256.Sonnenkreis, Zyklus 1034
Schwarfen, im Nordosten Sapporiens
Am nächsten Morgen bedurfte es keines Weckrufs, denn Marbos war bereits weit vor Sonnenaufgang hochgeschreckt, aus Angst zu verschlafen. Seine Eltern schreckten aus ihrem Schlaf hoch, als er seine Kammertür mit ein solchem Schwung aufwarf, dass der Griff gegen die mit Lehm verputzte Hauswand krachte.
„Sachte Marbos, weißt du eigentlich wie früh es ist“, fragte sein Vater grummelnd, nachdem er sich aufgesetzt hatte. Marbos stockte in seiner Bewegung und blickte aus dem Fenster. Draußen herrschte nach wie vor das trübe Blauschwarz einer Herbstnacht, nur durchbrochen vom Silberschein des Mondes. Sein Vater seufzte, als er Marbos betretenen Blick sah: „Naja, immerhin kannst du so schon mal nicht verschlafen. Sei doch so frei und heize den Herd wieder an, wenn du schon so viel Zeit hast.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, legte er sich wieder hin und begann nahezu direkt wieder zu schnarchen. Marbos ging in die Küche und entfachte mit den restlichen im Haus gelagerten Holzscheiten die Feuerstelle erneut, bevor er sich nach draußen schlich und dort in den kleinen Lagerkeller hinabstieg. Sein Vater hatte am Vorabend bereits die Überschüsse der Ernte, die zum Markt gebracht werden sollten, klar erkennbar vom Rest getrennt aufgestapelt. , dachte Marbos bei sich, während er die einzelnen Feldfrüchte in Körbe verfrachtete, bevor er sie auf den Handkarren lud.
Es dauerte nicht lang, und die Sonne zeigte sich am Horizont, vereinzelt krochen Strahlen über die nebelverhangenen Felder. Langsam erwachte das Dorf aus seinem Schlummer, beim Verladen der letzten Körbe wurde Marbos von einigen Nachbarn gegrüßt, die auf dem Weg zu ihren Feldern und Weidenflächen waren; unter ihnen fand sich auch Swinds Vater. „Sieh mir zu, dass mein Sohn in Görden nicht jedem Rockzipfel hinterher rennt und dir zur Hand geht, wenn er sich schon um die Feldarbeit drückt“, rief dieser ihm im Vorbeigehen zu. Marbos nickte als stumme Antwort, obwohl er genau wusste, dass er Swind unter keinen Umständen überzeugen konnte, etwas zu machen, dass ihm keinen Spaß bereitete. Er wuchtete gerade den letzten Korb, prall gefüllt mit Äpfeln, auf den Handkarren als seine Mutter aus dem Haus trat.
„Ich bin hier sofort fertig, dann komme ich nochmal hinein“, meinte Marbos instinktiv, bevor sie auch nur ein Wort herausbrachte. So machte sie auf der Stelle kehrt und stiefelte zurück. Marbos rieb sich die Augen und besah noch einmal den Inhalt des Karrens, bevor er ihr nach ins Haus folgte.
Im Inneren fand er mehrere Schalen dampfenden Getreidebreis sowie einen fast verzehrten Laib Brot auf dem kleinen Tisch vor. „Setz dich und iss, nicht dass dir auf dem Weg nach Görden noch der Magen in den Kniekehlen hängt.“ Seine Mutter lächelte zwar, doch entsprang ihrem Antlitz eine nicht zu verbergende Menge mütterlicher Sorge, gemischt mit dem Wissen, dass schon alles gelingen würde. Marbos ließ sich auf einem Schemel nieder und begann damit, in Windeseile seine Portion zu verschlingen. „Ich geh dann jetzt los“, ließ er verlauten, noch bevor seine blank geschabte Holzschale den Tisch wieder berührte. Marbos erwartete keine Reaktion, und so spurtete er zur Tür hinaus. Draußen packte er den Karren, drehte sich noch einmal um und sah seine Eltern im Türsturz stehen, auch sein kleiner Bruder lugte vorsichtig am Rockzipfel seiner Mutter vorbei ins Freie. „Macht euch keine Sorgen, ich bin heute Abend wieder zurück.“ Marbos winkte zum Abschied, dann machte er sich auf den Weg nach Görden. Zuerst jedoch würde er bei Swind einen Zwischenhalt einlegen müssen, da dieser noch nirgendwo zu entdecken war. Im Eiltempo pflügte Marbos durch die Bauern, die auf dem Weg zu ihren Feldern waren, während der Handkarren über die aufgeweichten Wege ruckelte.
