Vesna
Als wir aufbrachen, sagte er mir, ich solle ihn begleiten, um ein Kind abzuholen. Einen gewöhnlichen Jungen von elf, vielleicht zwölf Jahren. Nichts Besonderes. Nur ein Heimatloser. Einer von denen, die durch das königliche Raster gefallen und nicht augenblicklich ins Schloss gebracht worden waren, sobald ihre Eltern nicht mehr für sie sorgen konnten. Ausgerechnet diesmal kam sein Anliegen so spontan, dass ich vergaß, es zu hinterfragen. Und bis zum heutigen Tage kann ich mir nicht verzeihen, etwas so Wichtiges einfach vergessen zu haben.
Hätte ich geahnt, welche Bedeutung er für das Leben des Mannes haben sollte, den zu beschützen ich geschworen hatte, wäre ich vielleicht nicht mitgegangen. So jedoch folgte ich diesem unscheinbaren Befehl und brach in jener mondlos dunklen Nacht an seiner Seite auf, um einen Jungen zu holen, von dem ich kaum mehr kannte, als seinen Namen: Eyndor.
Von nachtschwarzen Umhängen mit beschämend tief hinabgezogenen Kapuzen verborgen, ritten wir wie Gespenster, auf schlohweißen Pferden, über die Wiesen. Unter den Hufen der schnaubenden Tiere hämmerte das Herz dieser seltsam ruhelosen Welt in einem Takt, auf den nur die wenigsten Kreaturen tanzen konnten. Der Mann an meiner Seite - wenn man ihn denn als solchen bezeichnen wollte - war einer von ihnen. Kriegstrommeln, wild und aufgebracht, wie mein eigener Herzschlag.
Verborgen unter dem dünnen Stoff, durch den der raue Herbstwind wie die Schneide eines Messers fuhr, sah ich das angespannte Zucken seiner mächtigen Rabenschwingen. Für jeden Anderen, der uns reiten sah, wäre sein Umhang nur vom Wind gebauscht. Mir gegenüber verlor der Verschleierungszauber augenblicklich an Wirkung, denn ich wusste genau, dass mein Begleiter, so wenig menschlich war, wie man den Sturm einfangen oder die Gezeiten bändigen konnte. Was in seinem Brutskorb donnerte, war viel weniger ein Herz, als ein kraftvolles Instrument, das uralte Magie wirken und seltsame Pfade beschreiten konnte, ohne, wie die sterblichen Magier, einen Preis dafür zahlen zu müssen. Er war das vielleicht urtümlichste und zeitgleich befremdlichste Wesen, das über Andheras Erde wandelte. Von Zeit und Raum unberührt, uralt und in einer Gestalt gefangen, die nicht seine war. Ein großer Zauberer und unbezwungener Krieger, ein Mann, der viele Gesichter, und noch mehr Namen trug: Krähenprinz, Schwarzer Engel, Fluchträger, Kerubim, Schattenprinz, um nur einige von ihnen zu nennen.
Es hatte Jahre gedauert, bis er mir in einem schwachen Augenblick seinen wahren Namen verriet und mich somit zur mächtigsten Frau seines Universums machte.
Dass er mich um etwas augenscheinlich so Banales bat, wie an seiner Seite zu reiten, während er ein einfaches Kind zu sich holte, grämte mich nicht. Nichts in seinem Kosmos war je ohne Bedeutung geblieben. Jeder Pfad führte ihn an ein Ziel. Und meine Aufgabe bestand darin, ihm beizustehen, wie ein treuer Schatten. Ich war die Frau, die an der Seite des Krähenprinzen Zuhause war, geboren, um bei ihm zu sein, aber nie an seiner Seite zu stehen. Und es war in Ordnung für mich. Ich erfüllte das mir auferlegte Schicksal. Das war meine Bestimmung und das Einzige auf der Welt, das ich wirklich tun wollte. Alles, was mich dabei trotzig die Lippen schürzen ließ, war der Umstand, dass er mir diesmal nicht die Wahrheit sagte. Bis in die Tiefen meiner Eingeweide spürte ich etwas Großes hinter seinem Handeln, in das er mich, wieso auch immer, diesmal nicht einweihen wollte.
»Es ist noch weit«, rief er mir zu, als die nahtlose Wolkendecke endlich riss und einem Schwall Mondlicht gestattete, sich auf die taufrischen Wiesen zu ergießen. Er drosselte das Tempo, brachte sein Pferd auf eine Schulterhöhe mit meinem und blitzte mich aus bernsteinfarbenen Augen aus den Tiefen seiner Verhüllung an. »Rasten wir hier.«
Ich nickte ihm zu, schwang mich vom Rücken des Tieres und ließ die Zügel achtlos fallen. Solange Anders hier war, würde keines der Pferde die Flucht ergreifen. Erschöpft, mit wild hämmenden Herzen, sanken die Tiere rasch ins Gras und leckten müde ihre Wunden.
