Angel
Luke gab sein Bestes, in so ziemlich jeder nur erdenklichen Hinsicht. In der ersten halben Stunde lief der ganze Laden erstmal warm, was für ihn bedeutete, dass er erstmal ein paar Typen zu ihren reservierten Lounges brachte und sie mit den ersten Drinks versorgte. Gleich bei seinem ersten Gang zur Bar, um dort die Bestellungen abzuholen, entdeckte er seinen Kollegen vom Yard. Ein kurzer Blickkontakt genügte, um den wissen zu lassen, dass er ihn erkannt hatte. Sie würden nicht reden oder sonst was, nur beobachten. Was sie beobachteten und ob es in einem Zusammenhang mit den Vergewaltigungen stand, würden sie am nächsten Morgen über eine verschlüsselte E-Mail Verbindung austauschen. Kurz sondierte er die Typen an der Bar, dann hatte Ginger alle Drinks auf sein Tablett gestellt. „Alles klar?“, fragte er kurz.
„Ja. Läuft.“
„Gut, denk an Regel Nummer drei.“
„Mach ich.“
„Dann mal los.“
Ginger schenkte Luke noch ein Augenzwinkern und schon war er wieder zurück bei seinen Cocktails. Luke zog ab und stellte irgendwann fest, dass es immer schwieriger wurde, mit dem Tablett sicher anzukommen. Je später es wurde, desto zahlreicher und ausgelassener wurden die Gäste.
„Du bist aber neu hier, stimmt’s?“, fragte ein großer Blonder aus einer Vierergruppe.
„Ja, erster Abend.“ Luke grinste. Das waren dann wohl Stammgäste.
„Oh mein Goooott! Eine Jungfrau!“, rief ein Weiterer.
„Bildet euch nichts ein!“, gab Luke gespielt entrüstet zurück und schenkte ihnen ein nett gemeintes Lächeln.
„So so, na wenn das schicke Halsband nicht nur Show ist, hast du bestimmt schon was erlebt, Darling.“
„Der Gentleman genießt und schweigt.“ Luke wandte sich zum Gehen.
„Jetzt komm noch mal her, Darling“, kam es wieder von dem Blonden.
Luke war nicht schüchtern und ging zu ihm. Da packte der ihn kurzerhand am Hosenbund und steckte ihm da einen zehn Pfund Schein an. „Für dich, Darling.“ Der Typ zwinkerte ihm zu.
Ach, so lief das also. Luke drehte sich um, da bekam er noch einen Klaps auf den Popo. Er machte einen Bootie Shake, der prompt Applaus erntete und zog ab. Das war dann wohl mit Regel Nummer eins gemeint. Eher unwahrscheinlich, dass der Täter zu so einer ausgelassenen Gruppe gehörte. Luke nahm sich vor, die einzelnen Gäste genauer ins Visier zu nehmen. Das allerdings war keine leichte Angelegenheit, denn natürlich waren die ausnahmslos zum Tanzen und Anbaggern da. Auf dem Weg zurück zur Bar kam er an ein paar Typen vorbei, die aussahen, als hätten sie einen Geburtstag zu feiern oder Ähnliches. Einige schenkten ihm neugierige bis gierige Blicke, weil er neu und weil er heiß war, aber das war nur logisch. „Hey du, kannst du tanzen?“
„Ja, kann ich, aber was sagt dir das Tablett?!“ Er hielt das Ding demonstrativ hoch und grinste.
Der Typ verzog gespielt genervt das Gesicht. „Wie wär’s, wenn du bei mir kellnerst, ist doch viel schöner!“
Luke lehnte lachend ab. „Lass mal. Ein ander Mal vielleicht.“
Das wäre schon wahrscheinlicher, dass der Täter bei den Jungs erst abgeblitzt war und es dabei aber nicht belassen konnte. Der junge Sergeant nahm sich vor auf Situationen zwischen zwei Typen zu achten, die wie eine Abfuhr oder vergebliche Liebesmüh aussahen. Von der Art gab es nicht allzu viele.
Ein paar Mal beobachtete er Ginger an der Bar. Er war äußerst beschäftigt und äußerst beliebt. Die Typen, die sich ihre Cocktails von ihm mischen ließen, lehnten zuweilen sehr weit auf dem Tresen und wie bei Luke, steckten auch immer mehr Scheinchen in seinem Hosenbund. Aber auch bei ihm kam es weder zu ernsthaften Flirts noch zu unangenehmen Situationen. Gelegentlich trafen sich die Blicke der beiden, wenn auch nur kurz, so als wolle sich der Barkeeper vergewissern, dass Luke klar kam. Der lächelte dann kurz, was der Rothaarige mit einem kaum merklichen Nicken quittierte. Als der Blonde das nächste Mal hinsah, war es Ginger offensichtlich zu warm geworden und er hatte sein Hemd vorn hoch und hinter den Kopf gezogen, sodass er nun mit freier Brust hinter der Bar weiter arbeitete. Holy Shit! Der Anblick seiner Bauchmuskulatur und die Selbstverständlichkeit, mit der er seinen Adonis- Körper zeigte, jagten Luke direkt heiße und kalte Schauer über den Rücken. Sein unbewusstes Lippenlecken bemerkte er nicht. Auch nicht, dass er, als er abermals Drinks von der Bar holte, etwas zu lang starrte. Der junge Ire grinste: „Is‘ was?“ Luke schüttelte den Kopf, nein es war ganz sicher alles gut, sehr gut, um genau zu sein.
