Aufwachen
Von einem Augenblick auf den nächsten war es, als hätte Lukes Kraft nur so lange gereicht, wie es unbedingt notwendig war, um Gabriel und sich selbst in Sicherheit zu bringen und den Polizisten die entsprechenden Hinweise zu geben, die sie zu dem verlassenen Haus im Nirgendwo führen würden. Kaum war das geschehen, da schien plötzlich alles um ihn herum zu kreisen. Das Letzte was er wahrnahm, bevor er das Bewusstsein verlor, war, wie zwei der Sanitäter, die den blutenden Engel auf dem Rücksitz versorgten, damit begannen, ihn vorsichtig auf eine Trage zu hieven. Luke sah, dass er die Finger bewegte. Dann wurde alles schwarz.
Als er wieder etwas erkennen konnte, war das ganz eindeutig ein Krankenhauszimmer. Er sah etwas verschwommen Monitore über sich, sowie Schläuche und da waren Geräusche, die irgendwie mechanisch klangen. Leises Piepen … Eine Frau war da, die lächelte und weinte gleichzeitig und ein Mann war bei ihr, der sie im Arm hielt und tröstete. Waren das seine Eltern? Er verstand nicht, was sie sagten, warum sie so besorgt waren. Dann wurde erneut alles schwarz.
Irgendwann wurde es wieder heller, er fand sich in demselben Raum wieder und da war noch jemand anwesend, dessen Umrisse er zunächst nur unscharf erkennen konnte. Er zwinkerte ein paarmal und sah nun, dass es Oscar war. „Luke- Babe, bist du wach?“
Er war sich nicht ganz sicher. „Mmmhhh“, gab er zumindest mit einem Laut von sich.
Der Mann wertete das als ein Ja. „Das ist gut. Ihr seid beide in Sicherheit. Ginger ist gleich nebenan. Verstehst du?“
„Mmmhhh.“
„Sean ist bei ihm. Wir wechseln uns ab mit deinen Eltern. Jetzt wo du wach bist, rufe ich deine Mum an, dann kommen die sofort wieder.“
Was Oscar da erklärte, verstand Luke nur im Ansatz. Das Wichtigste hatte er noch nicht mitgekriegt.
„Gab…rrri…?“, brachte er mühsam hervor, aber es genügte, denn der Mann verstand.
„Es wird. Gabriel hatte eine Operation an seinem irischen Dickschädel und sie haben ihm mehrere Knochen gerichtet. Aber das wird ihn über kurz oder lang nicht vom Tanzen abhalten.“
„Bbbb…?“
„Blake?“ Oscar atmete einmal laut vernehmlich ein und aus, bevor er weiter sprach. „Tut mir leid, dass er das war. Das hat uns alle völlig geschockt. Die haben ihn in diesem Haus gefunden, aber konnten ihm nicht mehr … helfen.“
„Ooh…“
„Ja, du sagst es.“
Das dritte Erwachen war endlich wirklich eins. Es war Luke egal, wie lange das alles gedauert hatte und was der Arzt sagte oder was Superintendant Waterford ausrichten ließ. Seine Mum und sein Dad sahen ihn an, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank.
„Mum, ich muss aufstehen, ich will zu ihm“, wiederholte er kurz und knapp und sah, wie sein Vater nervös nach der Krankenschwester Ausschau hielt. „Dad, hilf mir lieber, damit ich nicht die ganze verdammte Station absuchen muss!“
Robert Sherman sah seine Frau Kate an und zuckte dann nachgebend mit den Schultern. „Was soll’s, Kit, hol bitte die Schwester, damit sie ihn von diesen Schläuchen abmacht.“
„Danke Dad.“
„Wenn du für jemanden wie ihn dein Leben riskierst, dann muss er es wohl wert sein.“
Luke bestand darauf, das Zimmer nebenan, in dem Gabriel lag, allein zu betreten.
„Bitte, ich brauche ein bisschen Zeit mit ihm, okay?“
Seine Eltern schauten ihn an und schienen zu verstehen. „Dein Dad und ich, wir bleiben noch. Wir warten hier.“
„Ist gut.“
Luke trat vorsichtig ein. Das Zimmer war wie seins, ein Bett, Monitore, zwei einzelne Stühle, nur war das Fenster mit Jalousien etwas abgedunkelt. Am Ende des Bettes war ein silberner Luftballon festgemacht, auf dem stand mit Regenbogenfarben geschrieben „Get well soon“. Der junge Mann musste unwillkürlich lächeln, denn einen deutlicheren Beweis dafür, dass Sean mit Oscar hier gewesen war, gab es wohl kaum. Der andere junge Mann im Bett schien zu schlafen, denn er rührte sich nicht, nur sein Brustkorb hob und senkte sich, eigenständig und ganz ruhig. Luke war erleichtert, aber noch längst nicht ohne Sorge. Der Kopfverband war seltsam, denn er erblickte zunächst nichts von dem roten Haar, erst, als er näher kam, sah er ein paar Locken am Rand herauslugen. Gabriels Gesicht war teilweise noch sehr geschwollen, was bei seinen Verletzungen kein Wunder war. Der rechte Arm war an der Schulter gerichtet und mit einer Schlaufe vor der Brust fixiert. Der linke lag einfach neben seinem Körper und Luke setzte sich auf eben der Seite zu ihm aufs Bett und nahm seine Hand, an der sich ein Schlauch befand. Er würde ihn nicht wecken. Er würde einfach warten, bis er aufwachte.
