Vater
Die vom Yard hatten keine wirklich brauchbaren Neuigkeiten. Der Bericht des Kollegen vom Abend zuvor enthielt keine besonderen Vorkommnisse, die Forensiker hatten keine neuen Hinweise und Patrick Foggerty aus Belfast war nicht so einfach ausfindig zu machen, wie Luke sich erhofft hatte. Offenbar hatte er sein Studium abgebrochen und war weggezogen, etwa ein Jahr nach Gingers Flucht. Es wurde geprüft, ob er bei Eltern oder Verwandten untergekommen war und was die über seinen Verbleib wussten. Das war insofern eine gute Nachricht, als es ihn als Täter nicht ausschloss, was eine Heirat und zwei Kinder oder ein gemeldeter Aufenthaltsort schon eher getan hätten. So gesehen war die Spur noch immer heiß, auch wenn sie noch nirgendwo hingeführt hatte. Ein Foto von Patrick aus dem Jahrbuch seiner Uni zeigte einen attraktiven Typen mit haselnussfarbenem Haar und dunkelbraunen Augen. Er lächelte nett in die Kamera und Luke fiel es schwer, sich vorzustellen, dass dieser junge Mann sich zu einem Missbrauchstäter entwickelt haben sollte, der seinen jüngeren Freund schlug und schließlich sogar mordete. Er schickte sich selbst das Foto auf sein Handy, um es Oscar und später den anderen Jungs von der Security zu zeigen. Danach schlüpfte er schon mal in seine Arbeitskleidung, wobei er sich für eines der roten Shirts entschied. Er wollte auffallen, je mehr desto besser.
Dann ertappte er sich bei dem Gedanken, dass dies der Moment wäre, Blake anzurufen. Unter anderen Umständen zumindest, wäre er das. Inzwischen allerdings würde so ein Anruf nur wieder in einem Streit enden und das wäre für nichts gut. Luke schaute sich ein Foto auf dem Handy an, das ihn und Blake vor etwa drei Wochen auf einer Geburtstagsfeier bei Freunden zeigte. Da war noch alles in Ordnung. Blake schaute direkt in die Kamera und hielt Luke im Arm, der ihm gerade einen Kuss auf die Wange drückte. Die Feier hatte lang gedauert und beide hatten getrunken und hinterher ein Taxi genommen, das sie zu Blakes Wohnung gebracht hatte, wo sie sich geliebt hatten bis der nächste Morgen anbrach. Luke wusste da schon, dass er sich für den Yard in der Clubszene einschleusen lassen würde. Nur zögerte er noch, es Blake zu sagen. Er wusste, dass es Blake belasten würde. So zumindest hatte er es sich damals erklärt. Jetzt war er sich da überhaupt nicht mehr sicher. So wie sich Blake verhalten hatte, schien es ihm nicht zu passen, wenn Luke sein eigenes Ding machte, wenn er etwas machte, was Blake nicht in den Kram passte, wenn Blake … nicht die Kontrolle hatte. War es wirklich so krass? War er so blind gewesen, das nicht zu bemerken? Er seufzte, steckte sein Handy ein und ging nach unten, wo es noch Reste von Gingers Torte gab.
Luke berichtete das Wenige, was es zu berichten gab und merkte sehr wohl, dass Sean und Oscar ihn quasi unter die Lupe nahmen und so kam er sich beinahe vor wie bei einem Kaffeekränzchen mit den zukünftigen Schwiegereltern. Nur waren das nicht Gingers Eltern und er und Ginger waren auch kein Paar, oder? Sean schaute immer wieder mit einem Grinsen zwischen Luke und Ginger hin und her. Er zumindest schien sich da absolut sicher zu sein. Was Oscar von der Sache hielt war da schon schwieriger einzuschätzen. Erstens war er nicht der Typ, der so oft grinste und zweitens war er ähnlich wortkarg wie Ginger.
„Wenn das wirklich dieser miese Typ aus Belfast ist, dann wird’s Zeit, dass der seine gerechte Strafe erhält“, fand Oscar.
„Wer immer das ist, wir müssen ihn erst erwischen“, gab Luke zu bedenken.
„Da wart ihr bisher wirklich nicht sehr erfolgreich.“
„Nein, leider nicht“, musste Luke gestehen. „Das muss jemand sein, der bisher nicht mit der Polizei in Berührung gekommen ist. Es gibt genügend DNA Spuren. Der schert sich einen Mist darum. Aber beim Vergleich mit unserer Datenbank hat sich nichts ergeben.“
„Du meinst, der hält nichts von Safer Sex?“, mischte sich Sean dazu.
