Maik war froh, dass die Sommerferien endlich begonnen hatten. Endlich konnte er für die nächsten sechs Wochen, den Alltag vergessen und zugleich, und das freute ihn sehr, konnte er überlegen, wie es nach dieser Zeit weitergehe. Eins wusste er definitiv. Er will nie wieder mit Atieno und den anderen an dem gewohnten Treffpunkt stehen; nie wieder den Schulkeller betreten und, da war er sich sicher, nie wieder einen Schultag erleben ohne Auroras Stimme vernommen zu haben.
Maik befand sich immer noch auf den Rückweg von seinem ersten Treffen mit ihr und bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmte. Aurora wohnte sogleich neben deren Schule, weswegen er denselben Weg, den er auch jeden Morgen nahm, entlangging. Doch, etwas war anders als sonst, nur kam er nicht drauf was. Er schaute sich um, und erblickte die Betonblockallee seiner Heimatstadt. Maik überlegte scharf, als er weiter ging. Es machte ihn regelrecht verrückt, dass er diese Andersartigkeit nicht erkannte. Langsam bezweifelte er sogar in seinem Wohnviertel zu sein, doch dann sah diese Umgebung seiner Heimat sehr ähnlich. In seine Gedanken vertieft schaltete er seine Umwelt komplett aus und dachte härter nach. Alles schien gleich, selbst der Müll auf dem Boden lag dort, wo er immer lag.
Plötzlich, und das mit großem Erschrecken, holte ihn ein stürmisches Klingeln wieder in die Realität zurück. Der Ursprung dieses Geräusches war eine Straßenbahn in warnroter Farbe, welche direkt auf ihn zu raste. Er war wahrscheinlich während des Denkens über die Schienen gegangen, ohne Vorsicht walten zu lassen. Das Ungetüm kam immer näher. Der Fahrer geriet sichtlich in Panik und hämmerte wie wild auf den Knopf, welcher die Klingel betätigte. Maik wollte losrennen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Er stand fest und unbeweglich auf den Schienen, gleich einem Baum, dessen Wurzeln die tiefsten Tiefen des Erdreiches erkundet hatten. Er schloss die Augen. So schnell sollte es also vorbeigehen, so kurz hatte er Hoffnung auf eine Besserung, doch nun erkannte er, dass der Fürst auch nichts weiter an Macht besaß um das Schicksal zu bändigen. Er erwartete den Aufprall, er erwartete den kurzen, leidlosen Schmerz und er erwartete das Ende. Doch, nichts passierte. Wie lange brauch die Bahn um ihn zu überfahren oder hatte es der Fahrer geschafft rechtzeitig zu bremsen? Langsam öffnete er die Augen, doch als die ersten Bilder seine Netzhaut erreichte, riss er sie erschrocken auf. Vor ihm befand sich eben nicht, die rote Straßenbahn, welche ihn zu überrollen drohte, sondern das güldene Dampfross vom unterirdischen Bahnsteig. Er schaute direkt in die Frontlaterne des Zuges, wie in das Auge eines Zyklopen. Der Geruch von Wasserdampf und Kohlerauch erfüllte die Luft.
Maik stolperte zur Seite von den Schienen und fiel hin. Die Welt um ihn herum schien sich zu drehen. An einem Laternenpfahl festhaltend rappelte er sich wieder auf und ging den Zug seitlich entlang. An der Tür des ersten hölzernen Wagons, den er damals betreten hatte, hing ein dickes Metallschloss und die Fenster waren geschwärzt. Verwirrt ging er zum zweiten Wagen. Dieser war in einer besseren Beschaffenheit, als der vorherige. So schien er aus festerem Material zu bestehen und war Beige und Türkis lackiert. Seine Tür öffnete sich. Maik verstand, dass er einsteigen solle, doch er fragte sich, warum der Zug erschien. Hatte er nicht geschafft, was er schaffen wollte? Hatte er Aurora nicht angesprochen? Wahrscheinlich würde er die Antworten innerhalb dieses Wagons finden. Er atmete tief durch und entschloss sich einzusteigen.