„Swind! Komm raus, es geht los“, brüllte er, sobald das Haus seines Freundes in Sicht kam. Schlitternd kam Marbos vor der Eingangstür zum Stehen, doch im Inneren rührte sich nichts. Erst nachdem er dazu übergegangen war, ohne Unterlass auf die solide Holztür einzuhämmern, konnte er schlurfende Schritte hören. Kurz darauf öffnete sich die Tür knarrend und Swind blickte ihm mit müden Augen entgegen. „Was is'n?“ Wollte er wissen, obwohl er nicht besonders aufnahmefähig wirkte. Marbos grinste: „Du hast doch gestern eingewilligt mich nach Görden zu begleiten, also los. Ich warte hier auf dich.“
Unverständlich vor sich hin grummelnd schlurfte Swind wieder zurück, und als er ein wenig später zurück kam, war er tatsächlich bekleidet, auch wenn er seine Hose verkehrt herum angezogen hatte. Erst nachdem er Marbos' Blick hinab zu seinem Hosenbund folgte, bemerkte er seinen Fehler:„Momentchen...wir sind nicht alle solche Frühaufsteher wie du.“ Erneut fiel die Tür für einige Momente ins Schloss und sobald sie sich wieder öffnete, hatte Swind sich sortiert. „Das ist wahr, können wir dann?“ Marbos hüpfte angespannt von einem Fuß auf den anderen, bis Swind nickte: „Ja. Los geht’s.“
Augenblicklich setzten sich die beiden mit dem Karren in Bewegung und schon bald verließen sie ihr Heimatdorf. Die Straße zwischen den beiden Dörfern führte durch ein kleines Wäldchen, das am heutigen Morgen ein unheilvolles Bild abgab. Zäh wie Sirup flossen einzelne Nebelschwaden zwischen den betagten Eichen hindurch und sobald die beiden die ersten Baumreihen hinter sich ließen, sank die Temperatur schlagartig um einige Grad. „Man will fast meinen, dass der Wald nicht will, dass wir nach Görden gehen“, merkte Swind mit klappernden Zähnen an, doch Marbos winkte ab: „Gibs doch zu, du willst nur wieder Heim, um dich in Leandras Nähe umtreiben zu können.“
„Wie du nur auf so etwas Abwegiges kommst...“ Swind feixte halbherzig. „Ist schon gut, ich kann es dir nicht verdenken, nur wäre ich an deiner Stelle gewesen, dann hätte ich heute morgen einfach die Tür nicht aufgemacht. Schließlich kann ich nicht ewig auf dich warten, ich möchte nämlich nicht auf dem Marktplatz nächtigen oder in finsterster Nacht wieder heim laufen müssen.“ Marbos beuschleunigte bei diesen Worten seinen Schritt ein wenig, damit er zu Swind aufschließen konnte. In stetem Tempo marschierten die beiden schweigend durch den Wald, und erst als sich die Bäume wieder lichteten um den Blick auf die äußersten Felder Gördens freizugeben, räusperte sich Swind: „Ähem...Macht es dir was aus, wenn ich gehe, sobald wir mit dem Löwenanteil des Markts durch sind?“
„Klar doch, grüß mir deine Eltern und Leandra, wenn du denn den Mund in ihrer Nähe aufbekommst“, meinte Marbos amüsiert.
