Schmerz
Zum Weglaufen schlimm und zum Wegbleiben schlimm …
Zum Weglaufen …
Zum Wegbleiben …
SCHLIMM …
Rory war kein Idiot. Als man ihm sagte, dass sein Bruder Drogen nahm und weggelaufen war, war ihm klar, dass irgendetwas Furchtbares passiert sein musste. Mindestens so furchtbar, wie die Sauferei, Schreierei und Schläge seines Vaters. Mindestens. Irgendetwas stimmte da ganz und gar nicht. Und jetzt war Callum hier und mit einem anderen jungen Mann zusammen. Das musste ein Teil des Puzzles sein. Rory fühlte sich plötzlich irgendwie hilflos. Er wollte auf gar keinen Fall, dass sich Callum schlecht fühlte, jetzt, wo sie sich wiedergefunden hatten und je eher er das klar machte, desto besser.
„Hör mal, Kleiner, ich bin dein Bruder und egal, was du gemacht hast, was zählt ist, dass du jetzt hier bist. Ich liebe dich.“
Callum, der noch immer völlig verunsichert wirkte, schaute bei diesen Worten auf. „Das … kannst du nicht so sagen, wenn …“
„Doch, ich sage das“, bekräftigte Rory ohne zu zögern. Dann setzte er sich Callum gegenüber an den Tisch. Jem hielt noch immer seine Hand. Rory redete jetzt weiter. „Ist völlig okay, dass du schwul bist.“
„Es ist … nicht das.“
„Nimmst du noch Drogen?“
„Nein.“
„Hast du jemanden umgebracht?“
„Waas? Nein!“
„Dann gibt es doch wirklich nichts, das so schlimm ist, dass du wegbleiben müsstest!“ In Rorys Stimme klang Ratlosigkeit mit. Irgendetwas war da, was er nicht erraten hatte. Aber er wollte Callum auch nicht weiter drängen. Sie waren beinahe ein halbes Leben getrennt, da würde er warten müssen, bis sein Bruder das notwendige Vertrauen zu ihm aufgebaut hätte.
„Ich …“, begann Callum jetzt mit belegter Stimme.
„Du musst nichts sagen.“
„Doch, ich will …“
„Du musst nicht, ich liebe dich.“
„Ich dich auch, darum ja, ich …“, Cal wirkte nun entschlossen, darum begann nochmal von vorne, „Es stimmt, was die dir gesagt haben. Ich habe das Zeug genommen.“
Rory schaute ihn nur gespannt an und horchte.
„Noch bis vor kurzem, aber nur weil … nur weil … dieser Typ hat es mir gegeben.“
„Welcher Typ?“ In dem Moment, als er es aussprach, fiel der Groschen bei Rory. „Oh, nein!“
„Doch.“
„Warum?“
„Das machte mich … ruhiger … williger …“
„Was? Williger für … was?“ Wieder fiel der Groschen. Im gleichen Moment kam es Rory vor, als würde jemand mit der Faust auf sein Herz schlagen. „Oh, du mein Gott, nein …“
„Doch. Ständig … und … nicht nur er.“
„Du liebe Güte, fuck, nein, aber das …“
„Doch.“
Rory konnte nichts mehr sagen. Was auch? Es war wie ein Wunder, dass sein Bruder heil hier war. Er stand jetzt auf und kam um den Tisch herum neben Cal, um ihn zu umarmen. Der lehnte sich nun direkt an ihn und dann nahmen sie sich so fest in den Arm, wie es nur ging, ohne den anderen zu erdrücken. Noch immer spürte Rory wie sein Herz schmerzte und ganz sicher ging es Callum nicht anders.
