Langsam erwachte das Leben in der Stadt und auf den Straßen bewegten sich die Scheinwerfer. Die Sonne hatte ihren Lauf über den Himmel noch nicht begonnen und es wirkte als sei es tiefste Nacht. Erdrückende Kälte erfüllte die Luft und Nebel verbot jeglichen Blick in die Ferne. Inmitten dieses dunklen Wintermorgens schlich eine Seele widerwillig über den gepflasterten Fußweg. Wie in einem gut geprobten Tanze setzte dieser kleine Mensch einen Fuß vor den anderen, so wie er es jeden Tag tat. Jeden Tag lief er im morgendlichen Trott über diesen einen Weg und auch jeden Tag strebte er dasselbe, ungewollte Ziel an. Auch, wenn dieser Junge, der den Namen Maik trug, seinen Lauf am liebsten hier beenden wollte, lief er zielstrebig und im schnellen Schritte. Er hatte erst die Hälfte seines Weges beendet und die Kälte lag ihm tief in seinen Knochen, wobei sie sich in seinem dampfenden Atem manifestierte. Maik richtete seine braunen, in Müdigkeit getauchten Augen gen Boden, da er sich an dem Anblick der Stadt, die ihn umgab, übersättigt hatte. Er hasste seine Heimat. Er hasste die, den Menschen als Unterkunft dienenden, weißen und grauen Betonkästen, welche sich in einer unendlichen Allee an den Straßenrändern aufreihten. Und er hasste diesen sich Tag für Tag gleichenden Weg. Seit fünfzehn Jahren, von dem Augenblick seiner Geburt bis zur aktuellen Sekunde verweilte er an diesem Orte und der Wunsch diesen zu verlassen stieg in ihm stetig. Die Menschen um sich beachtete er nicht, er traute sich nicht ihnen ins Gesicht zuschauen, da er wusste, dass sie ihn verspotteten. Dennoch schaute er nun doch auf. Vor ihm tauchten im Nebel langsam die Konturen seines Schulgebäudes auf und vor diesem sammelte sich eine Masse von Menschen, welche nur darauf warteten, dass die Haustore sich öffneten. Maik verspürte eine Angst, welche in ihm wuchs, je näher er diesem Meer aus Gesichtern kam. Jeder Schritt auf das Gebäude löste einen stechenden Schmerz in seiner Seele aus. Um ihn herum ertönten die lauten Gespräche der verschieden Grüppchen, welche alle in diesem Sturm aus Stimmen um Beachtung kämpften und sich gegenseitig zu übertönen versuchten. Maik seufzte, jeden Tag das Selbe.
...
Das Schulgebäude war, wie auch die anderen dieser Stadt, in einem Kastensystem aufgebaut, keine Farbe war an den Wänden und keine Verzierung schmückte seine Fassade. Die Luft im Klassenraum war warm und stickig. Maik saß vorne in der ersten Reihe, dies tat er immer, da er sich unwohl fühlte, anderen Leuten ins Gesicht zu schauen. Neben ihn saß sein Schulfreund Atieno, hinter ihm saßen dessen Freunde. Diese trafen nun auch in den Raum ein.
„Wo warst du?“, fragte Atieno, in Andenken an die zwei Tage vor dem letzten Wochenende, an denen er fehlte, da er krank wurde.
„Nicht da. Krank. Tut das zur Sache?“, fragte Maik zurück. Er fiel des Öfteren einer Krankheit zum Opfer, weswegen er zuhause blieb.
„Bist du immer krank? Meine Mutter wäre niemals so weich wie deine, mich sooft fehlen zulassen“, entgegnete Atieno.
„Mag sein“, Maik konnte es nicht fassen, dass Atieno und die anderen alles benutzten um sich aufzutun.