Derweil schwoll das geschäftige Treiben um die beiden Freunde herum an und je dichter sie dem Marktplatz kamen, desto schwieriger wurde es mit dem Handkarren voranzukommen. „So, da wären wir. Swind, siehst du irgendwo eine kleine Ecke für den Karren?“ Während sein Freund zwischen den bereits aufgebauten Marktständen umher wieselte, sog Marbos für einen Augenblick die Atmosphäre in sich auf. Das Wuseln der Marktbesucher rückte in den Hintergrund, überdeutlich nahm er die winzigen Sandkörnchen wahr, welche von unzähligen Füßen wieder und wieder aufgewirbelt wurden. Klimpernd wechselten Münzen den Besitzer, an einigen Ständen wurde lautstark um die Preise gefeilscht und allgegenwärtig waren die schallenden Handschläge, welche jedes Geschäft besiegelten. Im Zentrum dieses geordneten Chaos streckte sich, wie schon seit vielen Jahren, eine alte Eiche dem Himmel entgegen.
„Hier drüben!“ Swind winkte ihm übereifrig aus einer großzügigen Lücke zwischen zwei Ständen zu. Marbos zog den Karren zu seinem Freund hinüber und begann damit, seine Waren auf seiner improvisierten Auslage bereitzustellen. Im Vergleich zu den anderen Händlern jedoch, die zumeist kleine Zelte über ihrer Auslage errichtet hatten und einige von ihnen sogar recht exotische Waren für ein solch übersichtlichen Markt anboten, wirkte sein Stand geradezu putzig. Trotzdem dauerte es nicht lang, bis sich eine alte Dame vor den Körben mit Obst und Gemüse aufbaute; sie wirkte in ihrer an vielen Stellen notdürftig mit Flicken vervollständigten Kleidung und mit den strähnigen, grauen Haaren heruntergekommen und gehörte vermutlich zur untersten Gesellschaftsschicht.
„Oh, kann ich hier auch Waren tauschen“, erkundigte sie sich mit zitternder Stimme. Swind rollte zwar mit den Augen, doch Marbos nickte: „Aber sicher doch, wenn es ein fairer Tausch ist, habe ich damit kein Problem.“
„Das ist sehr nett. Früher hätten das hier alle getan, aber alles was diese jungen Händler jetzt interessiert ist das Klingeln ihrer Beutel.“ Die alte Frau lächelte dankbar und entblößte eine arg durchlöcherte Zahnreihe.
„Ich habe in meinem Garten auch einen kleinen Garten, nur will dort außer Kohl nichts gedeihen...mir gehen jedoch langsam die Möglichkeiten aus, mir das Ganze Schmackhaft zu machen...“ Ihre kleinen Augen wanderten unruhig zwischen den Waren hin und her: „Würdet ihr also diesen Kohl gegen zwei von euren Äpfeln tauschen?“
Irgendwo aus den Untiefen ihrer schäbigen Kleidung förderte sie einen Kohlkopf zu Tage, der zwar leicht angedrückt aber dennoch von sattgrüner Farbe war. Marbos begutachtete das Gemüse kurz, dann fischte er mit einer Hand zwei Äpfel aus dem Korb zu seiner Rechten und überreichte sie der alten Frau, im Gegenzug erhielt er den Kohl. „Ein Kohlkopf gegen zwei Äpfel, abgemacht!“ um die knöcherne Hand zu schonen, sprach er laut und schloss den Handel mit einem vorsichtigen Händedruck ab. „Einen schönen Tag noch“, rief er ihr hinterher, kurz bevor die alte Frau in der wabernden Menschenmenge verschwand.
Marbos sah ihr noch einen Moment lang nach, da bemerkte er eine hünenhafte Erscheinung, die zielstrebig auf ihren Stand zusteuerte. Wie der Bug eines Schiffs die Wellen teilt, so machten die Menschen mehr oder weniger freiwillig diesem eindrucksvollen Mann mit den angegrauten, schulterlangen Haaren Platz. Doch je näher er Marbos kam, desto mehr freute sich dieser über den Besuch, eine Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Marbos! Was treibt dich den nach Görden?“ Der Neuankömmling musterte die Körbe und schlug sich die Hand vor die Stirn. „Ach du liebe Güte, ist der Zyklus schon wieder soweit vorangeschritten“, sprach er und legte den Kopf schief.
