1. Ein Bruder, fünf gebrochene Finger
Helenes Finger flogen über die Tasten des Klaviers.
Ihre Augen waren verengt, als sie nach unten auf die Tasten des Musikinstrumentes schaute.
Mit jeden Tastandruck reihte sich Ton um Ton in eine souverän fließende Melodie zusammen.
Umso weiter sie in dem Musikstück kam, umso mehr rückte das Zimmer und die Geräusche um sie herum ins Nichts und verschwanden.
Und plötzlich war nur noch geballte Konzentration übrig.
Dieser Zustand hielt bis zur letzten Note an, die sie etwas länger hielt als die anderen und dann im Raum ausklingen lies.
Dann war es still.
Der plötzliche Applaus ihrer Mutter neben ihr erschreckte sie.
Wie lange stand sie schon da?
„Wunderbar, Helene!" rief sie begeistert und ihre blauen Augen glänzten.
„Man merkt wie dir die Melodie der Nationalhymne ins Blut übergegangen ist. Dein Vater wird begeistert sein, wenn du das heute Abend vorträgst."
Helene setzte sich gerade hin und hob ihre Nase in die Luft.
„Vielen Dank, Mutter."
Der Applaus erstarb und der Blick ihrer Mutter wanderte, dann in Richtung der digitalen Uhr an der Wand.
16:10
Sie zog erschrocken die Luft ein.
„Oh, es ist schon so spät? Mach dich so langsam mal fertig. Die Feier beginnt in zwei Stunden und ich muss mich noch umziehen und mich um meine Frisur kümmern."
Helenes Mutter fuhr sich mit den Händen durch ihre völlig glatten glänzenden Haare und eillte dann in Richtung der Tür zum Flur.
„So kann ich mich doch nirgends sehen lassen!"
Sie öffnete die Tür, wandte sich dann aber noch einmal zu ihrer Tochter um und lächelte breit.
„Ah, und denk dran Schatz, als Adoptivtochter des Helden Apollons-"
„-ist Perfektion ist ein Muss." zitierte Helene.
„Ich weiß du wirst mich und deinen Vater nicht enttäuschen, Schatz." sang ihre Mutter und verlies den Raum.
Helene hörte das klackende Geräusch ihrer hohen Absätze den Flur entlang eilen und dann das Geräusch einer sich schließenden Tür.
Sie schloss die Klappe des Klaviers und entlies einen langen Atem aus ihrer Lunge.
„Ja, Helene, ich weiß du wirst Vater nicht enttäuschen."
Die bekannte Stimme durchstieß Helene wie ein Blitzschlag und ihre Stimmung sank augeblicklich auf den Boden und geradewegs in die Hölle.
Die Teenagerin musste sich zurückhalten nicht laut aufzustöhnen, als sie die bekannte Gestalt ihres Bruders auf sich zuschlendern kam.
Er hatte bereits seinen Anzug an und schlenderte mit den Händen in seinen Hosentaschen auf sie zu.
Das falsche Lächeln und der provozierende Ausdruck in seinen Augen war Helene nur all zu vertraut.
Sofort stieg wütende Hitze in ihrer Magengegend auf.
„Was willst du ,Lucius?" knurrte sie.
Lucius blieb vor dem Klavier stehen und zuckte dann mit den Schultern.
„Darf ein großer Bruder seiner kleinen Schwester nicht viel Glück für ihren großen Auftritt wünschen?"
Diese fast schon unschuldige Stimme hinter der sich kalte endlose Herablassung verbarg...
Es brachte Helene sofort auf hundertachtzig.
Sie atmete tief durch um ihre Nerven zu beruhigen.
Etwas blitzte in den Augen von Lucius auf, als er sie betrachtete.
„Ja, viel Glück bei deinen Auftritt vor hunderten, nein, tausenden von fremden Leuten ,die nur dich und dich alleine beobachten und über dich urteilen werden."
Helenes spürte wie ihr Herz sich zusammenzog.
„Halt die Klappe."
„So viele Augen einzig und alleine konzentriert auf dich. Kein Platz um dir auch nur einen einzigen Fehler zu erlauben."
Lucius ging langsam um das Klavier herum und klappte den Klavierdeckel mit einer Hand wieder auf, während er den Blick nicht von Helenes Gesicht abwandte.
„Eine falsche Note-"
Er drückte eine Taste und ein heller Ton entkam aus dem Klavier.
„Du musst nur eine Sekunde die Nerven verlieren und all das Üben und wiederholen in den letzten Wochen war umsonst.
Helene fühlte sich als würde ihr gleich schlecht werden.
Die Teenagerin atmete ein paar Mal gleichmäßig ein und aus und wandte sich dann an Lucius, der sie immer noch grinsend beobachtete.
„Hast du nichts besseres zu tun? Du musst heute auch noch auf diese dämliche Bühne um eine Rede zu halten! Spiel dich also nicht so auf und geh sie lieber nochmal durch!"
Ihr Bruder stieß ein Kichern aus.
„Das ist der Unterschied zwischen uns, Helene. Ich kann problemlos meine beste Seite vor Millionen von Menschen zeigen."
,Beste Seite.' Helene rollte mit den Augen ,Du meinst deine falsche aufgesetzte Seite.'
„Und dann wärst da noch du." Lucius zeigte mit einen Finger auf Helene und seine Augen verengten sich, als er von oben auf sie herab sah.
„Die die beim letzten Mal, Vater vor ihrer ganzen Schule blamiert hat. Du weißt sicher noch genau, was bei eurer Theatervorführung passiert ist , oder?"
Helen fühlte wie ihr Gesicht sich erhitzte als die Erinnerungen zu ihr zurückkamen.
