Unterwegs
Der Rest der Nacht brachte für Cal tatsächlich zeitweise sowas wie erholsamen Schlaf. Der Sex mit Jeremy und seine Nähe hatten ihn soweit beruhigt, dass er zumindest ein wenig schlief, auch wenn er immer wieder zwischendurch wach lag. Zum Glück kamen keine weiteren bösen Träume und wenn er wach lag, dann vergewisserte sich Callum, dass das Jeremy war, der da mit ihm im Bett lag. Der Kopf an seiner Schulter, der hatte das Haar des blonden Cowboys, die Hand an seiner Hüfte, hatten die schlanken Finger des jungen Autors, der Mann an seiner Seite roch nach Jem... Es war alles gut. Er lag bei ihm und er hatte kein AIDS. Er würde nie wieder bei jemandem liegen, der ihn dazu zwang oder dafür bezahlte. Er würde nie wieder irgendetwas tun, was er nicht wollte. Und er dachte über all das nach, was der Blonde zu ihm gesagt hatte. Tapfer, intelligent, super hübsch. Womöglich hatte Jem wirklich recht, wenn er behauptete, Cal sei tapfer und wenn das stimmte, dann könnte er auch tapfer sein, wenn es um seinen Bruder ging. Was wäre das Schlimmste, das passieren könnte? Dass Rory ihn anschrie und hinauswarf? Zum Teufel auch, das hatte er beides schon erlebt. Selbst wenn er ihn schlagen würde und ihm wünschen würde, dass er lieber tot sei, auch das hatte Callum schon erlebt. Wovor also Angst haben? Er stupste an Jems Schulter. Nochmal. „Mmmhhh, wasn jezz?", murmelte Jem.
„Bist du wach?" Callum hatte eine Entscheidung getroffen und die konnte jetzt nicht mehr warten.
„Hhhh, soll das‘n Witz sein?" Jem war viel zu müde, um nicht zu maulen.
„Nein, ich brauch dich." Callum stupste nochmal und weil ihm nichts Besseres einfiel, leckte er über Jems Nase.
„Das is' nich' dein Ernst? Schon wieder? Vergiss es, Cupid, ich bin müde."
„Nein, das nicht. Steh auf, ich will nach Stratford."
Jeremy hob den Kopf. Hatte er richtig gehört? „Du willst jetzt nach Stratford?" Mitten in der Nacht?!
„Ja, je eher, desto besser. Du hast doch Rorys Adresse?!" Callum deutete zum Fenster. Dort ging bereits die Sonne auf und mit etwas Glück könnten sie noch am frühen Morgen bei Rory sein. Mit einem Mal konnte Cal es kaum erwarten und Jem musste wohl einsehen, dass es sein Liebster plötzlich eilig hatte. Er rappelte sich auf und sah auf die Uhr. Halb fünf. „Also schön, Cupid. Dann mal ab unter die Dusche, wir brauchen reichlich Kaffee und ich schreib meinem Dad 'n Zettel."
„Cool, du bist der Beste, Cowboy." Damit war Cal auch schon auf den Beinen.
Keine Stunde später waren beide dann im Auto unterwegs nach Stratford. Buster nahmen sie mit, denn der hatte in der Küche gelegen und war jetzt natürlich auch wach. Sie nahmen sonst nichts weiter mit, nur Rorys Foto hatte Callum immer dabei und so war es auch jetzt in seiner Hosentasche. Er nahm es heraus und schaute es an. Rory war damals fünfzehn, höchstens sechzehn gewesen. Größer natürlich und auch kräftiger als sein Bruder. Sein Haar war nicht ganz so lockig, aber die Farbe war die gleiche. Auch die Augen. „Glaubst du, dass er sich verändert hat?", fragte Cal.
Jem schaute auf die Straße, aber er musste auch nicht auf das Bild schauen. „Ganz sicher sogar. Er ist jetzt wie alt? Vierundzwanzig, fünfundzwanzig? Er ist erwachsen. Bei dir hab ich zuerst gedacht, du wärst höchstens siebzehn oder so. Vielleicht trägt er einen Bart. Vielleicht trägt er die Haare ganz kurz oder ganz lang, wer weiß das..."