Marbos reichte ihm die Hand: „Freut mich auch, dich wiederzusehen, Sebas. Wie geht es der Familie?“
Sebas war früher wie Marbos' Vater beim Militär gewesen, nur hatte er seine Entlassung erwirkt, bevor die Flussfürsten den Krieg mit den südlichen Zwergenreichen begannen. Sebas kam jedes Jahr auf den Markt, um sich mit seinem alten Kameraden zu unterhalten und früher, als Marbos noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte er immer ein geschnitztes Figürchen für ihn dabei gehabt. Auch wenn Marbos diese Figuren mittlerweile an seinen kleinen Bruder weitergereicht hatte, so freute er sich doch jedes Mal wieder, den Hünen zu sehen.
„Wo ist denn dein Vater, Junge?“
Sebas baute sich vor Marbos auf und lächelte; die melodisch, weiche Stimme, mit der er sprach wollte nicht recht zu seinem vor Muskelbergen überquellenden Körper passen.
„Der ist daheim geblieben, dieses Jahr verkaufe ich den Überschuss der Ernte ohne ihn.“
„Na immerhin bist du nicht allein gekommen“, meinte Sebas, nachdem er Swind bemerkte: „Wie auch immer, ich habe eine Nachricht für deinen Vater von einem gemeinsamen Freund. Es ist wichtig, dass er sie so schnell wie möglich erhält. Ich kann hier nicht weg, sonst würde ich selbst gehen, aber so...kannst du das übernehmen?“
„Hmm...“ Marbos überlegte nur kurz, bevor er antwortete: „Wenn es so schnell gehen muss, erzähl es besser Swind. Er wollte sowieso früher gehen und ich vertraue ihm. Außerdem kann ich jetzt nicht einfach zusammenpacken, Vater wäre enttäuscht von mir.“
Sebas lächelte, wirkte jedoch alles andere als zufrieden mit der Antwort. Er beugte sich zu Marbos hinab und wisperte: „Du bist dir ganz sicher, dass er vertrauenswürdig ist? Diese Nachricht darf nicht von den falschen Ohren gehört werden. Unter keinen Umständen.“
Die beiden blickten einen Moment lang zu Swind hinüber, der gerade damit beschäftigt war über den Preis von einem Bund Karotten zu diskutieren. „Ich bin mir sicher“, brach Marbos die aufkommende Stille bestimmt.
„Gut, dann nehme ich dich beim Wort.“ Sebas seufzte, bevor er seine Stimme erhob: „Junge! Komm her, sobald du fertig bist.“
Swinds Kopf zuckte herum, seine Augen fixierten Sebas für einen Augenblick; anschließend überreichte er dem Kunden das Gemüse und hechtete zu Marbos. Verängstigt blickte er zu dem Hünen empor: „Bitte sag mir jetzt nicht, dass dieser Riese da der Vater von der Schönheit ist, mit der ich gerade....naja nicht weiter wichtig.“ Seine Stimme zitterte ein wenig und keiner der beiden anderen konnte sich ein Grinsen verkneifen, doch als Sebas das Wort ergriff, wurde auch Marbos wieder ernst.