»Sagst du mir jetzt endlich, um was es hierbei wirklich geht?«, fragte ich rau, nahm mein Schwert und meinen Trinkschlauch ab und ließ beides ins Gras sinken, ehe ich mich nach dem müden Pferd bückte und ihm die schwere Tasche vom Rücken hob, in der meine Decke und ein wenig Proviant verstaut war. Kaum war ihm die Last von den Schultern gefallen, sank das Tier auf die Seite und atmete flacher.
Ich funkelte zu meinem Reisebegleiter hinüber, breitete die Decke aus und schüttelte sie einmal in den Wind. Wir waren Freunde. Nur deshalb verzieh er mir meine harschen Worte. Jeden Anderen hätte mein Zweifeln vielleicht sogar den Kopf gekostet.
»Um Schicksal, Vesna«, antwortete er kurz angebunden.
»Das des Jungen oder deines?«
Ein müdes Grinsen stahl sich auf seine schmalen Lippen. »Vielleicht beides.«
»Der Junge würde dich nicht interessieren, wenn er nicht wichtig wäre. Also, wer ist er?«
Ungerührt zuckte der Krähenprinz, der sich selbst vor vielen Jahren den Namen Anders gegeben hatte, die Achseln. »Er ist ein Kind, mehr nicht.«
Aber diesmal, vielleicht zum ersten Mal, spürte ich, dass er log. Grimmig ließ ich mich auf die Decke fallen. Meine Muskeln waren schwer vom strammen Ritt durch das hügelige Land, meine Augen müde und meine Gedanken rauschten wie ein Bach. Ich brauchte seine Wahrheit nicht, um heute Nacht Schlaf zu finden. Ich wollte sie hören, weil ich neugierig war. Weil ich seinen Gedanken oftmals erst nachdem etwas geschehen war, einen Sinn abgewinnen konnte. Diesmal wollte ich wissen, womit ich es zu tun bekam.
»Ist er ein Magier?«, fragte ich schroff, bettete mich der Länge nach auf die Decke und sah zu, wie er es mir gleichtat.
»Nein«, antwortete Anders ernst.
»Ein Krieger? Hast du ihn in deinen Träumen gesehen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Er ist nur ein Kind.«
»Verstehe.«
Ich schürzte die Lippen, denn eigentlich verstand ich gar nichts. All der Aufwand, nur für einen Niemand? Selbst wenn ich ihm glaubte, irritierten mich seine Worte.
»Nein, du verstehst nicht«, korrigierte er mich grober als nötig gewesen wäre. »Und das musst du auch nicht. Erinnerst du dich daran, was du mir sagtest, als du tropfnass und frierend vor meinem Schloss gestanden hast?«
Ich nickte grimmig. »Natürlich.« Und das wusste er genau.
»Du sagtest«, zitierte er dennoch, »als ich im Thronsaal deiner Mutter war, und deine Hand genommen habe-«
»Wusste ich, dass mein Schicksal an deiner Seite liegt«, beendete ich ungehalten seinen Satz und fühlte mich ertappt, weil er diese Geschichte immer dann auspackte, wenn ich an ihm zu zweifeln schien. »Ich weiß, ich weiß. Du kennst meine Gabe. Du weißt, ich hatte keine Wahl.«
»So sicher, wie du damals deinen Platz an meiner Seite erkanntest, weiß ich heute, dass ich dieses Kind zu mir holen muss. Aber ich kann das Universum nicht ignorieren.«
»Und wieso fühlt es sich dann an, als würdest du mir etwas verschweigen?«
Es lag mir fern, ihm Vorwürfe zu machen. Ich verdankte ihm tausendmal mein Leben. Aber hin und wieder wünschte ich mir dennoch mehr. Mehr Wahrheiten, mehr Wissen, mehr Verständnis für meine Situation. An der Seite eines Unsterblichen gab es beinahe mehr Geheimnisse, als ich ertragen konnte. Und jeden Tag wurden sie zahlreicher.
Anders Miene verhärtete sich. »Schlaf jetzt, Vesna«, raunte er mir zu. »Ich bewache deinen Schlaf und wenn ich müde werde..«
»Bewache ich deinen.«
Mit einem müden Nicken ließ ich den Kopf auf meinen Unterarm sinken und war eingeschlafen, ehe sein Grinsen verloschen war.
Doch auch wenn ich wusste, dass er über mich wachte, schlief ich unruhig. Träume von großen Toren, hinter denen schleierhafte Ungetüme lauerten, verfolgten mich, bis der Morgen graute und ich mich aufsetzte, damit Anders endlich schlafen konnte.