Frühstück
Rory war der Erste, der am nächsten Morgen, sogar relativ früh, aufstand und beschloss, die Initiative zu ergreifen. Sullivan schlief noch tief und fest auf der Couch, aber Buster wollte ganz eindeutig nach draußen und kam und leckte an Rorys Hand, die vom Sessel hing. Auch aus dem Zimmer von Cal und Jem war nichts zu hören, was ungewöhnlich war, aber ganz sicher brauchten die nach dem gestrigen Tag noch etwas Schlaf. Rory raffte sich also auf und ging ins Bad, wo er schnell duschte und sich fertig machte, dann würde er eine Runde mit dem Labradoodle drehen und Frühstück besorgen. Bestimmt war noch was im Kühlschrank, aber er fand die Idee besser, frische Croissants und Obst für ein ordentliches Frühstück zu besorgen, denn da war ja der Flüchtling von letzter Nacht, der sicher reichlich Hunger hätte. Was sollten sie mit dem nur machen? Mussten sie das der Polizei melden? Immerhin war der Junge noch nicht volljährig und damit in der Verantwortung seiner Mutter, was immer das wert war. Sollte Sullivan selbst ihr Bescheid geben? Vielleicht machte sie sich trotz allem Sorgen oder bereute sogar, dass sie ihn vor die Tür gesetzt hatte. Vielleicht wäre die Mutter immer noch die beste Option für ihn. Rory hatte sich inzwischen angezogen und holte Busters Leine. Sonst war noch immer alles ruhig in der Wohnung und so machte er sich mit dem Hund auf nach draußen.
Als er zurückkam, hörte er das Wasser im Bad laufen und die Stimmen von Cal und Jem. Sie redeten, wahrscheinlich machten sie sich auch Gedanken über ihren Gast. Rory begann also den Tisch zu decken und hatte das meiste fertig, als Cal in die Küche kam. Er trug nur ein Handtuch um die Hüften und lächelte, als er Rory sah.
„Guten Morgen, Bruderherz.“
„Guten Morgen, Langschläfer.“
Rory ließ sich von Cal einen Kuss auf die Wange geben und setzte heißes Wasser für Frühstückseier auf, während Cal auch Buster begrüßte und kraulte.
„Hey, Buz, wie is‘ es mit dem Großen?!“
„Sullivan wird bestimmt gleich wach, geh dir besser was anziehen“, schlug Rory vor.
Cal verdrehte die Augen. „Meinst du, der stört sich dran?“
„Keine Ahnung, der ist siebzehn und fremd hier. Komm, sei nett …“
„Na schön. Aber ich hab‘ keine Ahnung, was du eigentlich meinst.“
Sein Bruder ging sich also anziehen und Rory kam es seltsam vor, dass Cal nicht von allein darauf kam, dass man sich normalerweise nicht so gut wie nackt vor anderen, die man kaum kannte, zeigte. Gleich darauf kam Jem in die Küche. Der trug einen Bademantel, wünschte einen guten Morgen und schnappte sich einen Liter Milch, den er quasi auf ex leerte.
„Ist der Kleine schon auf?“
„Der schläft noch.“
„Ich hab‘ ihm was zum Anziehen ins Bad gelegt. Sein Zeug ist in der Waschmaschine. Wenn ich wiederkomme, sollten wir reden, was wir machen.“ Mit diesen Worten ging der Blonde hinter Callum her. Rory nickte, dann kochte das Wasser und er tat die Eier hinein.
Gleich darauf kam Cal zurück. Er hatte sich eilig in Jeans und ziemlich eindeutig eins von Jems Hemden geworfen.
„Richtig viele Klamotten hast du gar nicht, oder?“
„Mmmh, nee. Da war noch keine Zeit, aber jetzt verdien' ich ja was.“
„Mmmh, ja. Du kannst gern von mir was kriegen. Du bist mein kleiner Bruder.“
„Quaaatsch. Ich brauch nicht viel.“
„Bisher nicht“, redete Rory drauflos und bemerkte, dass Cal das etwas irritierte. „Wenn du 'n Freund hast und seine Familie besuchst oder wenn du zur Schule gehst, dann brauchst du 'n bisschen was. Ich habe nachgedacht, weißt du?!“
„Echt? Worüber?“
„Na, wie das wird mit uns. Also du und Jem und wie ich da 'reinpasse.“
„Na, du passt perfekt. Du bist mein Bruder.“
„Ja, aber ich bleib doch nicht auf der Couch. Du und dein Cowboy, ihr braucht sowas wie Privatsphäre.“
„Was für’n Privatsding?“
„Sphäre, Privatsphäre, also sowas wie `ne Wohnung für euch zwei allein. Da kannst du dann auch nackt rumlaufen oder tanzen, jederzeit, wenn du magst.“
„Wer tanzt nackt rum?“, meldete sich Jem an, der zurück in die Küche kam.
Rory grinste. „Na wer wohl.“
Cal grinste zurück.