„Junge, ich habe eine Nachricht für Marbos Vater, die ihn so schnell wie möglich erreichen muss. Schaffst du das?“
„Äh ja, klar. Krieg ich hin“, erwiderte Swind und jeder im Umkreis von einem Kilometer konnte die Erleichterung in seinem Gesicht erkennen: „Sicher, kriege ich hin. Was für eine Nachricht ist das denn?“
Sebas Stimme senkte sich zum Hauch eines Flüsterns: „Sag ihm: Die Gezeiten ändern sich, eine zweite Totenflut ist im Anmarsch. Er soll seine Sachen packen und auf mich in der Meldereiterstation vor Mornfurt warten. Ich werde noch ein paar Tage brauchen bis ich von hier wegkomme.“ Er richtete sich wieder aus und blickte Swind an: „Verstanden?“
„Ja“, erwiderte dieser gelangweilt: „Aber wegen einer alten Gruselgeschichte finde ich die Geheimniskrämerei unangebracht.“
Auch Marbos erinnerte sich an die Geschichte, die ihm seine Mutter immer dann erzählt hatte, wenn ein besonders eisiger Wind im Winter an den Fensterläden rüttelte. Von laufenden Leichen und längst gestorbenen Bestien hatte sie gesprochen, dass sie den Befehlen von mächtigen Totenbeschwörern folgen, und ganz Chal'ven mit Zerstörung überziehen. Zuletzt war das angeblich vor 800 Sonnenkreisen geschehen. Damals, so sagte seine Mutter, hätten die alten Götter mächtige Krieger ausgesandt, welche die Untoten zurückschlugen. Jedoch vergaßen die Götter ihre Champions zurückzurufen. Erzürnt darüber begannen diese Krieger damit, Anhänger und Gefolge um sich zu scharen. Über die vielen Sonnenkreise gerieten die alten Götter in Vergessenheit und aus ihren Champions wurden nun neue Götter. Doch sollten sich die Totenbeschwörer erneut erheben, so gäbe es keine Götter mehr, die Hilfe senden würden, denn auch ein göttlicher Krieger war und blieb ein Sterblicher, so viele Leute ihn auch anbeten mögen. Dann hatte seine Mutter immer ein merkwürdiges Symbol vor der Tür in den Schnee gemalt, um Athronim, einen der alten Götter um Schutz zu bitten.
„Junge! Sehe ich aus wie jemand, der einfach nur so Gescheichten erzählt?“ In Sebas Augen blitzte Wut auf, sein Gesicht lief rot an, während er Swind mit todernstem Blick fixierte: „Also?“
„Äh N-N-Nein, Sir“, stotterte Swind zwischen seinen Lippen hervor: „I-Ich m-m-muss dann mal los.“ Er brach so überstürzt auf, dass er beinahe über einen der Körbe am Boden stolperte, bevor er in Windeseile verschwand. Sebas nahm wieder die freundliche Haltung von zuvor ein: „Komischer Junge, dein Freund“, meinte er achselzuckend: „Nun lass aber mal sehen, was die Ernte bei euch dieses Jahr so gebracht hat.“
Er ließ seinen Blick eine Weile über die improvisierte Auslage schweifen. „Die Kürbisse sehen verdammt gut aus, ich glaube ich nehm einen“, sagte Sebas schließlich.
„Hier das sollte stimmen.“ Ohne sich auf eine Preisdebatte einzulassen, drückte er Marbos ein halbes Dutzend kupferne Münzen und ein kleines Figürchen in die Hand. „Ich hoffe dich dann auch vor Mornfurt wieder zu sehen.“
Eine bemerkenswerte Schneise durch die Marktbesucher schneidend verließ Sebas den Platz. Versonnen betrachtete Marbos das kleine Figürchen in seiner Hand, das einen Zwerg in voller Rüstung darstellte.
