Justizia
Alexander lächelte ermutigend, als er sich auf seinen Platz neben Callum setzte. Der Junge sah aus, als habe er wieder etwas Zuversicht gewonnen und tatsächlich fand Alexander sein Plädoyer auch selbst verdammt überzeugend. Nach der schlappen Leistung von Johnsons Anwalt und der noch mieseren Vorstellung seines Mandanten, müsste es nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn die Jury gegen Callum und für seinen Peiniger stimmen würde. Allerdings hatten die Mitglieder der Jury bisher kaum Zeichen der Zustimmung oder Ablehnung irgendwelcher Indizien, Aussagen oder Beweise kundgetan. Wie bei solchen Verfahren üblich, bestand diese Gruppe aus Mitgliedern der Gesellschaft ganz unterschiedlicher Herkunft und sozialer Schicht. Es konnten ein Arzt, eine Lehrerin, eine Schauspielerin, ein LKW-Fahrer, ein Möbelhändler, eine Duchess, ein Zeitungsverkäufer, eine Friseurin- kurz: Es konnten alle möglichen Leute sein und somit kämen auch die unterschiedlichsten Sichtweisen und Einstellungen gegenüber dem uneigentlichen Gegenstand der Verhandlung zum Tragen.
Wenn man versuchte, es vollkommen neutral zu betrachten, und es war Alexanders Job, solche Dinge nach Möglichkeit völlig neutral zu betrachten, egal, wie er zu seinem jungen Mandanten stand, dann ging es um nichts, wenn nicht die Frage der Glaubwürdigkeit. Wem würde die Jury glauben: dem unbescholtenen Bahnangestellten und Familienvater oder dem ehemals drogensüchtigen Sexworker und Homosexuellen? Alexander war nicht naiv. Letzten Endes ging es um Toleranz und die Werte in ihrer modernen, britischen Gesellschaft.
Um sich für das Plädoyer von Higgins zu wappnen, schenkte Alexander sich und Callum ein weiteres Glas Wasser ein. Dann war es auch schon so weit. Wie er selbst zuvor, hatte sich der andere Anwalt vor der Jury aufgebaut und begann seine Rede.
„Meine hochverehrten Geschworenen, Ladies und Gentlemen der Jury!
Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Darum trägt Justizia in der darstellenden Kunst die Augen stets verbunden. Ihre Aufgabe besteht darin, ohne Vorurteile und ohne Berücksichtigung der einzelnen Person, abzuwägen und dann zu entscheiden, in welcher Waagschale sich mehr Recht befindet und in welcher weniger. Das Gewicht in jeder Ihrer Waagschalen allein gibt den Ausschlag. Daher sage ich ihnen: Vergessen Sie alles, was sie über die Vergangenheit oder die Lebensumstände meines Mandanten oder die des Anklägers, Mister Robinson wissen. Es spielt keinerlei Rolle. Halten Sie sich lediglich an die Ihnen vorgelegten Fakten.
Fakt ist: Mister Robinson wurde nicht vergewaltigt. Der Untersuchungsbericht und die Aussage des Arztes, der die Erstversorgung vorgenommen hat, geben keinen Hinweis auf den Akt der Penetration oder Spuren von Sperma. Wir leben in einer modernen Gesellschaft und ein simpler DNA Test hätte nahezu einhundertprozentige Sicherheit gebracht. Also: warum gibt es keinen? Weil die Straftat der Vergewaltigung nicht begangen wurde.
Nun lautet die Anklage auf „versuchte“ Vergewaltigung, Nötigung und Körperverletzung. Aber wo ist der Beweis? Man hat uns Fotos gezeigt, die Verletzungen zeigen, von denen wir nicht wissen können, wann und wie sie entstanden sind. Man hat auf den verstörten Eindruck des Klägers verwiesen, einen körperlich durch den Entzug Geschwächten, der womöglich Realität und Halluzination nur notdürftig auseinander halten konnte. Man hat darauf verwiesen, dass augenscheinlich in dem Büro nichts gestohlen wurde, aber Tatsache ist: Mister Robinson hat den Schlüssel entwendet. Den Schlüssel, der sich in der Obhut von Mister Johnson befand und der Eigentum der British Rail Company war. Er hat mit diesem gestohlenen Schlüssel ein Schließfach geöffnet, das ihm mein Mandant nur zur Verfügung gestellt hat, weil er ihm helfen wollte. Aber Mister Robinson, den mein Mandant für einen hilfsbedürftigen jungen Mann hielt, von dem er nichts erwartete, als ein klein wenig Dankbarkeit, hat sein Vertrauen missbraucht, ihn niedergeschlagen und bestohlen.