„Ich bin dabei Cal zu erklären, dass ich eure Couch räumen werde. Ich muss zurück zur Arbeit und 'n paar Dinge in Strat regeln.“
„Was denn?“, fragte Cal.
„Na, ich bin da hin, weil ich es nicht in London ausgehalten habe. Jetzt ist das vorbei. Also kann ich da wieder verschwinden, sobald mein Vertrag es zulässt. Ich pack meinen Krempel und ziehe wieder hierher. Wo du wieder da bist, will ich in deiner Nähe sein und ich denke, du brauchst mich.“
„Gute Idee“, fand Jem.
Cal strahlte. „Dann brauchst du auch 'n Job am Theater!“
„Den krieg ich schon.“
Jetzt musste Cal seinen Bruder unbedingt umarmen. Das war wirklich eine tolle Lösung, die er sich da ausgedacht hatte. So könnten sie sich immer sehen, wenn sie wollten. Er warf seine Arme um Rory und gab ihm schon den zweiten Kuss auf die Wange. Rory grinste. Daran würde er sich gewöhnen müssen, aber das fiel alles andere als schwer. Inzwischen machte sich Jem daran, allen einen Becher Kaffee einzuschenken.
„Cal oder Rory, geht ihr mal schauen, ob Sullivan schon wach ist?!“
Cal ging und horchte an der Tür. In dem Moment ging sie schon auf und der Teen trat heraus. Er blickte noch immer müde in die Runde, versuchte aber ein Lächeln.
„Ich bin wach, guten Morgen“, sagte er leise, etwas verunsichert, weil ihm wohl gerade wieder bewusst wurde, was passiert war und wo er war.
„Hast du etwas geschlafen?“, fragte Cal.
„Ja, schon. Wie gerädert.“
„Kein Wunder.“
„Geh ins Bad und dann gibt’s Frühstück“, schlug Jem aufmunternd vor.
Sullivan nickte und machte es so. Rory blickte ihm hinterher, dann fing er an, seine Gedanken vom frühen Morgen auszusprechen.
„Was machen wir mit ihm? Polizei informieren? Die Mutter anrufen?“
„Spinnst du? Dann kommt als nächstes das Jugendamt!“ Cal war erschrocken.
Rory schaute etwas hilflos. Natürlich hatte er daran gedacht, aber sie konnten den Johnson- Jungen ja nicht einfach dabehalten.
„Cal, das weiß ich auch, dass die keine echte Hilfe sind, aber er kann doch nicht ohne Weiteres verschwinden, so wie du. Er geht doch bestimmt irgendwo zur Schule und er hat nicht mal 'n Ausweis dabei oder etwas Geld.“
„Wir könnten meinen Dad fragen“, schlug Jem zwischen zwei Schluck Kaffee vor. „Bestimmt weiß der Rat.“
„Vielleicht hat er irgendwelche Verwandte, 'n Onkel oder 'ne Tante, wo er hin kann“, dachte Rory laut weiter.
„Dann wäre er doch zu denen gegangen, oder?“ Die Lösung schien Jem zu einfach.
„Nicht, wenn er sich schämt.“ Cal wusste, wie das ist.
„Was ist, wenn wir jemanden finden“, kam Jem in den Sinn, „von dem wir wissen, dass er es bei ihm gut hat? Es wäre ja auch nur für ein Jahr oder so.“
„Du meinst jemanden wie Roger?“, fragte Rory.
„Oder dich“, fand Jem.
„Du glaubst echt, dass die mir 'n Teen zur Pflege geben?“
„Wieso denn nicht?“
In dem Moment kam der Junge in die Küche. „Ihr redet über mich?“
„Ja, was zu tun ist“, erklärte Cal. „Wir wollen dir helfen.“
Sullivan lächelte schüchtern. Am Morgen jetzt wirkte er zwar noch immer scheu, aber nicht mehr so eingeschüchtert und verängstigt, wie bei der Verhandlung. Er war auch nicht mehr so blass.
„Setzt dich erstmal und dann gibt’s was zum Frühstück“, wies Rory an und reichte dem Teen einen Becher Kaffee. Er setzte sich zu ihnen und schaute in die Runde.
„Danke, dass ich hier sein darf“, sagte er dann.
„Bedank dich bei Callum.“
„Danke.“
Während sie frühstückten kam Rory noch ein weiterer Gedanke. Sullivan könnte seinen Vater anzeigen. Natürlich könnte er das, denn Mister J hatte mit seinem Sohn getan, was er bei Callum nur versucht hatte. Das war strafbar. Aber Rory wusste nur zu gut, warum er das nicht getan hatte und womöglich auch nicht tun würde: die Mädchen, seine Schwestern. Ein Bruder könnte eine Menge aushalten, wenn er sich einbildete, so seine Geschwister zu beschützen. Cal schien zu bemerken, dass Rory nachdenklich und irgendwie traurig wurde. Er kam nur nicht dahinter, wieso.