„Außerdem, würde meine mich niemals mit kaputten Sachen raus lassen“, sagte einer der anderen, die hinter ihm saßen und deutete auf einen Ärmel an Maiks Pullover, welchen Löcher und Risse zierte. Tatsächlich hatte Maik verschiedene Kleidungsstücke, denen man den Gebrauch ansah. Er bekam nur selten neue Kleidung, da seine Eltern nur zu bestimmten Zeiten in der Lage waren, sich diese zu leisten.
„Ist ja gut!“, entgegnete Maik, wobei Ärger seinen Ton schwängerte.
„Bleib mal ruhig, kauf dir bessere Sachen, wenn du das nicht hören willst.“, sagte Atieno
Maik seufzte, wie konnte man nur so ignorant und undifferenziert sein? Tatsächlich, passierte so etwas des Öfteren, dass seine Schulfreunde so etwas zu ihm sagten, meist fühlte sich Maik sehr unwohl in deren Anwesenheit, jedoch wüsste er nicht, wo er sonst verweilen sollte. Neben diesen dreien, war Maik noch mit einem Mädchen namens Luna befreundet, aber er hatte Angst, dass er noch mehr Spott erhalten würde, wenn er sich zu lange mit ihr aufhielt und außerdem zeigte sie in einigen Fällen die selbe grobe und unüberlegte Art.
Zum Bedauern von Maik hatte kaum noch Kontakt zu einer anderen Person seiner Klasse namens Aurora. Mit ihr pflegte er eine freundschaftliche Bekanntschaft am Ende des letzten Schuljahres, doch nun schlich sich nicht ein Wort zwischen sie. Dabei hatte er die Zeit mit ihr genossen, da sie in ihrer Art einen völligen Kontrast zu dem, was er kannte darstellte. So war sie intelligent, differenziert, vernünftig und einfühlsam. Maik überlegte oft, ob er versuchen solle den Kontakt zu ihr wiederherzustellen, jedoch hatte er Angst sie könne ihn nicht mehr leiden, da sie solange nicht miteinander sprachen. Doch mit dieser Furcht wuchs in ihm gleichzeitig das Sehnen nach ihrer Aufmerksamkeit und er wünschte nichts mehr, als nochmals mit ihr sprechen zu können. Doch auch wenn er sich jeden Tag seiner Initiative versprach, verweilte er in seinem jetzigen Zustand.
Der Unterricht nahm seinen unangenehmen Lauf, gleich einem Fluss aus trüben, dickflüssigen Wasser, der sich seinen Weg durch ein unebenes Flussbett bahnte. Maik konnte dessen Geschehen nur sehr schwer folgen, für ihn schien das Geschriebene und das Gesagte wie Hüllen, gefüllt mit nichts als Leere. Keine Information wollte in seinem Haupt Einzug nehmen. Keine Lehre konnte er zu erfassen. Deshalb hielt sich Maik in den Stunden meist zurück, er könne definitiv keine rechte Antwort sprechen und ihm war das Risiko des Spottes aufgrund einer möglichen dümmlichen Antwort zu hoch, desweiteren konnte er dem Klang seiner Stimme nichts abgewinnen. Maik hatte des Öfteren törichte Gedankengänge, weswegen er sich in den meisten Fällen an die Entscheidungen seiner Schulkameraden hielt.
Nach dem Unterricht gingen Maik, Atieno und die anderen beiden meist an den selben Ort, obgleich dieser eine Tischtennisplatte auf dem Hofe der Schule darstellte. Hier hatte Maik sich oft gut mit seinen Klassenkameraden verstanden, jedoch änderte sich dies, seit sich ihre Interessen zu wandeln schienen. An den meisten Tagen stand Maik, zwar mit an dem gewohnten Platze, jedoch etwas abseits und meist in dem Lesen seiner Aufzeichnungen der letzten Stunden vertieft, wobei er dessen Zusammenhang zu entschlüsseln versuchte. Maik hasste die Hofpausen, die Kälte des Winters machte ihm sehr zu schaffen.