Auch im inneren erkannte Maik eine bessere Qualität. So, waren die harten Sitzbänke aus Holz, durch metallene, mit Stoff überzogene Sitze. Über jeder Sitzbank hing ein Blumentopf, aus welchen jeweils eine weiße Narzisse herausragte.
Maik setzte sich auf einen der Sitze, als sich auch die Tür dieses Wagens schloss. Mit einem kurzen Ruck setzte sich die Lok in Bewegung. Maik schaute aus dem Fenster und erkannte wie Welt dort draußen verschwamm. Von irgendwo her kam ein Luftzug, da die Narzissen schwach hin und her wankten. Als er sich umschaute um alle Blumen im ganzen Wagon zu betrachten, bemerkte er, dass auf dem Sitz hinter ihm eine Person saß und ihn anstarrte.
„Sie sind schön, nicht wahr?“, sagte sie in einer Stimme, welche Maik nicht so recht zuzuordnen vermag.
„Ja, das sind sie“, entgegnete Maik. „Warum hängen sie hier?“.
„Um schön zu sein“, antwortete die Person, wobei sie aufstand und sich neben Maik setzte.
Diese Person wirkte auf Maik so unwirklich, sie schien einfach gar nicht anwesend. Es handelte sich um einen mittelalten Mann. Er trug einen nachtblauen Anzug, welcher geöffnet war. Unter diesem Anzug war ein weißes Hemd zu erkennen, welches hier und da zerknittert war und an einigen Stellen aus seiner ebenso blauen Hose hing. Seine Haare waren schwarz und schmierig, jedoch nicht fettig, wie die des Junkers. Herausstechend waren seine tiefgrünen Augen, welche nicht in sein Gesicht passen wollen. Maik machte seine Art und Weise nervös, denn als der Herr aufgestanden war, um sich neben Maik zusetzten, bemerkte er seine ruckartigen und hektischen Bewegungen, als ob er es eilig hätte.
„Hat Sie auch der Fürst geschickt?“, erkundigte er sich. „Sind Sie auch ein Junker?“
„Oh, ein Junker? Nein! Mich hat zwar der Fürst geschickt, aber für mich reichte der Junkerstitel nicht, er ernannte mich zum Baron“, antwortete die Person. „Außerdem glaube ich, dass wir beide zum „Du“ kommen können, sonst wird das alles hier unangenehm“.
„Warum hat der Fürst dich beauftragt?“, fragte er weiter.
„Um dir zu helfen, Maik“, antwortete der Baron. „Was glaubst du denn?“.
„Aber, man hat mir doch schon geholfen“, sagte er. „Ich habe Aurora doch schon angesprochen“
„Es mag sein, dass du dich nicht mehr in Gefahr befindest, aber Maik, du sitzt immer noch im Dunkeln“, der Baron stand auf. „Was glaubst du was passiert, wenn du sie wiedersiehst? Willst du weiterhin inhaltslose Antworten auf ihre Fragen geben?“.
„Wie meinst du das?“
„Naja Maik, sind wir mal ehrlich. Du bist nicht zu diesem Mädchen gegangen, um nur ein wenig zu
schwatzen.“, der Freiherr lächelte ihn in einer gestellten Weise an. „Da steckt schon ein bisschen mehr Gefühl dahinter.“
Maik starrte ihn erst an und blickte dann ertappt zu Boden. Warum wussten eigentlich alle, was er dachte?
„Nun ja, vielleicht hast du recht“, sagte er. „Doch wo ist das Problem dabei?“
„Na, wie willst du sie dazu bringen dich zu mögen, wenn du dich nicht mal leiden kannst?“, der Baron verdrehte die Augen und schaute anschließend auf eine Armbanduhr, welche an seinem linken Handgelenk hing. Aus irgendeinem Grunde hatte er sie falsch herum angebracht, weswegen er seinen Arm komisch verrenkte.
