Besonders faszinierte mich die kindliche Denkweise. Sie war völlig anders, als die der Erwachsenen. Natürlich war das Schicksal eines Kindes oftmals sehr mitreißend und tragisch. Und dennoch zogen sie mich mit ihren Ansichten auf die Dinge in den Bann. Sie waren anders, fast schon unvoreingenommen und offen.
Vor einigen Jahren hatte ich einen kleinen Klienten, sein Name war Moritz. Ich erinnerte mich deshalb noch so genau an ihn, da ich eine besondere Erscheinungsform angenommen hatte.
Nachdem ich mich, wie immer, dem Kribbeln in meinen Fingern hingegeben hatte, landete ich im Wald an einem kleinen See. Es war Anfang Oktober. Die Blätter verfärbten sich bereits und bedeckten den feuchten Boden unter ihnen.
„Moritz! MORITZ! Wo bist du?“, verzweifelte Rufe drangen in mein Ohr und ich versuchte die Quelle ausfindig zu machen. Es dauerte, bis ich die kleine Menschengruppe etwas entfernter auf einem Hügel wahrnahm.
Sie kamen immer näher und ich sah mich nach meinem Klienten um. Doch außer dem leisem Rascheln der Blätter und den sorgvollen Stimmen, war nichts zu hören.
Ich wartete noch kurz, dann machte ich mich auf die Suche.
Manchmal, wenn meine Klienten zu viel Angst hatten, versteckten sie sich und dann musste ich sie suchen gehen. Natürlich verstand ich ihre Angst, vor allem bei so kleinen Klienten.
Als ich ein Stück entfernter in der Absenkung, zwischen zwei großen Bäumen, nachsehen wollte, vernahm ich ein leises herzzerreißendes Wimmern.
Ich blieb sofort stehen und versuchte das Geräusch genau zu orten. Langsam drehte ich mich in alle Richtungen, bis ich das Weinen genau ausmachen konnte.
Nicht nur das Geräusch verriet mir, wo sich mein Klient befand.
Man kann es sich wie eine Art Spur verstellen. Jeder Mensch trägt eine Spur auf sich, die stärker wird, wenn es Zeit für ihn ist zu Gehen. Sie beginnt mit unserer Geburt und ist vollständig ausgeprägt, wenn wir sterben.
Bei jedem Menschen fühlt sich diese Spur anders an, einfach individuell.
Moritz hatte eine warme leicht prickelnde Spur. Es fühlte sich an, als würde man schwerelos im Universum umherfliegen, eingepackt in Zuckerwatte und saure Drops.
Mit der Zeit und der hinzukommenden Erfahrung, hatte ich gemerkt, dass eben diese Darstellung typisch für Kinder war.
„Moritz?“, zaghaft rief ich seinen Namen und blieb vor dem großen Baum stehen. Das Wimmern hörte sofort auf und es trat wieder Stille ein.
Die Sonne war gerade am untergehen und tauchte die Landschaft in ein tiefes Rot-Orange.
Ich rief erneut seinen Namen und setzte mich auf den Boden. Eine durchdringende Wärme durchfuhr meinen gesamten Körper, als ich mich transformierte. Immer mehr spürte ich die Veränderungen an mir, zu einer neuen Gestalt.
Eine Gestalt, die dem kleinen Moritz weniger Angst machte. Die Landschaft um mich herum wurde immer größer und nach einigen Sekunden wirkte sie, wie ein riesiges unüberwindbares Hindernis. Ich nahm die Welt aus den Augen von Moritz’s Kuscheltier wahr.
Unsicher trat ich von einem Bein auf das andere und sah an mir hinunter. Ich bestand aus blau-gelb-rosagestreifter Flauschwolle und hatte vier Hufen. Ein buntes Alpaka - was es nicht alles gab.
Es dauerte etwas, bevor ein kleiner Kopf mit braunen wilden Locken neben dem Baum unsicher hervor sah. Zwei runde glasige Augen starrten mich direkt an. In ihnen spiegelte sich Angst und der Wunsch einfach nach Hause zu Mama und Papa zu gehen wieder.
„WOLKEEEE!“, ein spitzer Schrei und ich riss meinen Kopf wieder nach oben.
Der kleine Junge kletterte ungeschickt über die Wurzeln und rannte zu mir. Er umarmte mich stürmisch und vergrub sein weinendes Gesicht in meiner Wolle.
Anscheinend hieß ich Wolke und war sein Kuscheltier, welches ihm Sicherheit versprach. Unsicher räusperte ich mich und stupste ihn mit meiner Schnauze an.
„Hey Moritz. Wieso weinst du denn?“
„Ich bin hier … hier ganz allein. Ich will nach Hause!“, er schniefte und wischte sich die laufende Nase am Ärmel ab.
„Warum bist du denn allein im Wald?“.
„Mensch Wolke! Ich darf es dir nicht erzählen!“, Moritz verschränkte seine Arme vor der Brust und sah mich aus großen Augen ungläubig an.
„Ja, aber ich habe dich jetzt so lange gesucht und war so aufgeregt! Ich habe mir richtig große Sorgen gemacht!“, demonstrativ drehte ich mich einmal um die eigene Achse und wedelte mit meinem Stummelschwänzchen.
Skeptisch sah Moritz mich an und schob nachdenklich die Unterlippe nach vorne. Er musterte mich kritisch und überlegte, ob er mir vertrauen konnte.
Gelangt eine Person in die Zwischenwelt, werde ich zu diesem Ort gebracht und erkenne die Person auch. Dennoch musste ich mir selbst einen Überblick der Situation verschaffen, denn Allwissenheit gehört leider nicht zu meinen Fähigkeiten.
Schwierig werden solche Momente, wenn meine Klienten selbst nicht wissen, wie es zu der Reise in meine Zwischenwelt kam. Fingerspitzengefühl war dann angesagt.
Also versuchte ich eine Vertrauensbasis zwischen Moritz und mir aufzubauen und mir die Situation Stück für Stück zusammen zu setzen.
„Aber ich darf es dir doch nicht verraten, Wolke! Ich habe es versprochen.“, traurig sah Moritz mich an und ließ sich auf den Boden sinken. Er stütze sein Kinn in die kleinen Hände und starrte schmollend vor sich hin.
„Wieso darfst du es nicht verraten? Wir sind doch die besten Freunde!“, ich trappte langsam zu ihm und stupste ihn leicht ins Gesicht, bevor ich mich hinter ihn sinken ließ. Er lehnte sich gegen mich und kuschelte sich in mein Fell hinein.
„Na, weil der Herr Karlson das gesagt hat! Er hat gesagt, dass ich das niemanden verraten darf! Sonst bekomme ich schlimmen Ärger!“.
Ich spürte, wie sich meine Muskeln kurz anspannten. Ich schloss meine Augen und zählte von fünf rückwärts herunter.
„Moritz du kannst mir vertrauen! Indianerehrenwort! Ich bin dafür da, um auf dich aufzupassen!“, ich hatte die Augen wieder geöffnet und setzte ein Grinsen auf.
Ein letzter kritisch prüfender Blick des kleinen Klienten und er erzählte mir das Geheimnis.