Schwuchteln
“Kommst du morgen wieder?”
“Kann ich noch nicht sagen.“ Luke kam von seinen Knien hoch und ging kurz in das ans Büro angrenzende, winzige Bad, um sich frisch zu machen. Wenn er gewusst hätte, dass es nicht ums Kaffeetrinken ging, dann hätte er eine Zahnbürste mitgenommen. Er spülte sich den Mund aus, dann richtete er sich das Haar mit den Fingern zumindest notdürftig. „Seit wann bist du so wild auf mich?“, rief er zurück ins Büro.
„Na, seit du nicht mehr jederzeit für mich da bist! Und das blonde Haar macht mich extra scharf.“ Blake klang, als sei das die logischste Sache von der Welt.
„Das ergibt nicht viel Sinn, ich war doch schon immer mal auf Lehrgang oder über Nacht im Einsatz.“
„Aber nicht in Schwulenclubs, wo dich die Typen anbaggern.“ Blake kam zu ihm und legte ihm von hinten die Arme um die Mitte, küsste ihn auf die Schulter. „Ich möchte dir zeigen, dass du mir gehörst“, flüsterte er Luke ins Ohr. Luke drehte sich zu Blake um und legte seine Hände in sein Haar, um ihn zärtlich zu küssen. Blakes Sorge war irgendwie rührend.
„Du weißt doch, …warum ich das tue und du weißt, …dass ich auf mich aufpassen kann.“ Er küsste ihn wieder und wieder. Jetzt, wo Luke das Tempo vorgab, wurde auch Blake sanfter.
„Wenn ich mir vorstelle, dass dich da wer angrapscht, dann krieg ich zu viel.“ Blake beendete das Küssen.
„Das hat nichts mit dir und mir zu tun. Ich geb‘ da nur den Lockvogel ab, mehr ist es nicht.“
„Trotzdem.“
„Eifersüchtig?“
„Auf einen Laden voller Schwuchteln, die nur auf Frischfleisch warten? Ja!“ Blake steigerte sich ganz offensichtlich in die Vorstellung hinein.
„So ist das da nicht“, erklärte Luke. Ausgerechnet das Wort „Schwuchtel“ fand er ziemlich unpassend. Das traf vielleicht noch am ehesten auf Sean zu, aber ganz bestimmt wäre Queen hier das bessere Wort. Da Blake ungläubig oder gar verächtlich mit den Augen rollte, redete Luke einfach weiter. „Sean, dem der Laden gehört, ist mit einem anderen Mann, Oscar, richtig verheiratet. Der ist total fürsorglich. Und ich glaube, fast alle Mitarbeiter sind mehr als nur Typen, die irgendwie ihren Job machen. Die haben da einen Platz gefunden. Und sie passen aufeinander auf.“
„Einen Platz? In so einem Schwulenclub?! Sie passen auf? Die passen wohl richtig gut aufeinander auf, wenn man einige von ihnen tot auf dem Müll findet.“ Blakes Sarkasmus war nicht zu überhören.
„Deswegen bin ich, deswegen ist der Yard jetzt da. Weil das eben nicht immer … funktioniert.“ Luke würde es gern besser erklären können, aber Blake wechselte jetzt das Thema.