Plötzlich fing der Zug an sich zu neigen, als wenn sie einen sehr steilen Berg herauffahren würden.
„Was ist jetzt los?“, fragte Maik und schaute aus dem Fenster.
„Wir sind bald da, nehme ich an“, entgegnete der Baron.
Als sich ihr Gefährt wieder in die normale Lage bewegte, erkannte Maik, dass sie sich tatsächlich auf erhöhten Schienen befanden, doch waren sie auf keinen Berg, sondern wurden von einem dünnen Holzgerüst getragen. Maik warf einen Blick nach unten. Dort, in meilenweiter Tiefe, erblickte er einen dichten Wald.
„Oh, wir sind tatsächlich bald da, zum Glück, alles andere wäre verschwendete Zeit!“, sagte sein Begleiter erfreut. „Du solltest dich übrigens festhalten“.
Maik blickte den Baron fragend an, doch dann erfuhr er, was dieser meinte. Vor ihnen war das Gleis, in selber Höhe, abrupt zu Ende. Der Zug schien sogar noch schneller zu werden, als er es überquerte und schließlich in die Tiefe stürzte. Ein grünes Meer aus Baumkronen kam ihnen entgegen. Maiks Magen verkrampfte sich, er krallte sich an seinem Sitz fest. Mit einem Satz tauchte der Zug in den Wald ein. Zweige und Äste peitschten an die Scheiben des Wagons. Sie schienen unaufhaltsam durch das Dickicht zu preschen. Doch, bremste ihr Gefährt scharf und blieb ruckartig stehen. Maik wurde nach vorn gestoßen und fiel von seinem Sitz.
„Das war gut“, sagte sein Begleiter ruhig.
Maik rappelte sich auf, erstaunlicherweise spürte er keinerlei Schmerz. Der Baron drehte sich zu ihm um.
„Komm schnell, wir müssen aussteigen“, sagte er und deutete mit einer Geste an, dass Maik ihm folgen solle.
Beide verließen den Wagon. Als Maik beide Füße auf den Waldboden setzte, schloss sich hinter ihm die Wagentür und, mit einem tiefen Pfeifen, setzte sich das Gefährt in Bewegung. Der Zug schob sich durch die dicht stehenden Bäume, wobei diese, nach dessen Passierens, wieder ihre Ausgangsstellung einnahmen.
Maik schaute sich um. Auch, wenn die Baumkronen den Himmel fast in Gänze verdeckten, war es doch nicht düster. Ganz im Gegenteil, das sachte, tageshelle Licht und das Rauschen der Blätter im Wind gaben der Szenerie eine frühlingshafte Anmut. Nur Vogelgezwitscher war keines zu hören.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Maik seinen Begleiter, welcher mit überprüfenden Blick, die Umgebung betrachtete.
„Wir gehen da entlang“, er zeigte mit dem Zeigefinger in das Dickicht. „Wir dürfen keine Zeit verlieren“.
Der Weg war beschwerlich. Maik machte es zu schaffen, ständig Zweigen und Ästen auszuweichen, durch Blätterhaufen zu tauchen und unter Wurzeln durch zu krauchen. Zudem konnte er sich kaum orientieren. Dem Baron schien dies alles nichts auszumachen, weswegen er meist einen riesigen Vorsprung besaß.
„Was ist eigentlich unser Ziel?“, fragte Maik schließlich.
„Bevor wir das erreichen müssen wir noch jemanden Treffen“, antwortete der Freiherr.
„Wen denn?“, Maik hatte tatsächlich keine Freude an einem weiteren Begleiter.
„Den da!“, wies der Baron hin.
Vor ihnen auf einer kleinen Lichtung saß eine Gestalt, welche Maik wohlbekannt war. Es handelte sich um den kleinen, blonden Jungen, dem er gemeinsam mit dem Junker begegnet ist. Er saß dort auf dem Boden und zeichnete mit einem Stock, Bilder in den Dreck.
„Ich kenne ihn!“, rief Maik und lief auf ihn zu.
