Jeremy
Der junge Schrifsteller konnte den ganzen Vormittag nicht wirklich etwas anfangen. Mit sich nicht und auch sonst nicht. Erst überlegte er, ob er die Polizei einschalten sollte, kam aber zu dem Schluss, dass es ihm weniger darum ging sein Geld wiederzukriegen oder Colin für etwas zu bestrafen, das womöglich gar nicht unter seiner Kontrolle war. Was er dann tat war, mit dem Hund raus zu gehen. Genau genommen, mit dem Hund den Weg von gestern nochmal abzugehen. Vielleicht wäre der Typ mit dem Rabenhaar an dieser Brücke und irgendwie hatte Jem das Gefühl, dass er ihn nicht einfach so gehen lassen sollte. Abhauen lassen, korrigierte er sich in Gedanken selbst, und mit seinem Geld war das auch nicht einfach so. Als er am Kanal entlang ging, fand er es fast schade, dass es heute nicht regnete. Wenn es wieder regnete, dann hätte er vielleicht bessere Chancen, dass es genau wie gestern wäre und Colin auch heute bei dem selben Unterschlupf war. Aber das Universum hatte diesen Zufall nicht zweimal für ihn parat. Als er unter den Bahngleisen angelangt war, musste er feststellen, dass dort zwar ein paar Sachen rumlagen, die natürlich den Obdachlosen gehörten, aber bis auf einen alten Mann, der dort auf einem Pappkarton saß und sich gerade einen Zigarettenstummel anzündete, war niemand da. Jem war noch nie auf die Idee gekommen, so jemanden anzusprechen, aber jetzt überwand er sich. „Hallooo? Guten Morgen, könntest du mir helfen? Ich suche jemanden.“ Buster schien die gleiche Idee zu haben und bellte den Mann an, sodass er ihm ein Zeichen gab, sich hinzusetzen. „Pschscht.“
Der alte Mann sah zu ihnen herüber und schien nicht sicher, was das sollte. Also ging Jem mit Buster zu ihm. „Du suchst jemanden?“, wiederholte der Alte.
„Ja. Vielleicht kennst du ihn.“
„Hast du Zigaretten?“
„Nein, tut mir leid.“ Er kramte in seiner Hosentasche. „Ich hab nur Kaugummi.“
Der Alte schaute etwas kritisch, nahm das Päckchen dann aber. „Na gut, wen suchst du?“
„Der Typ heißt Colin.“
„Sorry, ich kenne keinen Colin.“
„Er war gestern hier.“
„Hier gibt’s keinen Colin. Gab's auch gestern nich'.“
„Na schön. Danke trotzdem, bye.“ Das war wohl nichts. Enttäuscht machte sich der junge Mann auf den Rückweg. Als er an einem Geldautomaten vorbeikam, zog er neues Geld. Damit ging er zu dem Pub mit der heißen Rothaarigen und dem lauwarmen Kaffee. Aber wie er da so saß und seinen Kaffee trank, war ihm das dann auch egal. Er checkte die Nachrichten auf seinem Handy und fragte sich, warum er Colin nicht seine Nummer gegeben hatte. Aber was sollte der damit? Sein Vater hatte ihm eine Nachricht hinterlassen wegen der Geburtstagsfeier nächste Woche. Sein Verleger bat um Rückruf. Sein Kumpel aus Studienzeiten war am Sonntag in der Stadt und wollte mit ihm einen trinken gehen. Mrs. Pennygrin erkundigte sich nach ihrem Buster. Seine Ex- Freundin ließ ihn wissen, dass er ein Vollidiot war. Der Blonde ertappte sich bei dem Gedanken, dass es so aussah, als würde das Leben ohne Colin weitergehen. Also zahlte er und ging mit Buster nachhause. Dort räumte er trotzig das Bettzeug von der Couch, schmiss die Waschmaschine an und machte sich einen Tee.