„Es passt mir nicht, dass du dich da herumtreibst. Ich habe Angst um dich.“
„Das ist nicht `rumtreiben oder bin ich neuerdings ein Rumtreiber? Das ist verdecktes Ermitteln.“
„Ich hoffe nur, du weißt, was du tust.“
„Natürlich tu ich das.“ Luke war genervt, aber er wollte nicht streiten. Sein Tonfall signalisierte, dass er nachgab. Es entstand eine kurze Pause, die er nutzte, um ein harmloseres Thema anzuschneiden. „Kannst du Montagvormittag zuhause sein? Da kommt jemand und liest Strom und Wasser ab…“
Im Elysium waren sie wirklich vorsichtig. Es gab einen Aufgang zum Loft im Hinterhaus, der praktisch eine stählerne Feuerleiter war, die man über eine enge Gasse zum Hinterhof erreichte. Die Tür war stets verschlossen und ließ sich nur mit einer Zahlenkombination öffnen, wenn man nicht von innen den Notausgangshebel betätigte. Diese wurde regelmäßig geändert und nur Sean, Oscar und Ginger kannten sie. Nun, neuerdings auch Luke, der zwei schwere Tüten von Tescos hinaufschleppte. Kurz kam ihm dabei der Gedanke, dass er damit nicht gerade Optimismus bewies, wenn er mindestens für eine Woche einkaufte. Aber man konnte auch nicht erwarten, einen Serienvergewaltiger und Mörder innerhalb kürzester Zeit zu schnappen. Wie es aussah, war Ginger ebenfalls ausgeflogen, denn das Loft war leer und Luke räumte einfach erstmal in Ruhe alles in den Kühlschrank. Der junge Ire würde bestimmt bald zurück sein, um sich für den Abend vorzubereiten, aber noch war die Gelegenheit günstig für Luke, um sich ein wenig umzuschauen. Das klang in Gedanken jedenfalls besser als herumschnüffeln. Als Erstes fiel ihm die chinesische Kiste ein. Er öffnete den Deckel und fand darin zu seiner Überraschung nichts Außergewöhnliches, wenn man schon wusste, dass sie die Outfits für den Job enthielt. Der Stil der Kleidung entsprach dem, was Luke kannte. Cool, Lederlook, ein bisschen Hardcore, aber noch nicht BDSM. Es gab mehr Gürtel, lediglich auch zwei Shirts in rot und ein paar fingerlose Lederhandschuhe und Lederarmbänder für die Oberarme. So weit so gut.
In Gingers Erker wagte er nicht etwas anzufassen. Nicht, bevor er sich nicht genauer eingeprägt hatte, welche Dinge wo hingehörten. Er schaute sich also nur genauer um. Es hingen Fotos an den Wänden, jedoch keine Familienfotos, Freunde oder Ähnliches. Eher Momentaufnahmen vom Londoner Straßen- und Nachtleben. Es gab einen kleinen Bücherstapel, der aussah wie vom Flohmarkt und einen warmen Pullover, der neben dem Fenster an einem Haken hing. In einem kleinen Nachtschrank, der das Einzige war, was Luke aus Neugier doch öffnete, lagen ein paar Kondome und eine Tube mit Gel. Es hätte ihn auch gewundert, wenn das nicht so gewesen wäre. Es gab keine Hinweise auf irgendwelche speziellen Vorlieben wie Dildos oder Handschellen und wieder kam sich Luke schäbig vor, obwohl er hier gerade lediglich seinen Job tat. Unten in der der Wohnzimmerecke gab es ein Sideboard mit Fernseher und Musikanlage, in dem Luke ein paar DVDs und CDs entdeckte. Die kleine Sammlung enthielt ein paar eindeutige Hinweise auf Gingers Homosexualität - Wer hätte nicht „Maurice“, „Mein wunderbarer Waschsalon“ oder Frankie Goes to Hollywood? – sonst waren da ein paar Klassiker und aktuellere Filme und natürlich hörte Ginger U2. Bei all dem war Luke nun fast ein wenig enttäuscht, weil er so nicht mehr über den jungen Mann herausfand. Da war nichts, was als ein weiterführender Hinweis auf seine Herkunft oder Vergangenheit getaugt hätte. Er gab fürs Erste auf und machte dann in der Küche ein paar Spaghetti Carbonara. Bald darauf hörte er Gingers Trippe auf der Feuerleiter draußen und gleich danach die Tür.
„Luke, bist du schon da?“, rief er in den Loft hinein.
„Hier, ich mach was zu essen.“
„Hi.“
„Hi.“
„Wusste nicht, dass du so sowas kannst.“ Ginger war jetzt bei Luke, schaute ihm neugierig lächelnd über die Schulter und sah, was der Blonde da in der Pfanne zusammenrührte.
„Ich dachte, ich mach was für dich und mich, wo ich schon einkaufen war.“
„Das sieht ungefähr hundertmal besser aus als das, was ich hinkriege.“
„Was wäre das denn?“
„Im Ernst? Bratkartoffeln. Nordirische Variante.“
„Was macht die Variante nordirisch?“
„Mit Stückchen von protestantischen Engländern drin.“ Ginger verdrehte scherzhaft die Augen.