Als Maik vor dem Jungen und dieser ihn mit großen, verwirrten Augen anblickte, wusste er nicht, ob er ihn wiedersehen wollte. Doch dann fing er an zu lächeln
„Ah, guten Tag, Maik!“, sagte er. „Es ist schön dich wiederzusehen“.
„Ja...das ist es“, entgegnete Maik, wobei er sich selbst nicht sicher war, ob er diese Worte aus Ehrlichkeit oder aus Höflichkeit sprach. „Hast du die Stadt verlassen?“
„Nun, man muss sich weiterentwickeln, nicht?“
Maik verstand zwar nicht, aber er wandte sich nun zum Jungen: „Und weshalb bist du hier?“
„Äh...ich weiß nicht“, antwortete der Junge. „Das ist das Problem, ich versuche es herauszufinden“
„Und wie ich sehe, warst du nicht erfolgreich“, entgegnete Maik.
„Nein, ich weiß leider nicht wie“, der Junge seufzte. „Man hatte mir gesagt, ich solle am besten immer dem Wind folgen, doch der ändert ständig seine Richtung, weswegen ich nicht weiter komme“.
Der Freiherr, welcher ohne Vorwarnung neben ihnen stand, fing plötzlich an entnervt zu stöhnen, wobei er wieder seine Armbanduhr betrachtete
„Ich kann dort aushelfen, ich weiß, wo wir hinmüssen, nämlich genau da, wo wir hin wollen!“, er schaute hektisch nach links und rechts. „Sag dem Jungen, er soll dir folgen, während du mir folgst, aber beeilt euch, ehe wir uns versehen, klopft der Tod an unsere Türen“.
Mit einem Satz rannte er ins Dickicht. Maik wandte sich an den Jungen.
„Ich weiß, was du tun musst!“, rief er ihn zu.
„Wirklich?“, der Junge fing an zu lächeln. „Oh, wie freudig!“.
„Folge mir!“, befahl ihn Maik und rannte ebenfalls ins Dickicht. Der Junge war ihm dicht auf den Fersen. Der Baron hingegen verschaffte sich erneut einen Vorsprung, wobei er zwar normale Gehbewegungen machte, jedoch schnell, wie ein Läufer war . Eine gefühlte Ewigkeit schritten sie durch den Wald, doch irgendetwas hielt sie belebt und keine Müdigkeit, und auch keine Anstrengung machte sich in ihnen breit.
Plötzlich blieb der Baron stehen uns deutete nach vorn.
„Dort ist es!“, schrie er. „Jetzt sind wir an unserem Ziel, Maik“
Maik und der Junge hatten ihn eingeholt und atmeten schwer. Als sie in die Richtung des freiherrlichen Zeigefingers schauten, erkannten sie eine weitere Lichtung, welche von dem dichten Wald durch einen kleinen Bach abgegrenzt wurde. Inmitten dieses, durch das Gewässer gezogenen, Kreises standen mehrere Gebäude, welche alle in ihrer Architektur und in ihrem Stil unterschiedlich gebaut waren. Vor jedem Gebäude stand jeweils eine Person, welche sich alle nicht regten. Der Baron drehte sich zu Maik und flüsterte ihm ins Ohr: „Ich muss, jetzt gehen, ihr schafft das ab hier schon allein, aber denkt immer an die Zeit, die an eurem Rückgrat herunter wandert “.
Als er dies sagte, richtete er sich Kerzengerade auf, machte einen Schrecksprung und verschwand, noch bevor er den Boden wieder berührte. Maik schaute den Jungen an und lächelte sanft.
„Komm, bald wirst du dein Problem lösen können“, sagte er.
Sie beide gingen in das gesichtete Dorf. Die Häuser schienen planlos aufgebaut worden zu sein, da sich keine Symmetrie erkennen ließ. Als sie genauer hinschauten, erkannten sie, dass sämtliche Gebäude eine Fahne auf ihren Dächern trugen.
„Wie genau kann mir geholfen werden“, fragte der Junge.