„Du hast nicht ein Wort herausbekommen." erinnerte Lucius sie „Du hast nur gestarrt mit schlotternden Knien vor der ganzen Schule, plus Eltern, und bist dann von der Bühne und geradewegs nach Hause gerannt. Zum Glück hattest du nur eine Nebenrolle."
Er hielt sich das Gesicht als er wieder anfing zu kichern.
„Oh, du hättest dein Gesicht sehen sollen! Ich wünschte ich hätte mein Handy rausgeholt um alles zu filmen. Obwohl ich könnte diesen Typen aus meiner Klasse fragen, seine Mutter hat das Ganze mit ihrer Kamera-"
„Hast du`s dann?!" rief Helene und stieß sich von ihrem Hocker ab in den Stand.
Sie verfluchte sich innerlich die Nerven zu verlieren.
„Ich hab's kapiert. Ich hab Bühnenangst! Na und? Du hast Angst vor harmlosen kleinen Mäusen. Und jetzt?"
„Und jetzt, wird es der Tropfen sein das das Fass zum überlaufen bringen wird." sang Lucius fröhlich:„ Das letzte Mal war Vater schon unglaublich wütend auf dich. Wenn du heute bei der Einweihung seines modernisierten Gefängnisses für Superschurken versagst, wird er dich garantiert in ein Internat weit weg von hier stecken, damit du ihn nicht mehr bloßstellen kannst."
Helenes Augen weiteten sich.
„W-wie?"
Lucius lehnte sich etwa vor, so dass Helene seine braunen Augen unter seinen dunklen Locken sehen konnte.
„Ein Internat auf Sylt. Weit weg von hier. Du wirst deine Freunde nur noch einmal im Jahr sehen. Wahrscheinlich werden sie dich sowieso vergessen.Und deine geliebte Werk AG kannst du dann auch vergessen."
„Lügner."
„Ich habe Mutter und Vater darüber sprechen hören. Also mach heute besser keine Fehler."
Lucius legte seiner Schwester lächelnd eine Hand auf die Schulter, doch sie stieß seine Hand weg und wich einige Schritte zurück.
Ihr Herz raste.
Bilder traten in ihr Gedächtnis.
So viele fremde Menschen...
Starrend...
Beurteilend...
Helenes Mund wurde trocken sie fühlte wie ihre Beine anfingen zu zittern.
Sie merkte wie sich Lucius's Grinsen ausbreitete, bis es ihm von Ohr zu Ohr ging.
Seine weißen Zähne blitzten unter seiner dunkeln Haut hervor.
Helene fühlte bereits wie sich die Hinterseite ihrer Augen sich erhitzten.
Er hatte es geschafft.
Sie hatte Angst.
Dabei hatte sie ihre Lampenfieber heute morgen noch so gut unter Kontrolle gehabt.
Verdammt! Verdammt! Verdammt!
„Ohhh..." säuselte Lucius:„Kommt da wieder das Lampenfieber durch? 'Auf Nimmerwidersehen Freunde' und 'Hallo Internat'!"
Er drückte mit einer Hand willkürlich einige Tasten auf dem Klavier und spielte eine hässlich schiefe Melodie.
Stechende Kälte legte sich auf Helenes Brust, die sie mit einem Atem austieß.
Für eine halbe Sekunde wurde ihr Schwarz vor Augen und ein Surren füllte ihre Ohren.
Die Schutzklappe des Klaviers fiel plötzlich nach vorne.
Sie knallte laut donnernd nach unten und mit der Kante direkt auf die Finger ihres Bruders..
Das laute Grollen des Flügels, als seine Hand tief in die Tasten gedrückt wurden , lies den Raum vibirieren.
Helene sah nur kurz den überraschten Ausdruck in den großen weiten Augen von Lucius, eher dieser einen lauten schmerzerfüllten Schrei ausstieß und seine Hand zurückzog.
„Scheiße!" fluchte er laut und Helene konnte ganz klar Tränen in seinen Augen aufsteigen sehen, als er seine Hand hielt und schmerzerfüllt die Luft durch seine Zähne einzog.
„Was soll dieser Lärm!" hörte Helene die Stimme ihrer Mutter aus den Flur zu ihnen ins Musikzimmer dringen.
Wieder kündigten sie ihre hohen Absätze an, als sie nächsten Moment auch schon den Kopf durch den Türspalt reckte.
Ihre Augen weiteten sich, als sie die Situation bemerkte.
In ihren Highheels und in ihren weißen fluffigen Ballkleid trippelte sie ins Zimmer.
„Was ist passiert?"
„Das scheiß Klavier hat meine Finger eingeklemmt!" schimpfte Lucius und versetzte dem Musikinstrument einen halbherzigen Tritt, als seine Mutter die verletzte Hand begutachtete.
Helene hielt den Atem an.
Rote Hematome bereiteten sich auf der dunklen Haut und über den Knöcheln von ihres Bruders aus.
Seine Finger sahen jetzt irgendwie seltsam ungerade aus...
„Die sind alle gebrochen."
Helens Mutter seufzte genervt.
„Ganz toll! Wir haben keine Zeit um ins Krankenhaus zu fahren, die Feier ist wichtiger!"
Sie wandte sich an Helene, die nur starr da stand und die verletzte Hand von Lucius betrachtete.
Ihr war kalt.
Seltsam kalt.
„Mach dich schon mal fertig, Schätzchen. Ich kümmere mich hierum. Und beeile dich ,ok? Wir wollen deinen Vater doch nicht warten lassen." wies ihre Mutter sie an.
Helene nickte langsam und wich, dann zurück in den Flur und verschwand in ihrem Zimmer um sich umzuziehen.