Urplötzlich ragte vor ihm eine kräftig gebaute Gestalt auf, die ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat. Sobald sie sich Marbos' Aufmerksamkeit sicher war, begannen die Worte nur so aus ihr herauszusprudeln: „Ich bin Willhelm, der Wirt der springenden Sau“, stellte er sich vor, jedes seiner Worte wurde von einer kleinen Geste begleitet und am Ende jedes Abschnittes strich er sich flink einige fettige, rot-braune Haare aus der Stirn. „Hör zu, ich kaufe deine gesamte Ware unter einer Bedingung: du hilfst heute Abend mit dem Ausschank. Ich habe es eilig, also wie siehts aus?“
Marbos zog die Stirn in Falten, in ihm rang die Aussicht auf eine gute Bezahlung und der Stolz seines Vaters mit der Befürchtung, dass Sebas' Warnung mehr als nur ein Körnchen Wahrheit enthalten könnte. Der krause Schnauzbart in Willhelms Gesicht begann mit jeder verstrichenen Sekunde stärker zu zittern und so dauerte es nicht lange, bis er wieder das Wort ergriff: „Aha, du willst wohl feilschen. Ich gebe dir eine letzte Möglichkeit, das Angebot anzunehmen, sonst suche ich mir jemand anderen: Du bekommst pro Korb Ware von mir zwei Silberlinge und einen Zehnt von den Einnahmen des heutigen Abends. Nimm es an oder lass es, aber ich will jetzt eine Antwort.“
2 Silberstücke pro Korb! Marbos konnte nicht verhindern, dass seine Augen bei dem genannten Preis zu glänzen begannen. Selbst in den Jahren, wo er mit seinem Vater alle Überschüsse verkaufen konnte, hatten die Waren keinen derartigen Gewinn abgeworfen. Ohne sich weiter dem Für und Wider hinzugeben schlug er ein. „Abgemacht, wo soll ich alles hinbringen?“
„Einfach die Straße neben dem Haus des Dorfvorstehers entlang, bis du links eine grün gestrichene Tür siehst. Das ist der Hintereingang, wenn du klopfst macht dir schon wer auf.“
„Das wird kein Problem, wir sind im Geschäft“, antwortete Marbos freundlich und bemerkte, wie sich auf Willhelms Gesichtszügen Erleichterung zeigte, sobald ein Handschlag ihre Vereinbarung besiegelte.
„Bis gleich, ich nehme an du schaffst das hier allein?“ Der Wirt deutete auf die Auslage: „Oder soll ich dir kurz beim Zusammenräumen helfen? Die paar Momente hätte ich wohl übrig.“ Doch als würde er seine Worte Lüge strafen wollen, machte er bereits einige eilige Schritte weg von Marbos' Auslage. Marbos winkte ab: „Ach was, das bekomme ich schon hin.“
„Gut gut. Nimm das hier schon mal“, Willhelm fischte sechs Silberlinge aus den Tiefen seiner fleckigen Schürze und drückte diese Marbos in die offene Hand: „Die andere Hälfte gibt’s, wenn sich heut Nacht der letzte Gast verabschiedet hat.“ Bereits im Satz hatte der Wirt kehrt gemacht und eilte zurück zur Taverne.
Marbos räumte derweil gelassen seine Auslage zurück auf den Karren, wobei ihm ein vorbeikommender Vater, der seinen Sohn im Schlepptau hatte, noch ein paar Äpfel abkaufte. Vater wird stolz auf mich sein wenn er sieht, wie viel ich verdient habe, dachte Marbos, während er – der Wegbeschreibung des Wirts folgend – mit dem Karren den Marktplatz verließ. Kaum wer am Haus des Dorfvorstehers angekommen, verlangsamte er jedoch seine Schritte, um die filigranen Schnitzereien im Gebälk zu bestaunen. Die Bilder von Feldarbeitern und dem weiten umliegenden Land wurden von einer Runenschrift begleitet, die Marbos nicht kannte, zumal durch die Jahre an der Luft und den vielen Regen, den es in seiner Heimat Jahr um Jahr gab, einiges unkenntlich geworden war.
Vielleicht schaue ich mir das später genau an, dachte er, sobald er an dem imposanten, dreistöckigen Gebäude vorbei gegangen war. Alsbald konnte er auch schon den Hintereingang des Wirtshauses sehen, obwohl von der grünen Farbe nicht mehr viel übrig geblieben war. Auf sein Klopfen hin öffnete ihm statt dem Wirt ein braunhaariges Mädchen von höchstens zwölf Kreisen. Vermutlich seine Tochter, schoss es ihm durch den Kopf.