„Ich weiß es nicht genau“, sagte Maik, wobei er wusste, dass diese Antwort unklug war. „Aber, ich weiß, dass man dir hier helfen kann“, diese Antwort war auch nicht besser.
Sie gingen zu einen der Personen, welche die Haustüren zu bewachen schienen. Es handelte sich um einen jungen Mann, vielleicht im gleichen Alter wie Maik. Die Hälfte seines Gesichtes war durch eine Maske abgedeckt. Seine Kleidung und seine Haare waren schwer zu beschreiben, da sie sich in jedem Augenblicke änderten. Auch die Farbe seiner Maske war von diesem Symptom betroffen. Er fing an sich ruckartig zu bewegen, sobald Maik und der Junge sich näherten. Als er sie erblickte fing er an zu lächeln und wankte roboterartig zu ihnen.
„Wie kann ich euch helfen?“, fragte dieser in einer gedämpften Stimme.
„Ähm, nun, dieser Junge hier, hat ein Problem, er versucht herauszufinden, wer er ist“, antwortete Maik und schaute dabei den Jungen von der Seite an. Dieser nickte hektisch.
„Ich habe versucht, dem Wind zu folgen, aber ich weiß nicht, wo lang er wehen wird“, fügte er hinzu.
„Ah, da bist du genau richtig bei uns!“, sagte der Türjunge. „Wenn du bei uns im Haus wohnst, können wir dir immer genau sagen, in welche Richtung der Wind weht“.
„Das könnt ihr wirklich?“, fragte der kleine Blonde.
„Ja, schau auf unsere Fahne, sie richtet sich, auf die Sekunde genau, in unglaublicher Anmut, mit dem Wind“
Beide schauten auf das Dach und tatsächlich wehte die Fahne immer in Richtung des Windes.
„Aber, ist das nicht die Natur von Fahnen?“, fragte der Junge.
„Oh nein!“, antwortete der Türsteher. „So etwas ist ganz besonders.“
Der blonde Junge schaute Maik fragend an. Dieser zuckte mit den Schultern.
Es gab zwar keinen rationalen Grund dafür, jedenfalls fiel Maik keiner ein, jedoch konnte er diese Person nicht leiden. Er blickte auf den Jungen und er konnte erkennen, dass es ihm ähnlich ging.
„Ich bin mir nicht sicher...“, sagte der Junge. „Ich würde gerne die anderen Leute befragen“
Maik und der kleine gingen weiter zum nächsten Haus. Diesmal trug es eine schwarze Wandfarbe und dessen Türsteher war weiblich. Ihre Kleidung, ihr Haar und ihre Augen waren allesamt in dunklen Tönen gefärbt. Auch sie bewegte sich roboterartig zu den Gefährten.
„Kannst du mir helfen, herauszufinden, wer ich bin?“, fragte der Junge. „Ich soll herausfinden, wie man dem Wild folgen kann“.
„Oh, tu das bitte nicht!“, entgegnete die junge Dame. „Der Wind bringt nichts als Leid und Unterdrückung und seine Gefolgschaft, sind bösartige Kreaturen ohne Willen“.
„Wie bitte?“, der Junge schien sichtlich verwirrt. „Also, soll ich dem Wind nicht folgen?“
„Nein, du wirst das verstehen, sobald du in unserem Haus wohnst“, die Türwächterin zeigte auf die Fahne des Hauses. „Wir wissen genau, wie du der Bösartigkeit des Windes ausweichen kannst“
Maik und der Junge erstaunten sich, als sie sahen, dass die Fahne auf dem Dach des Hauses immer in entgegengesetzter Richtung des Windes wehte.
„Ich glaube, dass ist auch nichts für mich“, seufzte der Blonde und schaute zu Maik. „Gehen wir weiter?“
Dieser nickte und sie machten sich auf den Weg zu einem dritten Haus, welches eine grüne Farbe trug. Dessen Türsteher war wesentlich jünger, als die ersten beiden, sah jedoch dem Wächter des blauen Hauses sehr ähnlich. Auffällig war nur, dass dieser hier auf dem Boden kroch.