Wie lange sich die beiden Brüder so in den Armen hielten, hätte keiner von ihnen später sagen können, nur Jem schätzte, dass es mindestens zehn Minuten waren. Keiner der zwei sagte in der Zeit etwas, es schien, als wollten sie sich einfach nur festhalten, um sich der Realität bewusst zu werden, dass der andere wieder da war und gleichzeitig mochte es auch ein Versprechen sein, den anderen nie wieder zu verlieren. Irgendwann war es Callum, der die Umarmung etwas lockerte, über Rorys Schulter auf Jem blickte und schließlich seine Worte wiederfand. „Du weißt noch längst nicht alles“, begann er, „aber das Wichtigste ist, dass ich jetzt mit Jem zusammen bin. Er hat mich praktisch auf der Straße gefunden.“ Rory schüttelte erst wie zur Abwehr den Kopf, denn natürlich war klar, dass jetzt ein weiterer Teil des Puzzles, das Callums Verschwinden und Leben erklärte folgen würde. Und es schien abermals kein guter zu sein. Doch dann blickte er den großen Kleinen gefasst an. Wenn Callum es ertragen hatte, dann konnte Rory es auch hören. „Du hast … auf der Straße gelegen?“
„Nein, ich habe da gelebt. Unter Brücken, in Hauseingängen, Abrisshäuser und so.“
„Du warst obdachlos.“
„Ja.“
Jem konnte nicht anders als zu bemerken, dass Callum hier mehr Information preisgab, als er bisher von ihm bekommen hatte. Abrisshäuser. Hauseingänge. Aber welchen Unterschied machte das? Callum fuhr fort und erzählte seinem Bruder jetzt von den Ereignissen seit ihrem ersten Treffen am Regent‘s Canal mit Buster. Er schilderte seinen Diebstahl und wie Jem ihn regelrecht zum Entzug gezwungen hatte. Was er allerdings ausließ war, wie er sonst noch das Geld für seine Drogen herangeschafft hatte. Aber welchen Unterschied machte das? Früher oder später würde er es erzählen, jetzt schien er Rory eine Atempause verschaffen zu wollen. Er hatte genug erfahren für den ersten Tag. Als er geendet hatte, schaute er seinen Bruder an. „Was ist mit dir?“, fragte er dann, „du bist mit niemandem zusammen?“ Callum machte eine Kopfbewegung, die andeutete, dass er von der Küche, in der sie saßen auf den Rest des Hauses schloss und fand, es sehe nicht aus, als würde Rory mit jemandem leben. Jem war das auch schon aufgefallen. In Rorys Reich gab es eine gewisse Zweckmäßigkeit und zwar keine Unordnung, aber doch reichlich Anzeichen für ein Single- Leben. Keine Bilder mit Freund oder Freundin an den Wänden, keine Jacke von einer Frau an der Garderobe, ungespültes Geschirr von einer Person in der Spüle, keine Blumen, nur eine etwas mickrige Grünpflanze. Rory schaute etwas ertappt, aber nicht sehr überrascht. „Also gleich vorweg, für mich sind’s Frauen. Aber es hat noch nie so richtig hingehauen.“
Jem wurde jetzt nicht weniger neugierig als Callum. „Wieso nicht? Du bist doch ein richtig guter und mehr als nur gutaussehender Typ, mit 'nem interessanten Job …“
„Ja, mag sein. Aber irgendwie gab’s früher oder später immer Probleme. Wenn du 'ner Frau erzählst, dass du bei 'ner Pflegefamilie und im Heim warst, dann ist das erste, was sie denkt, dass du schwer erziehbar warst oder dass du kein Familientyp bist.“
„Aber das ist doch völliger Mist“, warf Callum ein.
„Vielleicht. Ja sicher, irgendwie. Aber wenn sie merken, dass sie dir weniger wichtig sind, als die Suche nach einem für tot erklärten Bruder, dann ist da schon was dran. Die Vergangenheit hat mein Leben auch vergiftet, weißt du. Wie kann ich jemals ein guter Ehemann oder Vater sein, wenn ich gar nicht gelernt habe, wie das geht? Und wenn ich nicht mal auf meinen kleinen Bruder aufpassen konnte.“
Callum und Jeremy sahen sich an. Was Rory da sagte, machte auf eine gewisse Weise Sinn. Ihm musste es so vorgekommen sein und wenn er das so für sich geglaubt hatte, dann ergab sich daraus für seine Freundinnen sicher ein unüberwindbares Problem.
„Ich bin 'ne Beziehungskatastrophe“, setzte Rory resigniert hinzu.
„Vielleicht bist du das, aber du bist ganz bestimmt kein schlechter Bruder“, begann Callum, „du hast immer versucht, mich zu schützen und jetzt sieh dich an: Wir sitzen hier und es macht dir gar nichts aus, was ich war.“
„Du warst das meinetwegen.“
„Unsinn.“
„Doch, ich hätte dich finden müssen.“
„Ich wollte nicht gefunden werden. Und das Beste, was ich hatte, war die Erinnerung an dich.“
Rory schaute Callum in die Augen. „Ist das wahr?“
„Ja, das ist wahr. Du bist der beste Bruder überhaupt.“