Luke musste kurz eingenickt sein, während er auf der Bettkante saß, doch jetzt weckte ihn ein leichter Druck an seiner Hand. Das war Gabriel, der ihn da drückte, ganz eindeutig. Er hatte die Augen geöffnet, und schaute mit so etwas wie einem leichten Lächeln auf Luke. Dessen Freude und Erleichterung ließen ihn ebenfalls lächeln und er beugte sich zu ihm herüber, damit er ihn besser sehen konnte. Eines seiner Augen war noch immer halb zugeschwollen und ganz sicher konnte er nicht viel erkennen, aber er erkannte den Mann auf seinem Bett.
„Hhhey, Luuke“, hauchte er leise und es tat so gut, seine Stimme zu hören.
„Hey, du“, sagte der Blonde schlicht, aber überglücklich. „Du hast mir einen riesen Schrecken eingejagt, du.“
„Wwer? Ich?“
„Ich kenne sonst niemanden, der sich mit meinem Serienmörder-Ex-Freund einen Kampf geliefert hätte.“ Wie er das sagte, strich er mit einer Hand sanft über Gabriels Wangen.
„Ach, das …“ Der junge Ire musste husten. Es war wohl anstrengend für ihn, überhaupt zu reden, aber seine Augen hatten Luke jetzt genau im Blick. Er sah trotz allem nicht weniger glücklich aus als Luke.
„Hier, trink etwas.“ Er hatte auf dem Tischchen neben dem Bett eine Schnabeltasse gefunden und eine Flasche Wasser. Das füllte er ein und gab dem Engel etwas davon, indem er seinen Kopf vorsichtig anhob und ihm die Tasse an die Lippen führte. Gabriel trank beinahe gierig, er war wirklich durstig.
„Geht’s besser?“
„Ja.“
„Kannst du reden?“
„Ja.“
„Ich meinte so mehr als ein oder drei Worte.“
Gabriel lächelte schief, also hatte er die Anspielung sehr wohl verstanden. „Wo soll ich anfangen?“
„Wie hast du den Mistkerl fertig gemacht?“ Erst als er sich selbst hörte, realisierte Luke, dass er es wirklich so sah. Das war Blake, dieser Mistkerl. Der Mann mit dem er zusammengelebt hatte, mehr als ein Jahr lang. Und er hatte das nicht bemerkt. Wann hatte sich Blake in dieses Monster gewandelt? Oder war er es die ganze Zeit gewesen? Er schob die Gedanken beiseite, denn die Frage, die er gestellt hatte, war ihm in diesem Augenblick viel wichtiger. Er drückte Gabriels Hand und schaute ihn an, wie er zu reden begann.
„Ich hab' dir doch von … Patrick erzählt.“
„Ja, das hast du.“
„Ich hab mir geschworen, dass sowas nie wieder passiert.“
Bei diesen Worten schnürte sich Luke die Kehle zu und er hätte heulen können, aber er riss sich zusammen. Das war nicht seine Schuld, dass dies alles passiert war. Es fühlte sich nur trotzdem so entsetzlich an. „Was hast … du gemacht?“, fragte er noch einmal.
„Als ich kapiert habe, dass der uns sonst beide umbringt, hab ich getan, was ich bei Patrick auch getan habe … Ich … Du weißt doch, wie gut ich mich bewegen kann und … ich kann zuschlagen, wenn ich muss.“
Das wusste der junge Sergeant natürlich. Er hatte beides gesehen und genau so war es. Aber das erklärte noch nicht, was Gabriel getan hatte. „Ja, ich weiß.“
„Ich hab‘s gemacht wie in Belfast. Mir die rechte Schulter ausgekugelt, mit einem kräftigen Rums gegen die blöde Heizung. Ich sagte doch, du sollst mir vertrauen … Dann hab ich gewartet, bis er kam. Und als er kam, ist es dann losgegangen. Ich hab ihn provoziert, damit er auf mich losgeht, nicht auf dich. Und einen Mann mit gefesselten Beinen kannst du schlecht ficken, also hat er die Fußfesseln losgemacht. Als du dann 'rumgeschrien hast, hab ich meine Arme nach vorn gekriegt und bin auf ihn los. Würgegriff von hinten, mit links, bis er schlaff geworden ist. Dann hab ich ihn vor die Heizung geknallt. Keine Ahnung wie oft, damit er nicht wieder wach wird.“
Luke war geschockt und fasziniert zugleich. „Du hast ihn … so …!?“
„Ja, muss ich dafür in’n Knast?“
„Für Notwehr? Nein. Ich wusste nicht, dass du so … sein kannst.“
„Hab doch gesagt. Wenn ich muss.“
„Ja, das hast du.“