Der Rest des Tages zog sich nahezu unerträglich in die Länge. Er schrieb an seinem Schreibtisch lustlos ein paar Seiten, las sie noch einmal und entschied, es wäre besser einkaufen zu gehen und dann alles nochmal mit klarem Kopf zu überarbeiten. Nach dem Einkauf lief es nicht gerade besser, weshalb er seine Auftragsarbeit für heute einfach nur abspeicherte und stattdessen ein paar Ideen für ein eigenes Projekt aufschrieb. Nun ja, im Wesentlichen hielt er fest, dass der Protagonist seines nächsten Buches schwarze Locken und aquamarinfarbene Augen haben müsste, genau wie sein Schlafgast von letzter Nacht. Aber er würde ihm einen etwas originelleren, passenderen Namen geben. Er schrieb auch dazu ein paar Ideen auf: Cìaran, Rufus, Séan, Christopher, Dorian, Roderick… Irgendwann gegen Abend sah er ein, dass ihm das alles keine Ruhe lassen würde, schnappte sich Busters Leine und ging mit ihm ein weiteres Mal den Kanal entlang. Es war nicht gerade wahrscheinlich, dass er Colin dort finden würde. Immerhin hatte der ihn bestohlen und wenn er damit rechnen musste, dass ihn die Polizei suchte, dann wäre er nicht so dumm genau da herumzulungern, wo sie sich gestern begegnet waren. Er hoffte, zumindest jemanden vorzufinden, der den auffallend attraktiven Stricher kannte und ihm irgendeinen Tipp geben konnte und als er an einem kleinen Laden vorbeikam, kaufte er drei Schachteln Zigaretten und ein Feuerzeug. Das schien die Währung zu sein, die er brauchte. Dem Hund gefiel die zunehmende Frequenz von ausgiebigen Spaziergängen ganz eindeutig. Er wedelte aufgeregt mit dem Schwanz und kannte inzwischen die Richtung. Als sie bei der Brücke ankamen, saßen dort ein paar Homeless herum. Immerhin erhöhte das die Chance auf eine Auskunft. Der Alte vom Vormittag war auch dabei, also traute Jem sich und ging direkt zu ihnen hinüber. „Du schon wieder, ist echt wichtig, hä?“, fragte er. Der Blonde nickte. „Ja, guten Abend zusammen.“
Die anderen schauten zu dem Eindringling, dann auf den Alten. „Er sucht jemanden, der Colin heißt“, erklärte der seinen Schicksalsgenossen. Ein anderer nickte. „Warum?“, wollte er wissen.
„Er ist heute Morgen verschwunden und ich weiß nicht, ob es ihm gut geht.“ Das stimmte sogar irgendwie.
„Einen Colin gibt’s hier nicht.“
„Schade, zu dumm“, fand Jem und holte demonstrativ die Zigaretten heraus. Obwohl er nicht rauchte, zündete er sich eine an. „Wollt ihr eine?“, fragte er dann in die Runde. Alle nickten und bekamen eine. Der Typ, der zuerst neugierig gewesen war, blies einen Ring und hatte dann noch eine Frage. „Wie sieht der denn aus? Kannst du ihn beschreiben?“
Jem musste nicht überlegen. „Groß, sieht jünger aus als zwanzig, schwarze Locken, helle Augen…“
„Ach, du meinst Kevin“, sagte plötzlich der Alte.
„Kevin? Ich denke der Typ heißt Chris?!“, sagte wieder der andere. Er schaute auf Jem, dem jetzt ein bestimmter Verdacht kam. „So’n viel zu dünner Junkie-Typ, richtig?“
„Ja.“
„Der war heute den ganzen Tag nicht hier.“
„Wisst ihr, wo er sein könnte?“
„Keine Ahnung. Der ist mal hier, mal da. Entweder anschaffen oder liegt bedröhnt in irgendeiner Ecke.“
Na toll. Das war keine schöne, aber vermutlich eine ehrliche Auskunft. Jem bedankte sich, ließ den Rest Zigaretten da und verabschiedete sich. „Falls ihr ihn seht, sagt ihm doch, dass ich hier war und ihm nichts nachtrage. Bye und danke nochmal.