„Warum sollte er, wenn er die Jungs sowieso umbringt?“, hakte Oscar nach.
„Na, er könnte sich theoretisch bei den Jungs was holen“, dachte Luke jetzt laut. „Wenn ihm das ebenso völlig egal ist, dann haben wir es vielleicht mit jemandem zu tun, der entweder völlig gaga ist, abgesehen davon, dass er sowieso ein Psychopath ist oder mit jemandem, der bereits HIV positiv ist.“
„Wie sicher sind eure Datenbanken?“, warf Ginger ein.
Luke schaute ihn mit einiger Überraschung an. „Sicher, würde ich sagen. Wir sind der Yard.“
„Und ihr vom Yard könnt da rein und wer noch?“
„Sonst keiner. Es sei denn, er ist ein ziemlich guter Hacker.“ Luke schaute zu Ginger. „Traust du deinem Ex das zu?“
„Den Yard hacken? Vielleicht. Jungs ohne Vorsichtsmaßnahme vergewaltigen? Ja.“
„Was ist mit HIV?“, fragte Oscar nach.
„Ja, sicher. Das auch.“
Kurz bevor die Schicht im Club begann, checkte Ginger nochmal sein Outfit, sowie das von Luke. Das rote Muskelshirt saß bei im enger, als es bei Ginger sitzen würde, der als Tänzer insgesamt etwas zierlicher war als der junge Sergeant. „Du wirst in dem Ding noch mehr auffallen, als sowieso schon“, sagte er leise und es kam Luke so vor, als hörte er da eine gewisse Besorgnis mitschwingen.
„Ich will auffallen, weißt du doch“, gab er zurück.
„Ich weiß. Aber es gefällt mir nicht.“ Ginger schaute ihm in die Augen, wie um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen.
„Es ist dein Job, deswegen bist du hier, aber bitte tu' mir einen Gefallen und pass gut auf ich auf. Ich will nicht, dass du in einem Graben endest.“
Luke realisierte jetzt, was Ginger gerade bewegte. „Das wird nicht passieren. Ich passe auf, ich trinke nichts, was nicht von dir kommt und ganz bestimmt werde ich hundert Jahre alt, okay?“
„Okay.“ Die Stimme des Rothaarigen war nicht viel mehr als ein Flüstern und er wandte den Blick noch immer nicht ab. Dann machte er etwas, womit Luke ganz sicher nicht gerechnet hatte. Er küsste sich selbst auf die Innenseite von Zeige- und Mittelfinger und legte sie so auf Lukes Lippen. „Ich werde dich beschützen“, fügte er dann noch leiser hinzu. Luke wusste nicht, was er auf diese gleichsam schöne wie rätselhafte Geste sagen sollte. Danke? Eigentlich ist das meine Aufgabe, dich zu beschützen? Bist du wirklich ein Engel?
„Gabriel, ich …“, brachte er heraus, dann hielt er jedoch inne, weil er diesen besonderen Moment nicht mit Worten stören wollte. Stattdessen wiederholte er die Geste, küsste seine eigenen Finger und legte sie Gabriel auf die Lippen. Der lächelte zum Dank.
Samstagabend im Elysium glich einem Hexenkessel, wenn es denn irgendein beschreibendes Wort dafür gab. Die Bouncer hatten das Bild von Patrick Foggerty bekommen, aber was das bringen sollte, wenn der sich verändert hatte, war völlig unklar. Oscar hatte ihnen die Anweisung gegeben, nach Möglichkeit einzelne Jungs, die dem Typ des Opfers entsprachen, aufgrund irgendwelcher Vorwände nicht hineinzulassen. Ihm war egal, was. Uncoole Frisur, uncoole Klamotten, uncooles Verhalten … Das sorgte für reichlich Unmut am Eingang, aber es wäre besser, als zu viele Blonde und Rothaarige im Club, auch wenn es reichlich unwahrscheinlich war, dass der Täter direkt am nächsten Abend wieder zuschlagen würde. Big Bob und Tiny Tim bauten sich in voller Breite auf und verweigerten immer dann den Zutritt, wenn ein neuer fadenscheiniger Grund halbwegs plausibel erschien.