Kurz nach 22.00 Uhr war seine Pause dran. Die anderen Babes hatten ihm als Neuling den Vortritt gelassen und kaum hatte er den Hinterhof des Elysium erreicht, da schaute er sich um, ob er allein war. Er wollte mit Blake telefonieren. Das war längst überfällig. Aber kaum hatte er sein Handy parat, da trat Ginger aus der Hintertür ebenfalls hinaus. Er zündete sich eine Zigarette an und kam lässig auf Luke zu, als er ihn entdeckte. Nach dem ersten tiefen Zug hielt er ihm die Zigarette hin. „Rauchst du?“
„Nicht wirklich. Gib her.“
Der Ire grinste und gab ihm die Kippe. Der Neue zog einmal lang und kräftig durch, dann gab er sie zurück.
„Ist’ n ganz schöner Trubel da drinnen“, fand er.
Ginger nickte. „Du hast schon mal gekellnert.“
„Ich bin keine Jungfrau, nein.“
Der Rothaarige grinste wieder. „Du gewöhnst dich schnell an den Ton hier.“
„Ja. Naja, schwul war ich schon immer, also ist das auch nichts vollkommen Neues.“
„Trotzdem, du bist `n bessren Ton gewöhnt.“ Gingers grüne Augen fixierten ihn kurz, wie um sicher zu gehen, ob er damit richtig lag. Und es stimmte. Woher wusste der heiße Barkeeper das? Und wenn er das bemerkte, hieße das, dass er sich auch mit besserem oder nur mit schlimmerem Ton auskannte? Luke war neugierig.
„Bist du schon lange hier?“, fragte er und angelte gegen seine Gewohnheit nochmal nach der Zigarette.
„Auf der Welt, in London oder im Club?“
„Naja, du wohnst hier. Und Sean scheint dich schon länger zu kennen.“
„Willst du wissen, ob ich was mit Sean hatte?“
„Kannst du nicht einfach antworten?“ Er schaute seinem Gegenüber in die grünen Augen.
„Sorry, ich mag dich und sollte nicht so zickig sein.“
„Also?“ Der Blonde setzte ein charmantes Lächeln auf. Es interessierte ihn wirklich, nicht nur wegen seines Ermittlungsauftrages.
„Ich bin mit achtzehn von Belfast weg. Du kannst dir ja denken wieso. Ein Jahr überall in London, seit vier Jahren hier. Sean fand mich süß und talentiert, als er mich hat tanzen sehen. Aber da ist nichts gelaufen, der ist mit Oscar zusammen und seit es geht, sind die sogar verheiratet.“
„Okay cool. Und bist du solo?“
„Noch ja. Ist besser für’s Geschäft. Und bei dem, was ich mache, kein Wunder.“
Luke war nicht sicher was er meinte. Die Jungs mussten einem Typen wie Ginger doch die Bude einrennen, wenn man ihn so sah und wie er so redete und was er so sagte und überhaupt… Was, bitteschön, machte er? Er schien diese Frage jetzt von Lukes Gesicht abzulesen.
„Wirst du schon noch sehen“, sagte er und trat die Zigarette aus.
Schade. Der blonde Mann schaute ihm hinterher. Dann fiel ihm ein, dass seine Viertelstunde mit einer Zigarettenlänge noch nicht um war und er rief eilig bei Blake an. Das Signal ging viermal, fünfmal.
„Hi, Luke- Schatz. Was machst du, wie ist es, warum meldest du dich erst jetzt?“
Es tat gut, seine Stimme zu hören. Bestimmt hatte er sich bereits Sorgen gemacht. „Ich bin beim Kellnern. Ist ganz schön heavy hier. Die haben mir erst alles gezeigt und erklärt. Ich wohne bei so einem Iren unter’m Dach.“
„Oh, fuck. Hast du kein eigenes Zimmer? Ich dachte, wir könnten wenigstens Telefonsex haben, Babe.“
Luke lachte auf. „Ja, das wär‘ immerhin was. Du… schaffst das schon. Sind nur `n paar Tage.“
„Oh, Babe, ich werd` ganz hart, wenn ich nur an dich denke…“ Blake stöhnte fast ins Telefon, obwohl er nur andeutete, was ihnen entgehen würde.
