Gleich
Wenn man die beiden Brüder so sah, war es ziemlich unglaublich, dass sie so lange getrennt gewesen waren. Nicht nur, dass sie sich auf Anhieb gut verstanden- wenn man genauer hinsah, und das tat Jem, dann bemerkte man auch, dass sie ihre Tasse auf die gleiche Weise hielten oder das gleiche hinreißende Lächeln besaßen. Als sie mit dem Frühstück fertig waren, holte Rory einen Schuhkarton mit Fotos her, die er Callum zeigen wollte. Auch ein Karton, fiel Jem dazu ein. Rorys Karton enthielt jedoch mehr als nur ein Foto. Es waren immerhin ein paar Fotos von den Brüdern als Kinder dabei, sogar zwei mit Callum als Baby und auch von ihrer Mum und ihrem Dad, bevor sich seine Persönlichkeit so radikal zum Schlechten verändert hatte. Rory erklärte, dass er diese Erinnerungen als Einziges behalten hatte, nachdem er die Nachricht vom Tod des Vaters erhalten hatte. „Sonst war da nichts mehr, was ich hätte haben wollen“, erklärte er, „Dad hatte auch nichts mehr, nicht mal 'n Fernseher oder so.“ Callum ließ sich alles auf den Fotos zeigen und erklären. Er hatte keinerlei Erinnerung an die wunderhübsche Frau mit den rabenschwarzen Locken, die ihre Mutter war und man sah es ihm an, dass ihn das traurig machte. „Du warst zu klein“, bemerkte Rory zwischendurch immer mal wieder. Später gab es nur vereinzelte Fotos der Robinson- Jungs, wie das von Callum, aber auch das hörte irgendwann auf. Auf einem Foto war ein kleiner Hund zu sehen, an den konnte sich Cal jetzt doch erinnern. Er hatte seinen Vater angebettelt, dass sie den Welpen behalten durften, nachdem sie ihn ausgesetzt an einer Bank im Park gefunden hatten. Aber ihr Vater hielt nichts davon. „Oh, der war so klein und lieb, aber Dad hat gesagt, er hätte genug zu tun, mit uns“, fiel dem Lockenkopf ein. „Er hat ihn ertränkt“, sagte Rory mit einer Traurigkeit in der Stimme, die Jem zutiefst erschütterte. „Dir hab ich erzählt, dass er weggelaufen ist und jetzt ganz sicher bei lieben Leuten wohnt, wo er es gut hat. Du warst dann tagsüber echt tapfer, aber nachts hast du nur geweint.“
„Daran kann ich mich jetzt erinnern.“ Cals schlichte Worte kamen mit der gleichen Traurigkeit, wie die von Rory. Sein Bruder klappte nun den Deckel auf den Karton. „Warum gehen wir nicht etwas mit eurem Hund vor die Tür? Ich zeige euch Stratford und das Theater, wir reden über schönere Dinge…?“ Callum und Jem waren einverstanden. Das wäre ganz sicher besser, als über der Vergangenheit Trübsal zu blasen. Dann erledigten Rory und Callum den Abwasch, während Jem die Gelegenheit ergriff, um seinen Vater anzurufen. Er erklärte Alexander wo sie waren und was sie da machten und dass sie noch bleiben würden. Jems Dad versprach, sofort anzurufen, wenn sich etwas Neues wegen des Gerichtstermins ergab und Jem versprach, sich bald wieder zu melden. Danach ging’s mit Buster los.
Draußen war tatsächlich das schönste Wetter zum Spazierengehen in Stratford und als grobes Ziel schlug Rory natürlich die historische Innenstadt mit dem Geburtshaus Shakespeares vor. So kamen sie bald über den Avon, auf dem ein paar Ruderer in ihren Booten trainierten und noch mehr Schwäne und Enten schwammen. Die ganze Zeit redeten sie jetzt über alles Mögliche. Rorys Job am Theater, wie er dazu gekommen war und was er daran so spannend fand. Jem erzählte von der Schriftstellerei und dass er sie in letzter Zeit für Callum vernachlässigt hatte. Cal hörte vor allen Dingen zu. Er hatte weder von Theater noch vom Schreiben eine Vorstellung, aber er wollte möglichst viel darüber erfahren. Wenn er sein Leben in den Griff bekommen wollte, dann müsste er auch herausfinden, was er machen könnte, um eigenes Geld zu verdienen. Das müsste doch einfacher zu machen sein, als mit käuflichem Sex. Allerdings war er ohne Schulabschluss und da wäre es sicherlich nicht so einfach einen Job zu finden. Rory hatte nicht nur die Schule beendet, sondern auch eine Ausbildung gemacht. Das war etwas völlig anderes. Als sie irgendwann in einem Cafe‘ eine Pause einlegten, kam Callum die Idee, dass er dafür wahrscheinlich nicht zu blöd wäre. Kellnern zum Beispiel oder so. Zumindest machte der Kellner in dem Laden einen ganz guten Eindruck und schien mit seinem Job zufrieden. „Wie wird man eigentlich Kellner?“, fragte Callum direkt, als der Typ ihnen den Kaffee brachte. Rory und der Kellner schauten etwas überrascht. Jem nicht so sehr. Er kannte Callums direkte Art inzwischen ja nun wirklich echt gut. „Also, naja,“ begann der Kellner, „im Grunde bin ich noch Student und habe den Job hier nebenbei. Da war ein Aushang im Fenster.“ Der Lockenkopf nickte und bedankte sich für die Auskunft. Er hätte nicht vor zu studieren, nur um dann zu kellnern. „Du bist gerade mal zwanzig“, bemerkte Rory, „da kannst du noch 'ne Menge lernen, wenn du das willst und 'ne Ausbildung machen.“
„Ja, aber als was?“
„Ich kann mal am Theater fragen. Da gibt’s ganz sicher was.“
„Das ist voll nett von dir, aber mit Jeremy lebe ich dann ja in London und nicht hier.“
Jem lächelte und hatte sich auch schon so zwei, drei Gedanken gemacht. „Wir finden in London ganz sicher was für dich, wenn du so weit bist.“
„Ich bin so weit.“
„Ich weiß ja nicht“, fand Jeremy, „du solltest dir Zeit nehmen. Und der Prozess ist erstmal das Wichtigste.“
Rory verschluckte sich halb am Kaffee. „Was für ein Prozess?“
Jem wurde direkt verlegen. Das war ihm jetzt unbeabsichtigt herausgerutscht. Bevor er antworten konnte, legte Callum los: „Gegen so einen Blödarsch, dem ich eins über den Schädel gezogen habe.“
Rory schaute jetzt kritisch und erschrocken zugleich. Was sollte das denn heißen? „Du hast doch nicht etwa Leute ausgeraubt, um an Drogen zu kommen?“
Callum blinzelte und zögerte mit der Antwort. Ihm fiel Polyester ein, dem er das Geld für die extra- Daddy-Kink- Scheiße quasi aus dem Portemonnaie gerissen hatte, an den Morgen, als er Jem bestohlen hatte. „Nicht so wirklich“, sagte er dann etwas kleinlaut.
„Was meinst du denn damit? Wieso hast du den Typen niedergeschlagen?“
Jeremy sprang jetzt ein. „Der Mann wollte ihn vergewaltigen.“
Rorys Augen weiteten sich vor Entsetzen. „Waaas?“
„Es war Notwehr“, erklärte Callum.
„Notwehr ist das, was der Typ braucht, wenn ich ihm begegne“, drohte Rory an, „den mach ich fertig!“
Oh, toll, die gleiche Art sich aufzuregen, wie Callum.