Die Konsequenzen für meinen Mandanten, wenn sein Arbeitgeber herausfinden sollte, dass er Firmeneigentum eigenmächtig nutzte, um einem jungen Obdachlosen zu helfen, die haben Mister Robinson nicht einen Moment zögern lassen. Und schlimmer noch: Für die ihm erwiesene Freundlichkeit, denn er hat selbst gesagt, wie wichtig ihm der Inhalt des aufbewahrten Kartons war, revanchierte sich Mister Robinson auf die schlimmste nur erdenkliche Art und Weise, indem er zur Polizei ging, um einer möglichen Anzeige meines Mandanten zuvor zu kommen. Auch hier nahm Mister Robinson keine Rücksicht auf die Konsequenzen. Er wusste nichts über das Privatleben meines Mandanten und weil er einen Schlüssel gestohlen hatte, zerstört er so ohne Bedenken oder Gewissensbisse das Familienglück meines Mandanten.
Ich bitte Sie. Sehen Sie sich die Familie an. Mister Johnson, seine liebende Ehefrau Sharon, die beiden entzückenden Töchter Carrie und Cindy, seinen fast schon erwachsenen Sohn, Sullivan. Der Vater hat seinen Job verloren, die Mutter ist den Blicken und Fragen der Nachbarn ausgesetzt, die Mädchen trauen sich kaum noch zur Schule und der Sohn, der die Unterstützung eines Vaters in diesem, seinem Alter mehr denn je braucht, muss um die Freiheit seines Vaters fürchten.
Lassen Sie es nicht so weit kommen, meine sehr verehrten Geschworenen, lassen Sie es nicht zu, dass die Integrität und das Familienglück eines einzelnen Mannes, der sich nie irgendetwas hat zu Schulden kommen lassen, zerstört wird durch die Rücksichtslosigkeit eines anderen, der sein selbstverschuldetes Elend als Rechtfertigung für Diebstahl und Rufschädigung vor sich her trägt. Lassen Sie sich nicht von Äußerlichkeiten täuschen. Jugend und Attraktivität sind oftmals nur Blendwerk und mehr Schein als Sein. Handeln Sie selbst wie Justizia mit verbundenen Augen und erwägen Sie gut, was für meinen Mandanten auf dem Spiel steht.“
Als Higgins endlich geendet hatte, sah Callum aus, als müsste er sich an Ort und Stelle übergeben. Seine Hände, das konnte Alexander nur zu deutlich sehen, waren zu Fäusten geballt, so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Am liebsten hätte er ihn in den Arm genommen und ihn aus dem Saal geführt, aber dafür mussten sie sich noch etwas mehr gedulden. Nur noch ein wenig mehr.
Higgins stolzierte wie ein Hahn hinüber zu seinem Platz neben Johnson, der seine Hand mit beiden Händen in einer Geste übertriebener Dankbarkeit und –wie Alexander sicher glaubte- voreiliger Zufriedenheit ergriff und rüttelte und schüttelte. Callum war ihm mit den Augen gefolgt und Alexander stellte sich vor, was er jetzt empfinden musste. Wie konnte dieser Johnson so dreist lügen und wie konnte dieser Rechtsverdreher Higgins das mit seinem Berufsethos vereinbaren? Unfassbar.
Richterin Clarke erhob sich jetzt und schaute in die Runde. „Meine Damen und Herren hier im Saal, Ladies und Gentlemen Geschworene. Nach Anhörung der Plädoyers erkläre ich hiermit, dass sich die Jury nun zurückziehen wird, um nach bestem Wissen und Gewissen über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten Mister Johnson zu beraten. Sobald ein Ende dieser Beratung abzusehen ist, werden wir uns hier wieder einfinden, um die Entscheidung zu erfahren und ein Urteil zu verkünden. Nutzen Sie die Gelegenheit für eine ausgiebige Pause. Wir sehen uns dann.“