„Ich grüße euch!“, seine Stimme kling erstaunlich rauchig für sein Alter. Er richtete sein Blick gen Boden, als er sprach. „Wie ich sehe konntet ihr den Fängen der anderen Idioten entkommen“.
„Und folgst du dem Wind oder nicht?“, fragte der Junge.
„Natürlich nicht!“, empörte sich der Wächter. „Ich bin eigenständig und brauche ihn nicht!“.
„Also bist du, wie die Bewohner des schwarzen Hauses?“, er verdrehte die Augen.
„Oh nein. Das sind doch nur Möchtegerns, ich kann in Wirklichkeit für mich denken.“, der Türsteher machte ein grimmiges Gesicht. „Und schau gefälligst nach oben, damit du mir ins Gesicht sehen kannst, wenn du mit mir redest!“
Der Junge und Maik folgten seinen Aufforderungen, wobei dieser mit einem „Schon besser!“ antwortete.
„Aber eure Fahne weht mit dem Wind“, gab Maik zu wissen, welcher nun die Fahne auf dem Häuserdach wehen sah.
„Nein, so bist du blind?“, schrie er in an. „Willst du etwa meine Eigenständigkeit in Frage stellen! Die Fahne weht deutlich entgegen den Wind!“
„Und warum schaust du immer zum Boden?“, fragte Maik.
„Damit ich euch ins Gesicht sehen kann“, antwortete er grimmig. „Deswegen schaut ihr doch nach oben“.
„Aber du liegst und wir stehen“, Maik senkte nun wieder seinen Blick. „Wäre es nicht besser du schaust nach oben und wir nach unten?“
„Was fällt dir ein?“, schrie der Türjunge. „Ich glaube ich bin der einzige der seinen Blick senken darf und schon gar nicht lass ich mich von Leuten wie euch von oben betrachten!“.
„Seid leise!“, rief der Junge. „Mir gefällt das nicht, ich gehe weiter“.
Als er gerade losgehen wollte, faste Maik ihm auf die Schulter.
„Geh schon mal vor, ich werde dir bald folgen“, sagte er.
Der Junge nickte und führte seinen Weg zu den anderen Häusern fort. Maik schaute ihm hinterher und wartete eine Weile, bis der Grund, weswegen er wartete hinter ihm erschien.
„Brauchst du Hilfe?“, fragte ihn der Baron hinterrücks.
„Ja!“, sagte Maik und drehte sich zu ihm um. „Was soll ich tun? Er läuft die ganze Zeit voran und ich weiß nicht, wie ich ihm helfen kann.“
„Nun ja, du könntest ihm zeigen, in welchem Haus er wohnen kann“, überlegte der Adlige. „Oder, mit ihm ein passendes finden.“
„Und welches Haus passt zu ihm?“, fragte Maik.
„Ich fürchte keines von denen“, der Baron schien peinlich berührt, da sich sein Gesicht in ein erdbeerrot färbte.
„Was sind denn das eigentlich für Häuser?“, erkundigte sich Maik. „Und was für Leute wohnen darin?“
„In jedem Haus wohnen Leute mit bestimmten, sich gleichenden Eigenschaften“, sagte der Freiherr. „Eigentlich dachte man sich, das man, wenn man merkt, dass ein Haus passt, in dieses einzieht“.
„Und keine Eigenschaft des Jungen ist passend?“, Maik schien dies unglaubwürdig.
„Naja, dass mit den Eigenschaften ist gar nicht so leicht“, der Baron setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. „So ähneln sich die Leute in einem Haus, doch in gewisser Weise, aber in vielen Dingen unterscheiden sie sich dennoch. Du musst verstehen, jedes Haus hat wenige grundlegende Eigenschaften, doch ein Haus lässt sich unterteilen in Wohnungen, welche sich allesamt in ein paar Eigenschaften unterscheiden. Diese Wohnungen lassen sich erneut unterteilen in Zimmer, mit ebenfalls Ungereimtheiten. Und diese Zimmer lassen sich unterteilen in unterschiedliche Betten und in diesen Betten legen die Bewohner.“
Seine Hochwohlgeboren holten Luft.