„Lass uns zu einem neuen Platz gehen.“, fing Atieno plötzlich an.
„Können wir machen, ich bin für die Treppen dahinten“, sagte einer der anderen, wobei er auf die entsprechende Stelle zeigte.
„Und dann kommen wir wieder hier her, weil wir den Platz dahinten nicht mögen, lass uns hier bleiben“, sagte der andere der anderen.
„Ja, ich wäre auch dafür, dass wir hier bleiben.“, antwortete Maik.
„Wieso? Gott, Maik, du bist so ein Mitläufer“, entgegnete Atieno. „Nur weil er auch dafür ist“.
„Was ist das für ein Sinn?“, erhob Maik seine Stimme. „Das ist doch...“, Maik stoppte den Satz, seine Stimme fing an ihn zu nerven.
„Also wir bleiben auf keinen Fall hier, nur weil du keine Meinung hast, Maik“, entgegnete einer der anderen, wobei die drei sich von dem Platz entfernten.
In Maik brodelte die Wut, wie konnte man nur so ignorant und undifferenziert sein? Vielleicht war es besser, dass sie nun gingen, so konnte Maik für sich sein. Doch nicht hier.
Es gab da einen Ort, im Schulgebäude, an den er sich zurückzog, sobald er keine Lust auf seine drei Klassenkameraden hatte. Zwar fragten sie meist, nach der Hofpause, wo er denn gewesen sei, aber er gab ihnen darauf keine Antwort.
Im Treppenhaus des Schulgebäudes führte eine Treppe in das Kellergeschoss. Dort unten standen verschiedenste Utensilien, von Stühlen und Schreibtischen über alten Kopiermaschinen bis hin zu abgehangenen Tafeln. In diesem Raume gab vielerlei dunkle Ecken. So, nimmt er sich immer einen Stuhl und versteckt sich dort in einer der Ecken, wobei er hier verweilte. Maik störte es nicht, hier bis zu einer halben Stunde der Pausenzeit allein zu verbringen, im Gegenteil, er genoss die Einsamkeit und er schätzte sie. Die Einsamkeit stellte keine dummen Fragen und verspottet nicht deren Antworten.
...
Als der Schultag sein Ende nahm und endlich der erhoffte und letzte Stundengong erklang, machte Maik sich auf den Weg nachhause. So schnell wie möglich wollte er dieses Haus verlassen. Der Nebel war zwar verschwunden, aber dennoch war es unerträglich kalt, Maik zog seinen Anorak zu, doch trotz, dass dieser ausreichend gefüttert war, zitterte er am ganzen Leibe. Er hasste die Kälte und den Winter. Sein Heimweg zieht sich dafür nicht, wie es sein Schulweg tat.
Maik und seine Familie wohnten in einer der kleinen Wohnungen, welche in einen der unzähligen Wohnkästen lag. Als er das quaderförmige Gebäude betrat, trat ihm der Geruch erkalteten Zigarettenrauches in die Nase. Im Treppenhaus dieses Hauses, roch es oft danach, dessen Bewohner interessierte es nicht, ob es jemanden störe.
Er schritt jedoch nun endlich an die Tür seiner Wohnung und als er die öffnete kam ihm die wohlige Wärme entgegen. Dieses kleine Apartment bestand aus drei Zimmern, das größte gehörte ihm, das zweitgrößte war das Wohnzimmer und das drittgrößte war das seiner Eltern. Auf dem Sofa im Wohnzimmer lag seine Mutter, welche, sobald Maik eintrat, aufschaute.
„Hallo, mein Schatz, wie war es in der Schule“, fragte sie.