„Geht mir genauso“, gab der Polizist zurück. „Ich vermisse dich und muss jetzt gehen. Bye, gute Nacht.“
„Bye, Küsschen, Stößchen, Babe.“
Luke drückte die rote Hörer- Taste und ging zurück in den Saal. Irgendwie hatte er es sich anders vorgestellt. Ja, er vermisste Blake. Aber irgendwie anders, als Blake ihn. Sein Freund hatte nicht gefragt, ob der Job gut lief, eigentlich hatte er ihm sogar gesagt, dass es ihm schwerfiel. Und hatten sie dann gerade echt nur über Sex geredet?
Zurück im Club war inzwischen der Hexenkessel am Kochen. Die Musik war noch wilder als zuvor, die Bässe dröhnten, die Gäste tanzten, sangen laut, die Lightshow flackerte und schwirrte. Luke holte nochmal tief Luft und warf sich in die nächste Runde. Zu dieser späteren Stunde bekam er es immer öfter auch mit dem zu tun, was Ginger ihm erläutert unter Regel Nummer drei erläutert hatte. Immer wieder standen angefangene Drinks herum, die der Neue brav einsammelte und entsorgte. Was war mit den Typen los? Wussten die nicht, wie gefährlich das war? Sowas hatten ihm seine Eltern schon beigebracht! Spielte das bei einem gewissen Alkohol- Level keine Rolle mehr? Vielleicht. Luke jedenfalls hielt sich dran und trank nur aus einer Wasserflasche, die ihm Ginger gab und vor seinen Augen öffnete. Die Luft im Raum war zum schneiden dick und eine große Zahl der Gäste trug inzwischen kein Hemd oder T-Shirt mehr. Der unmissverständliche Geruch von Alkohol, Pheromonen und jede Menge Aftershave war zum verrückt werden, wenn man bei all dem nüchtern blieb, so wie er. Die letzte halbe Stunde vor der mitternächtlichen Sandwich- Pause kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor und als es endlich so weit war, fiel er wie ein Wolf über die Teile her. Als sein größter Hunger gestillt war, vibrierte das Handy von Sean in seinem Kellner-Gurt. Er ging ran. „Sean? Hi, hier ist Luke.“
„Weiß ich doch, Luke-Babe. Ich wollte hören, ob es dir gut geht und ob du dich mit Ginger und den anderen verträgst.“
Oh, das war nett. „Ja, ist alles gut. Anstrengend, aber gut.“
„Hach, das ist schön. Und hast du schon was 'rausgefunden? Über diesen furchtbaren Mann, meine ich?“
„Ich glaube nicht. Aber so schnell geht das nicht. Denke ich.“
„Dann pass gut auf, vor allem auf dich, hörst du, Luke-Babe?“
„Ja, danke, das mach ich.“
„Oh, hör mal, das ist Gingers Song!“ Sean klang direkt etwas aufgeregt.
Luke horchte. Da war ein Song mit tiefen Bässen und schwerem Rhythmus, der im Club gespielt wurde. Er kannte ihn nicht.
„Gingers Song?“, fragte er.
„Ja, schnapp dir den Rest vom Sandwich und geh gucken. Er tanzt jetzt. Ciao ciao.“ Damit beendete der Clubmanager den Anruf einfach. Luke blinzelte. Erst dann war die Nachricht angekommen. Aufstehen. Gucken gehen.
Er kam zurück in den Clubraum und wusste sofort, was Sean meinte. Der Song war langsamer als die Musik zuvor und die Menge auf der Tanzfläche wogte wie eins dazu und die Blicke der Tänzer waren auf einen bestimmten Punkt gerichtet. Das war der rothaarige junge Mann auf der Bar. Ginger hatte den Tresen erklommen und geradezu ehrfurchtsvoll nahmen alle, in deren Richtung er tanzte, ihre Drinks herunter und schauten gebannt nach oben, zu dem Schauspiel, das er bot. Da war wieder das Katzenhafte, das Luke sofort bemerkt hatte und sein Körper, der nur aus Muskeln zu bestehen schien, bewegte sich in vollkommenem Einklang mit dem Sound, kraftvoll, biegsam und gelenkig, wie Luke das bei einem Mann kaum für möglich hielt, außer bei einem Profitänzer oder Akrobaten. Jede Drehung, jeder Move, jede Bewegung der langen Arme oder des Kopfes, das alles wirkte mehr als erotisch, das war hypnotisierend, faszinierend. Der Feuerkopf sorgte dafür, dass ausnahmslos jeder im Raum sich gerade vorstellte, wie es wohl wäre, mit ihm, allein… Oh fuuuck. Er brauchte nicht nachzuschauen, er war hart, so wie alle. Ginger wand und räkelte sich auf der Bar, dann kam er wie an Fäden gezogen wieder in den Stand, beim nächsten Mal gar in den Handstand, in die Brücke, was auch immer. Dem jungen Mann stand der Mund offen, er vergaß, seine Lippen zu lecken. Das also war das, was Ginger „machte“, was Luke „sehen“, wo er „gucken“ sollte. Und sehen und gucken traf es nicht im Geringsten. Was das hier tat, war etwas völlig anderes. Es brannte sich dem blonden Sergeanten in die Seele.