“ Dann gab er Buster ein Zeichen und ging mit ihm zurück. Inzwischen wurde es dunkel und die Worte des einen hallten in Jems Kopf wider. Anschaffen, bedröhnt, anschaffen, irgendeine Ecke… Er musste sich erstmal setzten und ließ die Beine von der Kanalmauer baumeln. Wie war das nur möglich, dass er sich so viel aus einem Typen machte, bei dem wirklich alles was er inzwischen wusste ihm sagte, er solle besser wegbleiben. Colin log, stahl, fixte, ging anschaffen… Er war so ziemlich das exakte Gegenteil von dem was Jems Nachbarin als „nette Freundin“ bezeichnen würde oder dem, was seine Familie „vielversprechendes Schwiegertochter- Material“ nannte. Vielleicht wäre es wirklich am besten, den Typen einfach zu vergessen, auch wenn der junge Autor jetzt glaubte, ein warmes Kribbeln zu spüren, genau da, wo Colin sich so dreist auf seinen Schoß gesetzt hatte. Was willst du? Soll ich dir einen blasen? „Ja, hättest du tun sollen, verdammt“, murmelte der Blonde, dann stand er auf und blickte sich um. Wo war Buster? Er musste die Leine losgelassen haben und jetzt fehlte von dem Hund schon wieder jede Spur. „Fuuck!“ Jem blieb nichts Anderes übrig, er lief zurück zu den Brücke, aber auch dort fehlte von Buster jede Spur. „Dein Hund war hier auch nich', Kleiner“, sagte der Alte, „du hast echt Pech.“ So kam es Jem inzwischen auch vor. Wenn Buster nicht in diese Richtung gelaufen war, dann kam ja nur die andere in Frage. Also lief er den gleichen Weg zurück bis zu seiner Wohnung, dann nochmal los und auch zu dem Zigarettenladen und zu dem Pub vom Vormittag, nichts, kein Labradoodle weit und breit. Das war doch einfach alles nicht wahr! Wie zum Hohn, fing es auch wieder an zu regnen und schließlich beschloss er, nachhause zu gehen. Vielleicht war der Hund doch noch dorthin gelaufen. Ansonsten würde es nicht viel Sinn machen, wenn er weiter im Dunkeln und im Regen nach dem Tier suchen würde. Wie am Abend zuvor tropfte Jem das Treppenhaus und den Flur nass. Völlig egal. Er ging dann erstmal unter die Dusche und anschließend direkt zum Kühlschrank. Der war ausnahmsweise gut gefüllt und der Blonde fragte sich halb verbittert, ob er ernsthaft mit einem Gast gerechnet hätte. Dann fräste er sich kreuz und quer durch das Angebot. Sandwiches, Pudding, kalte Würstchen, Nudelsalat, ein paar saure Gurken, Erdnussbutter. Als nichts mehr ging, schleppte er sich schließlich ins Bett, holte sich einen runter, nahm sich vor, dass nicht zu sehr zur Gewohnheit werden zu lassen und schlief ein… als es plötzlich klingelte. Hellfire, der Hund würde nicht klingeln! Wie vom Donner geweckt schoss Jem aus dem Bett hoch, streifte sich schnell noch seine Boxers und ein T-Shirt über und ging zur Tür. Vor der Tür bellte Buster und als der junge Mann sie öffnete, lief der Hund direkt an ihm vorbei hinein und an den Türrahmen gelehnt stand, auf nicht allzu sicheren Beinen, Colin. „Dein bescheuerter Köter hat mich geweckt.“ Er hatte Mühe zu sprechen und geradeaus zu schauen, aber dennoch versuchte er es und sah Jem an. Er wartete auf eine Reaktion, die auch prompt kam. „Du hast ja Nerven, hier so aufzutauchen!“, kam es von dem blonden Typen.
„Jetzt sag nicht, du bist sauer wegen der paar Kröten“, lallte der Lockenkopf.
Nein, das war er tatsächlich nicht. Eher wegen allem anderen. Jem zog Colin am Arm in die Wohnung und schloss die Tür. „Ich kann das gerne abarbeiten“, schlug der Bengel vor und grinste eindeutig zweideutig.
„Du redest echten Mist. Wie heißt du überhaupt? Und jetzt lüg' nicht wieder.“
„Ksss“, zischte der andere nur und schaute, als habe er nicht verstanden.
Jem schob ihn ins Schlafzimmer und ließ ihn ins Bett fallen. Er war so high, dass es ein Wunder war, wie er überhaupt hierher gefunden hatte. Er zog ihm die Schuhe aus. „Dein Name?“, fragte er nochmal und rüttelte ihn an der Schulter. „C…allum, echt … jetzt“, nuschelte der Schwarzhaarige. Jem nickte. Das wäre wohl sowas wie ein Anfang, fand er. Dann deckte er ihn zu. „Schlaf erstmal, Callum.“
„Mmmmhh...“
Der Blonde nickte noch einmal. Dann ging er in die Küche, gab Buster was zu essen und schließlich fiel er gleich neben Callum ins Bett.