit den kurzen dunklen Locken und schleuderte sie durch die Luft.
Ich schloss die Augen und drehte mich weg. Zu oft hatte ich solche Situationen miterlebt. Den Moment des überraschten Aufschlags. Das Unverständnis während sie durch die Luft wirbelten. Der Aufprall auf dem harten Asphalt.
Der verzweifelte Versuch des Begreifens wich erst aus ihren Gesichtern, sobald sie den Boden berührten.
Martha stand neben mir und wir beide betrachteten ihren Körper vor uns im Krankenbett. Die Beatmungsmaschine hob und senkte ihren Brustkorb rhythmisch und gab ein sanftes Tacken von sich.
„Bin ich das?“.
„Ja. Man sieht so anders aus, findest du nicht?“.
Sie ging einige Schritte, bis sie direkt neben sich selbst stand und betrachtete sich eine Weile. Erst die fremde Stimme der Ärztin ließ sie wieder Aufsehen.
„Ihre Mutter hat durch den Aufprall leider schwerwiegende Blutungen im Hirn davongetragen. Wir konnten die Stelle der Blutung nicht genau lokalisieren.“, die junge Ärztin umgriff nervös ihr Klemmbrett und suchte daran Halt. Wahrscheinlich war es das erste Mal in ihrer beruflichen Laufbahn, dass sie solche schlechten Nachrichten überbringen musste.
„Aber … können Sie nicht einfach operieren? Ich meine, dann sehen Sie doch, wo die Blutung ist!“, eine der beiden Töchter stand hektisch auf und griff sich verzweifelt an den Kopf.
„Es t-tut mir wirklich leid! Aber es ist schon zu viel Gehirnareal zerstört worden, als dass … .", die Unterlippe der Ärztin zuckte verräterisch.
„ALS DAS SIE ES NÖTIG HALTEN, MEINE MUTTER ZU RETTEN?“, die Tochter stand empört, zur vollen Größe aufgebaut, vor der kleinen Ärztin und brüllte sich den Schmerz förmlich von der Seele.
„Anna, beruhig dich! Sie kann auch nichts dafür. Wir müssen jetzt in Ruhe nachdenken, wie wir weiter vorgehen.“, von hinten drang eine leise Stimme, der älteren Tochter. Sie saß noch immer am Tisch und blickte auf ihre gefalteten Hände.
„Ihre Mutter ist Hirntod.“, die beruhigende tiefe Stimme des Oberarztes erfüllte den Raum.
„Aber sie atmet doch noch!“, wie als wollte sie es demonstrieren, deutete Anna auf ihre beatmete Mutter.
„Frau Hartsch, durch die Blutungen im Gehirn sind lebenswichtige Gebiete dort abgestorben. Sie konnten nicht weiter mit wichtigen Nährstoffen und Sauerstoff versorgt werden. Die körperlichen Funktionen, wie zum Beispiel die Atmung, wird durch dieses Gerät erhalten. Stellen wir diese Maschinen ab, hört auch ihre Mutter auf zu atmen.“.
„Aber … aber sie atmet doch noch!“, Tränen liefen ihre Wangen hinunter, bevor sie hilflos ein letztes Mal die Hände anhob und auf das Bett vor sich deutete. Sie versuchte die Situation zu verstehen, das Gesagte zu verarbeiten, doch diese beiden Punkte passten nicht zusammen.
„Wir würden Sie bitten, alles Nötige zu veranlassen. Die Schwestern im Aufnahmezimmer sind Ihnen gerne behilflich! Ich weiß, das alles ist nicht leicht für Sie. Aber bedenken Sie bei den Entscheidungen, die Sie treffen: Ihre Mutter ist nicht mehr, wie sie einmal war.“, er drehte sich zum Gehen und überließ die beiden Töchter der Stille.
„Was meint er damit? Alles Nötige veranlassen?“, entgeistert sah Anna ihre ältere Schwester an, die immer noch dem Arzt nachsah.
„Er meint damit, wir sollen uns verabschieden, bevor … bevor wir die Maschinen … abstellen.“, mit jedem Wort wurde ihre Stimme leiser, bis sie vollständig versagte. Langsam löste sie sich von ihrer kleinen Schwester und setzte sich neben ihre Mutter. Behutsam gab sie einen Kuss auf die Stirn und blickte nachdenklich zu den Geräten, die um das Bett aufgestellt waren.
„Wie Geräte abstellen? Nein! Wir können sie nicht sterben lassen! Ich- ich werde mich um sie kümmern! Sie pflegen!“, die Gedanken sprudelten aus Anna nur so raus, während sie aufgeregt durch das kleine Zimmer auf der Intensivstation lief.
„Anna, sie wird nicht mehr aufwachen. Das was unsere Mutter ausgemacht hat, ist weg. Du siehst hier nur noch den Körper. Sie wird nie wieder mit deinen Kindern spielen können. Nie wieder zum Grab von Vater fahren und frische Blumen einpflanzen. Sie war eine so selbstständige Frau, dass hätte sie nie gewollt! Ohne diese Maschinen wird sie nicht einmal lebensfähig sein.“.