„Ja, klar“, kommentierte Luke und grinste. Irgendwie wäre das witziger gewesen, wenn er nicht hier wäre, warum er hier war. Gleichzeitig schien auch Ginger den Spaß an seinem eigenen dummen Witz verloren zu haben.
„Fuck, tut mir leid. Das war blöd. Das ist vielleicht in Belfast zum Lachen, aber hier…“, suchte Ginger verlegen nach Worten. „Ich muss ständig an diese Scheiße denken.“
Luke blinzelte. Ihm war natürlich klar, was der Rothaarige meinte. Vielleicht gab es ja etwas, was er erzählen wollte und so beschloss der junge Sergeant vorsichtig nachzuhaken. „Hast du einen von den Jungs gekannt?“, fragte er und fürchtete, damit quasi durch die Tür ins Haus zu fallen, aber Ginger schien sich an der direkten Frage nicht zu stören. Er schüttelte den Kopf. „Nein, jedenfalls nicht mit Namen oder so. Der Letzte, den sie noch lebend gefunden haben, an den kann ich mich erinnern, weil er dann in der Zeitung war. Sehr hübsch, hat viel gelacht. Wenn von den anderen dreien auch einer hier war, dann weiß ich’s nicht. Aber ich glaube, die Polizei geht davon aus, dass der Typ sich seine Opfer hier sucht. Die Bullen waren ein paar Mal hier und haben alle vernommen.“
Luke nickte. „Ist echt heftig. Haben die euch gesagt, dass ihr aufpassen sollt?“
„Pfff, nein“, prustete Ginger, „das mussten die gar nicht. Meinst du Sean oder Oscar oder irgendwer hier würde nicht alles tun, um sowas zu verhindern? Kannst du dir vorstellen, was die Jungs durchgemacht haben? Ich mag mir gar nicht rein tun, was der alles mit denen gemacht hat. Und dann dieses Scheißzeug, das er ihnen gibt. Die kriegen mit, was er tut und sie fühlen die Schmerzen, aber sie können sich nicht bewegen oder schreien. Fucking hell, was für ein Vieh macht sowas?“
Luke war von Gingers Worten tief bewegt. Die Fakten waren nicht neu, aber wie er es sagte, machte es das Grauen nur allzu deutlich. „Das kann nur ein völlig Durchgeknallter sein…“, überlegte er laut.
„Kannst du dir das Grauen vorstellen? Der Erste hat vielleicht Hoffnung, das irgendwie zu überstehen, vielleicht auch der Zweite, aber die danach haben aus der Zeitung gewusst, wer sie da quält und dass sie keine Chance haben…“ Ginger brach hier ab und Luke konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der junge Ire womöglich wusste, wovon er sprach.
„Du meinst", formulierte er dann seinen nächsten Gedanken, „dass sich das alles noch ... irgendwie... gesteigert hat?" So hatte Luke es noch nicht gesehen und er würde ganz sicher die Typen vom Yard davon in Kenntnis setzen.
"Ja. Ganz sicher kriegt der Typ davon einen Kick, nicht nur vom Vergewaltigen, auch vom Foltern.“
„Aber dann ist ja die Tatsache, dass Jamie überlebt hat etwas, das wieder Hoffnung gibt, findest du nicht?" Er war nicht ganz sicher, warum er das sagte, aber er wollte, dass sich Ginger ein wenig besser fühlte. Vielleicht half das. Ginger schaute Luke etwas kritisch an und versuchte wohl abzuschätzen, ob es ihm ernst war und ob er das glauben könnte. Aber das konnte er wohl nicht.
„Wenn das eins bedeutet", brachte Ginger mit erstickter Stimme hervor, „dann, dass er nicht gründlich genug war, beim letzten Mal. Er... wird noch brutaler werden."
Luke zog den Atem zischend ein. Es war zu befürchten, dass es so wäre. „Fuck!"
„Ja, fuck. Pass bloß auf nachher. Vor allem auf dich, hörst du?! Was tust du überhaupt an diesem Ort, kannst du nirgends anders hin?"
Luke würde nicht schon wieder lügen. „Glaub mir, ich muss jetzt genau hier sein. " Damit sah er Ginger fest in die Augen.