„Sorry, Süßer, aber wir haben heute keinen Single- Bedarf.“
„Was willst du hier mit deinen Turnschuhen? Ab, weg mit dir!“
„Was soll das sein? Neunziger Jahre Retro- Chic? Geh nach Hause und hör da Take That!“
„Hältst du das hier für `nen Kindergarten. Geh mit Mami spielen, du Jungschwuppe.“
„Du warst gestern erst hier, verzieh dich!“
Luke gab sich die allergrößte Mühe, so viel wie möglich zwischen der Bar und den Tischen hin und her zu wechseln und immer wieder mal eine andere Route einzuschlagen. Aber das war ähnlich ergebnislos, wie an den anderen Abenden zuvor. Wer immer der Killer war, er fiel nicht auf. Rein theoretisch war es nicht logisch anzunehmen, dass er eine hundertprozentige Trefferquote hatte. Es wäre kaum möglich, an demselben Abend einen jungen Typen anzubaggern, der dann auch noch einen biblischen Namen trug. Es müsste so sein, dass er flirtete, anmachte und einen Rückzieher machte, wenn der Name des Auserwählten Bruce oder Felix war. Das zumindest müsste doch auffallen: ein heißer Flirt, der schlagartig abgebrochen wird. Vorausgesetzt, dass der Täter dann abbrach. Vielleicht machte er weiter bis zu einem gewissen Punkt, wenn ein Abbruch nicht auffiel. Vielleicht ging er mit einem Bruce oder Felix trotzdem irgendwohin, wo sie Sex hatten, aber er quälte und mordete nur die Aarons und Jeremys? Wer konnte das sagen …
Ein größerer Tumult am Eingang zog Lukes Aufmerksamkeit auf sich. Da war irgendetwas im Gange, was sich von der üblichen Prozedur unterschied, ebenso wie von der Verfahrensweise des Abends. Man konnte Bob hören, wie er versuchte, jemanden zu beruhigen. „Sir, nein, sie können da nicht rein. Wir tun nur unsere Pflicht.“
Luke reckte den Hals, um mehr zu sehen, als er sich dem Eingang näherte. Tim und Tommy Lee hielten einen Mann, der sich in ihren Griff wand und schnaubte. „Lasst mich da rein, ich will es sehen!“
Bob wirkte irritiert. „Da gibt es nichts zu sehen, jedenfalls nicht, wenn Sie kein Gast sind.“
„Lasst mich da rein, verdammt! Ich muss es sehen!“
Bob telefonierte jetzt. Wahrscheinlich holte er Oscar. Luke war inzwischen bei dem Tumult angekommen. Der Mann sah nicht aus wie ein Typ, der sich im Club vergnügen wollte. Er war älter als die meisten, aber das war es nicht. Die Kleidung sagte nicht Clubgänger, die sagte eher Büromensch, etwas bieder, untere Mittelklasse.
„Was ist hier los?“, fragte Luke und allein die Tatsache, dass jemand sich danach erkundigte, schien den Mann etwas zu beruhigen.
„Ich will da rein!“, wiederholte er und Luke fragte sich, ob der Mann vielleicht verwirrt war, weil er das immer wiederholte. Auch wirkte er extremst aufgebracht, atemlos, aber doch wahrscheinlich nicht, weil er von Bouncern eines Gay Clubs abgewiesen wurde. Er sah nicht aus, als wäre er einer von ihnen.
„Sir, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Es geht Ihnen nicht gut, Sir.“ Luke schaute Tim und Tommy Lee an, die den Griff nun etwas lockerten. Der Mann atmete jetzt etwas leichter. Dann veränderte sich sein Blick und er begann plötzlich zu weinen. „Nein, nein, mir geht es nicht gut. Mir geht es hundeelend. Lasst mich rein, ich will es sehen.“
„Was wollen Sie sehen, Sir?“ Luke legte ihm eine Hand auf die Schulter und sah ihn direkt an. Oscar war inzwischen auch bei ihnen und bat Bob, ein Glas Wasser zu holen.
„Ich glaube, ich weiß, wer Sie sind, Mister“, sagte der ältere Bouncer. „Sie sind der Vater, richtig? Von dem toten Jungen?“
Der Mann weinte jetzt umso mehr. Oscar hatte ins Schwarze getroffen. „Bringen wir ihn hier weg“, schlug Luke vor. „Kommen Sie, Mister Baker.“
Oscar gab ein Zeichen, worauf Bob und Tim so etwas wie eine Gasse bildeten, durch die Luke und Tommy Lee Mister Baker nun tatsächlich hineinführten. Aber nicht zur Bar oder zur Tanzfläche, sondern in den Raum hinter der Bar, wo es immer die Sandwiches gab. Dort ließen sie ihn auf einem Stuhl nieder und Luke gab dem Vater noch ein Glas Wasser. Dann gingen die drei jüngeren Bouncer, nur Luke und Oscar blieben bei Mister Baker.
„Was können wir für Sie tun, Sir?“, fragte Luke behutsam.
„Ich will meinen Jungen zurück! Meinen Jungen … Andy … ich will ihn zurück …“