„So, mögen sich die Bewohner in nebeneinander liegenden Betten und Zimmern noch ähneln, die Unterschiede zwischen Bewohnern aus Zimmern und Wohnungen auf der einen Seite des Hauses und Bewohnern aus Zimmern und Wohnungen auf der anderen Seite können jedoch enorm sein. So enorm, dass sie untereinander verhasst sind“.
„Also, sind die Häuser etwas schlechtes?“, fragte Maik.
„Definitiv nicht. Wenn sich Leute mit gleichen Eigenschaften und Interessen zusammenfinden ist es immer lobenswert“, der Baron schluckte. „Doch, dass Problem ist, die Leute fangen an nur noch die Häuser zu sehen und nicht die Bewohner darin“.
„Doch, was hat es mit den Fahnen auf sich?“
„Ach die! Die sind doch nur dumme Prahlerei“, der Freiherr winkte ab. „Ob du nun mit oder gegen den Wind wehst ist egal, im Endeffekt richtest du dich immer nach ihm“.
Er stand auf und deutete auf eine, etwas abseits stehende Häusersammlung. Die einzelnen Gebäude waren wesentlich kleiner und farbenfroher, als die, die Maik bisher sah.
„Die Intelligenten beachten den Wind sowieso nicht“, fügte er noch hinzu und tatsächlich waren die Fahnen der kleinen Häuser immer in genau einer Richtung ausgerichtet, egal in welche der Wind wehte.
„Was für Häuser sind das?“, Maik hatte sie beim Eintreten in das Dorf nicht gesehen.
„Dort haben sich die Leute ein Haus gebaut, welche in keinem anderen Leben wollten“, erklärte sein Begleiter.
„Das heißt, der Junge könnte sich ein eigenes Haus bauen?“, die Hoffnung wurde in Maik geweckt. „Also muss ich ihn nur dazu bringen.“
„Genau, du musst ihn nur ermutigen“, der Baron klatschte in die Hände. „Bevor ich gehe, gebe ich dir noch einen Ratschlag. Denke immer daran, dies hier ist kein Dorf, es ist nur eine Ansammlung von Häusern und nun führe alles rasch aus, die Zeit drängt“.
Mit diesem Satz verschwand er. Maik fasste Mut und ging zum Jungen. Dieser saß auf dem Boden und versteckte seinen Kopf hinter seinen Knien.
„Was ist los?“, fragte Maik.
„Oh, es ist schrecklich“, jammerte er. „Die ganzen Häuser verwirren mich, keines will mir gefallen“.
„Das muss es auch nicht“, entgegnete Maik. „Du kannst dir auch ein eigenes Haus bauen!“
Mit einem Mal gaben alle Türwächter einen empörten Jauchzer von sich und versammelten sich in einem Kreise um sie herum.
„Dies kann er doch nicht machen!“, rief einer davon.
„Mit wem soll er leben?“, rief ein anderer.
„Er wird untergehen!“, meinte ein dritter einwerfen zu können.
„Wir holen dem Dorfschulzen“, riefen alle gemeinsam.
Plötzlich wurde von vier Personen ein Thron getragen. Auf diesem saß ein Mann. Er trug die selben schwarzen Haare und den selben Spitzbart, wie auch der Türwächter der schnappte sich ihn und rannte zu den abseitigen Häusern.
„Mit welchem Recht wagst du es, die anderen Leute und Bewohner zu verstoßen und dir ein eigenes Haus zu bauen“, raunte er in mächtiger Stimme.
„Hör nicht auf ihn, er ist bösartig“, befahl Maik dem blonden.
Neben den selbstgebauten Häusern lagen Materialien und Werkzeuge.
„So“, begann Maik und setzte den Jungen ab. „Du fängst jetzt an ein Haus zu bauen, genau wie es dir gefällt“.
