Vesna
Ich fiel durch alle Schichten dieser und jeder anderen Welt in einen Strudel aus Raum und Zeit, aus Schicksal und Tod. Bilder, Fetzen von Erinnerungen, Stimmen und Lichter durchzogen einen Orkan aus Dingen, die Tharins Leben ausmachten. Ich sah mich Gesichtern gegenüber, die ich nie zuvor gesehen hatte, und wusste doch, wer sie waren. Ich nahm Worte wahr, die ihm ins Ohr geflüstert, zugerufen oder eingeimpft worden waren und die keinen Sinn für mich ergeben sollten. Doch sie taten es.
Sein Leben floss durch seine Berührung in mein Bewusstsein. Er war der Wasserfall, mein Kopf das Flussbecken. Alle Facetten seines Seins ergossen sich in meine Seele, während ich in seinen braunen Augen das uralte Licht des Lebens erkannte.
Flammen züngelten aus ihnen. Lebensfeuer, Sonnenlicht, Sternenglanz. Ein Inferno. Eiskalte Flammen leckten aus seiner Haut. Er fing Feuer, dann ich. Wir standen beide im Zentrum eines unermesslich großen Flammensturms. Nicht metaphorisch. Es brannte wirklich. Erst er, dann ich, dann wir, dann Andhera. Das Gras um uns verdorrte. Aus dem Tempel drangen Schreie. Schwarze Wolken aus Asche und ausgebrannten Seelen stoben wie Säulen hinauf in den verhangenen Himmel, an dem keine Sonnen mehr standen. Schwärze, Tod und Asche begruben Andhera wie eine Welle unter sich.
Der Todesengel spreizte seine riesengroßen Flügel über dieser Welt und verschlang in seiner Gier alles, was lebte.
Ein Atemzug löste sich von meinen Lippen und mit ihm würgte ich eine Aschewolke hervor, die das vollkommene Verbrennen meiner Organe ausgelöst hatte. Ich starb, Tharin starb, alle verendeten im letzten Feuer, das Andhera je sehen würde.
»Es ist dein Schicksal, Tharin. Finde die Flamme. Befreie die Flamme. Es ist dein Schicksal.«
Das Knistern der Flammen raunte mir ins Ohr. Der Wind sang ein Lied von Bestimmung.
Tharins Bestimmung. Das Schicksal ganz Andheras. Der unvermeidbare Feuertod unserer Welt.
Und im Schein der Flammen erkannte ich einen Umriss. Eine große, aufgerichtete Gestalt, die lichterloh brannte. Fleisch, Flügel und Haare - ein einziges Meer aus Feuer. Anders. Der Krähenprinz. Getötet in den Flammen.
»Nein!«
...
Ich riss meine Hand los und stieß Tharin von mir. Mein Herz raste. Trommeldonner klingelte in meinen Ohren. Ich verlor den Halt, fiel hintenüber und landete unsanft im Gras. Es brannte nicht. Keuchend wanderte mein Blick hinauf ins ungebrochene Licht des blassen Mondes.
Dann tiefer. Zurück zu Tharin. Hinab in sein von Entsetzen eingefrorenes Gesicht, während er vornübergebeugt auf allen Vieren kauerte und mich keuchend und ratlos anstarrte.
»Was, beim Wimmern des Knochenbuschs, hast du getan?«, fauchte er fassungslos.
»Ich?« Vor Wut schlug meine Stirn Falten. Ich bleckte die Zähne. Meine Hand wanderte zum Griff meines Schwertes hin, bereit, es hervorzuziehen und mein Wort Eyndor gegenüber zu brechen. »Du hast mich gepackt!«
Tharins Lider flackerten. »Was hast du gesehen?«, fragte er atemlos.