„Ich hab' mich jedenfalls verändert", murmelte Cal mehr zu sich selbst, aber doch so, dass Jeremy es hören konnte. Die Ernsthaftigkeit, mit der Cal zu sich selbst sprach versetze Jem regelrecht einen Stich ins Herz. Natürlich war er nicht mehr der Junge auf dem Foto. Was er alles erlebt hatte, darüber hatten sie bisher nur in Andeutungen gesprochen. Allein der Übergriff an der Euston Station war noch das, wo Jem am genauesten die Details kannte. Was er sonst in Erfahrung gebracht hatte war genug, um Callums schlechte Träume zu erklären. Wenn Jem irgendwann noch mehr wüsste, wahrscheinlich bekäme er dann selbst welche. Aber hier und jetzt schob er die trübsinnigen Gedanken lieber fort. Sie waren unterwegs, um Cupids Bruder zu treffen. „Wir haben uns alle verändert. Aber dich erkennt man sofort", schlug Jem deshalb taktisch in einem heiteren Ton an. Das stimmte tatsächlich, denn das war es, was Jem bei dem Anblick des Fotos in den Sinn gekommen war. Der Kleinere hatte schon damals diesen unverwechselbaren Callum- Blick und Rory würde seinen Bruder ganz sicher wiedererkennen.
„Meinst du, echt?" Cal klang freudig überrascht. Also funktionierte die Taktik.
„Ja, ganz sicher. Wie willst du es überhaupt anstellen? Gehen wir da einfach hin und klingeln?"
„Du meinst, das ist nicht gut?" So weit hatte Cal jetzt noch gar nicht gedacht. Ohne hinzusehen wusste Jem, dass Cal jetzt diese niedliche Falte auf der Stirn über der Nase hatte.
„Keine Ahnung. Ich habe noch nie meinen tot geglaubten Bruder vor der Tür stehen gehabt. Aber es könnte sein, dass ihn das überfordert oder erschreckt."
Callum nickte nachdenklich. „Stimmt wohl... ich hab's! Du gehst zuerst und klingelst und wenn er aufmacht sagst du, du hättest 'ne Überraschung für ihn."
Jem grinste. Das war ja ein toller Plan. „Der wird mich für 'nen Zeugen Jehovas halten, wenn ich den Text aufsage."
„Was für 'nen Zeugen?" Woher sollte Callum auch bitteschön wissen, was das für Zeugen waren?!
„Vergiss es." Jem grinste noch breiter. Aber sie brauchten eine Lösung, auch für den Fall, dass Rory gar nicht selbst öffnen würde. Immerhin wäre es sehr wahrscheinlich, dass er mit Mitte zwanzig nicht allein lebte. „Was hältst du davon: Ich gehe klingeln, du bleibst erstmal irgendwo, wo er dich nicht gleich sieht und ich erkläre ihm, dass ich aus London komme und ich hätte gute Nachrichten von seinem vermissten Bruder."
„Und dann springe ich dazu wie aus 'ner Kiste?", Callum klang nicht überzeugt. Das wäre erstens albern und zweitens könnte Rory dann immer noch einen riesen Schreck bekommen.
„Nein, nein, aber du könntest dich dann zeigen. Was weiß ich- aus dem Auto steigen oder so. Und dann sagst du irgendwas Nettes." Jem blickte kurz herüber, um Cals Reaktion zu sehen. Die Falte über der Nase war noch nicht ganz verschwunden.
„Was Nettes? Ich?"
„Ja sicher. Du kriegst das hin. Dir fällt was ein, es ist dein Bruder. Du sagst mir doch auch was Nettes."
Das schien schwierig. „Dir sag ich so Sachen wie ich steh auf deinen Arsch! Ist nicht ganz das Richtige."
Jem musste lachen. Das hatte er nicht gemeint. Ganz ernsthaft schlug er dann vor: „Du sagst auch, dass du mich liebst."
Das gefiel Callum. Er strahlte jetzt. „Stimmt. Das ist wirklich besser. Und es ist die Wahrheit. Dann sollte ich Rory auch die Wahrheit sagen."
Jem sah das völlig ein. „Ich sag doch, du kriegst das hin." Er langte mit einem Arm hinüber zu seinem Freund und legte ihm eine Hand in den Nacken, um ihn dort zu kraulen. Wenn er nicht geradeaus fahren müsste, würde er ihn küssen, einfach, weil er so stolz auf ihn war und Cal ihm, ohne es zu ahnen, immer wieder bewies, wie liebenswert er war. Callum lächelte jetzt zuversichtlich und ohne es zu merken hatten sie bereits die äußere Stadtgrenze von Stratford erreicht. Irgendwo in der Stadt gab es einen jungen Mann mit schwarzem Haar und aquamarinfarbenen Augen, wie die von Callum und der würde seinen Bruder wiedersehen...