„Warum willst du den ein Haus bauen, was keinem hier zusagen wird, von wem willst du den Lob bekommen?“, hämte der Dorfschulze. „Zieh einfach in ein anderes Haus, dort hast du Leute um dich herum und bist nicht so allein, wie es die anderen in diesem Viertel sind“.
Der Junge hielt kurz inne. Maik schaute ihn ernst an.
„Du kannst auch in einem eigenen Haus wohnen, und die anderen Leute sehen, du bist nicht einsam“, sagte er, wobei der kleine nickte und weiter an dem Bau arbeitete.
„Was machst du denn da?“, brüllte der Dorfschulze und fasste sich an die Stirn. „Wie kannst du den einen roten Stein neben einen blauen setzten? Wer macht denn sowas?“.
Wieder stoppte der Junge seine Arbeit.
„Er hat recht, was ist, wenn es den anderen nicht gefällt“, gab er zu bedenken.
Maik schüttelte den Kopf. „Das muss es gar nicht“, sagte er. „Du kannst jeden Stein neben einen anderen setzten, es muss nur dir gefallen, du lebst schließlich in deinem Haus“.
Etwas zögernd machte der Junge weiter.
„Du ignorierst mich also?“, der Dorfschulze war nun außer sich vor Wut. „Gut, dann sollst du mit der härtesten Strafe, die es in unserer Dorfgemeinschaft gibt, bestraft werden; Dem Spott!“.
Plötzlich fingen alle Bewohner an zu tuscheln, zu lachen und zu beschimpfen. Der Junge hörte erneut auf. Tränen standen ihn in den Augen.
„Warum machst du nicht weiter?“, fragte Maik panisch.
„Er hat Recht!“, sagte der Junge. „Ich kann niemals ein gutes Haus bauen!“
„Warum sollte er Recht haben?“, fragte Maik im spottenden Ton. „Was macht ihn weiser als dich?“.
„Er ist der Dorfschulze!“, schrie ihn der Junge an.
Doch, dann erinnerte Maik sich, was ihm der Baron sagte.
„Es gibt keinen Dorfschulzen, da es kein Dorf gibt, es ist nur eine Ansammlung von Häusern und diese Häuser sind nur eine Ansammlung von Wohnungen, welche nur eine Ansammlung von Zimmern sind, die aus Betten bestehen, in denen Bewohner liegen. Verstehst du, du bist ein Bewohner und du hast eine reelle Macht im Gegensatz zu dem da“.
Schnaufend starrte Maik den Jungen an. Dieser starrte zurück, schluckte einmal und fing dann an zu lächeln. Mit einem Male waren alle Personen an ihrem Platz und der falsche Dorfschulze war verschwunden.
Der Junge stellte sein Haus fertig. Es war farbenfroh, stabil und gehorchte keinem Winde. Der Junge öffnete die Tür seiner neuen Heimat.
„Genau hier weiß ich wer ich bin“, sagte er und trat ein, wobei sich die Tür sofort schloss.
„Du hast es geschafft!“, hörte er die Stimme des Barons. „Du hast dem Jungen zum zweiten Mal geholfen“.
„Ja, das scheint wohl so“, entgegnete Maik erschöpft.
„Ich hoffe du hast dir alles gemerkt, was dir heute beigebracht wurde“, der Freiherr musterte ihn. „Weißt du nun in welches Haus du ziehen magst und weißt du auch, wie du es schätzt?“
„Ich glaube ja“, sagte Maik unsicher.
„Du ‚glaubst‘ ja?“, er verdrehte die Augen. „Eine weitere Lektion, wenn du dir sicher bist, dann glaubst du nicht, sondern du weißt!“
Maik nickte.
„Nun gut, dann entlasse ich dich, so gehe und expressioniere dich!“, der Baron klatschte in die Hände und ein gleißendes Licht ging von ihm aus, welches Maik die Sicht raubte. Er hörte nur noch die tiefe Pfeife des Zuges, als die Umgebung sich schwärzte.