„Wie immer“, entgegnete Maik lau. Er mochte diese Frage nicht, da es ihm in Hinsicht auf seine Leistung nicht gut ging. Er hatte nur einen genügenden Durchschnitt, jedoch schien dies seine Eltern nicht zu stören, sie waren mit allem zufrieden, was Maik tat, da er immer noch bessere Aussichten hatte, als seine Eltern. Sein Vater brach seine Schule nach der achten Klasse ab und arbeite nun auf Baustellen. Seine Mutter genoss zwar einen Schulabschluss, war jedoch Arbeitslos und dies wurde sie noch vor Maiks Geburt. Sie tat ihm irgendwie Leid, ihr Leben kam ihm so verschwendet vor, er hatte Angst, dass ihm dasselbe Schicksal ereilte.
Seine Mutter erhob sich von dem Sofa
„Alles okay, du wirkst so bedrückt?“, stellte sie eine weitere Frage.
„Ja, es ist alles gut, was soll denn sein?“, antwortete Maik.
„Ich weiß nicht, mir scheint es als kommst du unzufrieden aus der Schule, hast du wirklich keine Probleme?“, sie schaute ihn mitfühlend an.
„Nein, mir geht’s wirklich gut.“, entgegnete er und versuchte in seinem Zimmer zu verschwinden.
„Maik.“, fing sie an. „Wenn irgendetwas ist, sagst du’s mir, ja?“
„Mach ich“, entgegnete Maik mit leicht genervten Ton, wobei er danach in sein Zimmer huschte.
Er schloss die Tür und warf sich auf sein Bett, Zufriedenheit durchflutete sein Gemüt – endlich war ein neuer Tag geschafft. Ein neuer Tag welcher viel zu schnell sein Ende zu nehmen schien.
...
Maik stand auf einem Hochhaus und überblickte ein weites Feld, aus Rohranlagen und Schornsteinen. Er wusste nicht, wo er hier war und wofür diese Anlage existierte, doch sie reichte soweit er mit dem Auge blicken konnte. Er schaute sich auf dem Häuserdach, worauf er stand um, nirgends war eine Tür und ein Eingang, durch welchen er von diesem Gebäude gelangen konnte. Maik bekam Panik, würde er jemals wieder den Boden berühren? Er rannte auf dem Dach im Kreis und wollte nicht wahr haben, dass er dieses Haus nicht verlassen konnte, doch kein Abstieg fand sich. Er setzte sich an eine Kante des Häuserdaches und schaute nach unten. Zu seinem Überraschen erblickte er mehrere Menschen, welche dort am Grunde liefen. Maik stand auf und rief nach ihnen und tatsächlich schauten sie zu ihm auf. Plötzlich kam ihm eine Idee, er sagte, er werde nun springen und die Menschen sollen ihn auffangen sobald er unten ankommt. Die Menschen schauten ihn weiter von unten an. Er stand und nahm etwas Anlauf, mit einem gewaltigen Satz sprang er von dem Dach. Während er noch in gen Boden fiel, bemerkte er, dass die Menschen sich immer noch nicht regten. Flehend und bettelnd forderte er sie dazu auf ihn aufzufangen, doch sie starrten ihn nur weiter an. Der Grund kam nun immer näher und wirkte immer bedrohlicher. Maik erkannte, dass er einen Fehler gemacht hatte. Wieso war er nur gesprungen? Er betete darum, dass ihn noch jemand auffing. Doch vergeblich, mit einem lauten Knacken zersprang er auf dem Boden.
...
Maik erwachte. Neben ihm gab sein Wecker eines der unharmonischsten Konzerte zu seinem Besten. Er setzte sich auf und schaltete ihn aus, draußen war es noch dunkel. Maik rieb sich die Augen, er hasste seine Träume, in jedem, den er hatte fand er zu dessen Schluss auf irgendeine Art und Weise sein Ende, mittlerweile überraschte ihn dies auch nicht mehr. Er stand auf. Seufzend schaute er aus dem Fenster seines Zimmers. Dort musste in Bälde nach draußen. Wieder auf seinen alltäglichen Weg. Wieder in seinem alltäglichen Tanze.