Ich antwortete ihm nicht. Das, was ich immer gesehen hatte. Das unausweiche, nahende Schicksal meines Gegenübers und die Ereignisse, die zu dessen Tode führten. Jede Berührung hielt diese Wahrheit bereit für mich, nur nicht Anders. Seine Hand zu halten, bewirkte etwas völlig anderes. Sein Schicksal hüllte sich in bodenlose Schwärze. Keine Zukunft, keine Gegenwart, keine Vergangenheit oder Sterben. Alles, was ich sehen konnte, war mein Weg an seiner Seite, bis zu jenem Punkt, an dem wir standen. Und so war es schon immer gewesen. Ich sah uns, nur uns, Seite an Seite, nichts weiter. Weder sein, noch mein Schicksal offenbarte sich.
Doch Tharins hatte ich gesehen und der Schreck fraß sich wie ein hungriger Schwarm Motten durch meine Seele. »Wer, beim Namen der Götter, bist du?«, fluchte ich. Ungelenk kam ich auf die Füße und zerrte mein Schwert hervor, um es an seine Kehle zu pressen.
Mit gerunzelter Stirn starrte er mich feindselig an. »Wo ist Eyndor?«
Ich verriet ihm die Antwort mit einem Blick zum Tempel hin. Als er den Kopf drehte, konnten wir Eyndor und Anders gerade durch das Tor entschwinden sehen.
»Nein!«, brüllte Tharin und stieß mit der Hand mein Schwert beiseite, um sich aufzurappeln. »Das darf nicht sein!«
Ich packte zu, bekam ihn zu fassen und warf ihn mit aller Macht und tödlichem Geschick zu meinen Füßen zurück ins Gras. Wie ein Pendel schwebte meine Klinge über seinem Gesicht, während die letzten Fetzen seines Schicksals in Form winziger Flammen auf meiner Netzhaut erloschen. »Wenn du das noch einmal machst«, fuhr ich ihn mit gebleckten Zähnen an, »trenne ich deinen Kopf vom Rest deines Körpers, ehe du mit dem Finger zuckst. Verstanden?«
Er lag da, mit wirren Haaren, zusammengezogenen Augenbrauen und wildem Zorn in seinen so sanften Augen. Aber diesmal unternahm er keine Anstalten, aufzustehen. Dennoch holte er Luft und sagte, so ruhig es ihm möglich war, und dennoch aufgebracht: »Wenn du zulässt, dass sie alleine sind, wird sich das Schicksal der ganzen Welt verändern.«
Und obwohl ich mir angewöhnt hatte, keinerlei Regung zu zeigen, wenn ich einem Feind gegenüberstand, erstachen mich seine Worte wie eisige Dolche. »Wer bist du?«, wiederholte ich entschlossen.
»Mein Name ist Tharin.«
»Du bist ein Seher.«
»Nein«, wehrte er entschieden ab. »Ich bin Mönch.«
»Und die Stimmen?«
Es ist dein Schicksal, Tharin. Finde die Flamme. Befreie die Flamme. Es ist dein Schicksal. Diese säuselnden Worte waren kein Teil irgendeiner wahnhaften Vision. Es waren aufgeschnappte Gedanken, die durch seinen Kopf geisterten. Worte, die nur für ihn bestimmt waren und die ich fälschlicherweise mit der Vision aufgenommen hatte.
Aus dem Zorn auf seinem Gesicht erwachte Verblüffung. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an, als hätte ich den falschen Göttern gehuldigt. »Du hast sie gehört?«
»Natürlich habe ich das.« Meine Worte waren schärfer als meine Klinge. »Wessen Worte sind das?«
»Das sind die Stimmen des Lichts.«
Heiser lachte ich auf. »Natürlich. Die Stimmen des Lichts. Und ich bin eine Nymphe.«
Ungehalten schürzte der junge Mönch die Lippen. »Ich lüge nicht. Es sind die Stimmen des Schicksals. Und wenn du mich nicht sofort tun lässt, was ich tun muss, wird sich Andheras Schicksal erfüllen und alles, was du gesehen hast, wird wahr. Ich muss verhindern, dass Eyndor dem Schwarzen Engel in die Hände fällt, oder ganz Andhera wird brennen.«