„Du willst sie einfach aufgeben? Das kann ich nicht zulassen!“, wütend stemmte die kleine stämmige Frau ihre Arme in die Hüfte und kniff verachtend die Augen zusammen.
„Wir haben uns gestern am Telefon gestritten. Es war ein belangloser Streit, nichts Wichtiges. Aber wer denkt denn, dass es die letzten Worte sein können? Wahrscheinlich ist es deshalb so schwer für meine kleine Anna.“, Martha ging zu ihrer Tochter und legte einen Arm um sie.
„Du fasst das Ganze aber sehr gut auf?“, ich hatte mich an den Tisch gelehnt und sah Martha direkt in die Augen. Manchmal überraschten mich meine Klienten immer wieder aufs Neue.
„Ich hatte ein erfülltes Leben. Ich durfte meine Enkelkinder kennenlernen und wunderschöne Momente mit ihnen genießen. In ein paar Wochen wäre ich Uroma geworden und trotzdem habe ich so viel Gutes erlebt.
Ich meine, ich bin fit gewesen und außer meinem Diabetes und dem Bluthochdruck, bin ich eine gesunde in Würde alternde Dame.
Und wenn ich den Arzt richtig verstanden habe, dann würde mein Leben nie wieder wie vorher sein. Ich wäre auf Hilfe angewiesen und -um Himmels Willen- das will ich nicht.
Meine Kinder sollen ihr Leben genießen! Es ist Zeit für etwas Neues.“, sie grinste mir neckisch zu und ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen.
Diese Klientin hatte mir wirklich die Sprache verschlagen. Sie akzeptierte ihr Schicksal mit einem Augenzwinkern und reichte mir fast schon strahlend die Hand.
„Bist du bereit zu gehen?“, ich streckte ihr meine Hand entgegen und sah sie fragend an.
Versunken sah sie zu ihren Töchtern bevor sie mir eine Antwort gab.
„Mein Sohn. Er fehlt noch. Ich würde gerne noch bleiben, bis er die Möglichkeit hatte, sich zu verabschieden. Danach bin ich bereit.“.
Erst neigte ich meinen Kopf zur Seite, bevor ich zustimmend nickte und meine Hand wieder in die Hosentasche gleiten ließ.
Es war schon dunkel als sich die drei Kinder um das Bett der Mutter gesetzt hatten und abwechselnd über ihre Hände und ihr Gesicht strichen. Der Schmerz war in ihren Gesichtern und zeichnete ihre Haltung.
Abschied nehmen ist immer schwer und dennoch ist diese Art des Abschieds die schwerste. Solange wir wissen, die andere Person existiert noch in unserer Welt, solange tut ein Abschied zwar weh, aber ist nicht endgültig.
Stirbt eine Person, ist der Abschied für immer. Nie wieder werden wir das vertraute Lachen hören, den fantastischen Gänsebraten essen oder eine liebevolle Umarmung spüren.
Gerade bei diesem Abschied fallen uns unendlich viele Dinge ein, die wir noch unbedingt mit dieser geliebten Person teilen möchten. Plötzlich ist ein Ich liebe dich so wichtig, obwohl wir im Alltag täglich die Chance gehabt hätten.
„Werden Sie zurechtkommen ohne mich?“, sie hatte den Blick nicht von ihren Kindern gewendet, als sie mir die Frage stellte.
„Anfangs wird es schwer sein. Sie werden dich schrecklich vermissen, aber mit der Zeit zieht der Alltag wieder in das Leben ein. An manchen Tagen werden sie von ihren Gefühlen überrannt werden, doch es ist möglich.“, ich legte der alten Dame eine Hand auf die Schulter und drückte sie tröstend.
Ihre Lippe zitterte und einzelne Tränen bahnten sich einen Weg über ihre rosigen Wangen, als sie zu ihrem Sohn trat.
„Bleib wie du bist, Thorsten. Nimm dir öfter eine Auszeit und genieße es Opa zu werden. Bald ist es ja so weit.“, zärtlich strich sie über seine Wange und trat zu Anna.
„Meine kleine Anna. Ich habe unseren Streit schon vergessen. Mach dir darüber keine Gedanken mehr. Ich liebe dich trotzdem.“, sie hauchte einen sanften Kuss auf die Wange und trat zur ältesten Tochter.
„Pass auf deine beiden Geschwister auf. Halte diese Familie zusammen und … und versuche, dass ihr euch alle nicht aus den Augen verliert.“, ein letzter Kuss und sie trat etwas zurück.
„Das sind meine Kinder … es bricht mir das Herz sie so zu sehen. Trotzdem sind sie mein ganzer Stolz und ich liebe sie von ganzem Herzen.“, Martha’s Augen strahlten mit so viel Liebe und Begeisterung, dass ich die Zuneigung förmlich spüren konnte.
Ihre Kinder blieben noch bis spät in die Nacht hinein, bevor sie sich widerwillig von ihrer Mutter verabschiedeten. Noch hatte keiner endgültig die Maschinen abgestellt, dachten sie, als sie gingen. Noch war sie in dieser Welt. Noch wusste keiner von ihnen, dass die alte Dame bereits ihre eigene Entscheidung getroffen hatte.
Es war eine kalte Nacht im Mai als Martha mir ihre Hand reichte.