Tharin
Sie glaubte mir nicht. Nicht ein Wort. Und dabei sprach so wahnsinnige Verzweiflung aus mir, dass ich kaum die heißen Tränen zurückhalten konnte, die in meinen Augenwinkeln brannten. Die kühne, kalte Schönheit starrte mich aus Eisaugen an, wie eine Todesgöttin.
Die Klinge ihres Schwertes brannte an meiner Haut. Wieso verstand sie mich nicht? Wenn sie gesehen hatte, was ich tagtäglich sehen musste, sobald ich die Lider senkte, wieso glaubte sie nicht, dass ich diese Zukunft um jeden Preis verhindern musste?
Ich starrte sie an. Nachgeben war unmöglich. Wenn ich versagte, starben wir. Wenn sie gewann, starben wir. Wenn der Krähenprinz sein Vorhaben in die Tat umsetzte, verlor die ganze Welt.
»Bitte«, stieß ich abermals hervor. »Lass mich in diesen Tempel gehen. Wenn ich es nicht tu, wird ganz Andhera in Flammen stehen. Ich bin kein Seher, ich bin kein Magier und auch kein Krieger. Ich bin Mönch. Ich kann helfen.«
»Der Krähenprinz ist der Einzige, der helfen kann.«
»Nur wenn er lebt. Nicht wenn er in der ersten Feuerwelle untergeht und diese Welt dem Grauen überlässt. Du hast es gesehen.« Ich holte tief Luft und erinnerte mich an die grotesken Schreie einer sterbenden Welt, die sich tief in meine Hörmuschel eingebrannt hatten. »Er stirbt. Wir alle sterben. Es sei denn, du lässt mich aufstehen und verhindern, dass der Krähenprinz den Jungen seines Schicksals beraubt.«
»Seines..« Sie hielt inne. Instinktiv flog ihr Blick an mir vorüber zum Tempel hin. Ich sah, wie ihre Gedanken rasten. »Das.. würde er niemals tun«, entschied sie, aber so sehr sie auch an ihren Herrn und dessen Absichten glaubte, eine kleine Stimme des Zweifels war in ihrem Kopf erwacht und zeigte ein Echo der Unsicherheit in ihrem Gesicht.
Ein leises Säuseln zischelte mir zu, dass ein Mann, der mit dem Rücken an der Wand stand, zu allem fähig war. Dass ein angeketteter Hund eher zubiss, als ein freier. »Bitte, glaub mir«, flehte ich sie an und wagte abermals, das Schwert sanft beiseitezuschieben und mich auf alle Viere aufzurichten. »Ich habe mich so lange vor diesem Tag gefürchtet, ich darf es nicht geschehen lassen.«
»Hast du deshalb versucht, den Jungen zu entführen?«
Ich nickte. Und weil ich ihn mochte. Weil ich für ihn empfand, wie für einen kleinen Bruder. Ich wollte diese Zukunft nicht für ihn.
»Ich weiß nicht, wie«, gestand ich. »Aber ich weiß, an diesem Tage wird das Schicksal Andheras umgeschrieben, es sei denn, du und dein Herr, geht. Ihr müsst vergessen, was ihr hier gesucht habt und Eyndor bei uns lassen. Ihr müsst wieder gehen und aufhören, die Flammen zu hinterfragen. Oder Andhera brennt.« Jeder Atemzug rasselte in meiner Luftröhre. »Du hast die Feuer gesehen, als du mich berührt hast. Das Sterben, die Hitze, den Tod. Wenn du deinen Herrn beschützen willst, und Andhera dienen, dann lass mich gehen und hilf mir, zu verhindern, dass er etwas Wahnsinniges tut.«
Ich las in ihren Augen, wie sie mit der Wahrheit kämpfte. Man sagte dem Krähenprinz viele Dinge nach. Dass er stur war, kämpferisch, ungeschlagen. Dass er keine Kompromisse machte und bis zum Äußersten ging, um seine Schlacht zu schlagen. Glaubte sie mir, dass dies einer der Augenblicke war, die ihn dazu drängten, wahnsinnig zu sein? Das Falsche zu tun, in guter Absicht? Ihre Entschlossenheit wankte. Ihr Gesicht verwandelte sich in ein Wechselbad der Gefühle. Ich sah Zweifel und Trauer, Entschlossenheit und Sorge.
»Bitte.« Langsam ertrank ich in Verzweiflung. »Hilf mir.«
»Was hast du gesehen?«
»Am Ende dieses Tages löscht dein Herr den Hüter unserer Welt aus und schreibt das gottgegebene Schicksal Andheras um. Alles, einfach alles, wird sich ändern. Und das Feuer breitet sich aus. Ich lüge nicht.«
Sie glaube mir. Irgendetwas veränderte sich in ihren Augen. Neue Hoffnung machte sich in meinem Kopf breit. Wenn sie mir glaubte, wenn sie mich gehenließ, war es noch nicht zu spät.
»Steh auf«, wies sie mich mit fester Stimme an und ich gehorchte, so schnell ich konnte. Immer wieder sah sie sich nach einem Omen um, das über dem Tempel kreiste, und fand nichts. »In Ordnung. Ich begleite dich in den Tempel. Du wirst den Mund halten, ich rede. Oder ich überlasse dich den Mönchen und wer weiß, was sie mit dir anstellen, nachdem du versucht hast, ihren Auserwählten zu entführen?«
Ich konnte fühlen, wie ich bleicher wurde. Die Aussicht, in ein dunkles Kellerverlies gesperrt und dort ausgehungert und dem Tode überlassen zu werden, gefiel mir nicht sonderlich. »Kein Wort«, versprach ich ihr, während ich langsam auf die Füße kam.
»Gut. Geh voraus, Mönch. Und lass dir gesagt sein, wenn du auch nur mit dem Finger zuckst, dann-«
»Trennst du meinen Kopf so schnell von meinem Hals, dass ich es nicht einmal kommen sehe, verstehe.«
Ihre Miene hellte sich ein wenig auf. Aber ihre Augen blieben eisig. Finster wies sie mit einem Nicken in Richtung des Tempels. »Los.«
Ich machte kehrt und setzte mich mit pochendem Herzen in Bewegung. Wir durften nicht zu spät sein. Aber der Krähenprinz und Eyndor waren uns nur wenige Minuten voraus. Was konnte in zwei oder drei Minuten schon geschehen sein?
Hilflos atmete ich ein und aus, tief und sehnsüchtig. Beruhige dich, Tharin, alles wird gut.
Aber ich glaubte nicht daran. Das Glas war halbleer und wir kamen zu spät. Weisheiten des Lebens, wenn man Mönch war, und mitten in der Nacht urplötzlich von Visionen überfallen wurde, die das Ende der Welt zeigten. Und das fortan jeden Tag, jede Nacht, immer und überall. Aus den Augenwinkeln spähte ich zu der Kriegerin zurück. Und sie hatte es gesehen. Jedes einzelne Bild, jedes Wort gehört, sie war Teil meiner Vision geworden und es hatte sich angefühlt, als wäre es so gewollt.
Tatsächlich kam mir kurzzeitig der Gedanke, dass ich, der unbegabte Tharin, diese Bilder vielleicht nur für diesen einen Augenblick empfangen hatte. Um ihr zu zeigen, dass sie ihren Herren aufhalten musste, ehe es zu spät war. Das passte, denn es gab nichts, wofür mich das Schicksal brauchen konnte. Sie irrte sich. In mir steckte kein Seher. Ich musste ein Zufallsopfer sein. Und in dieser Rolle fühlte ich mich auch gleich wohler, als in der des auserwählten Retters.
»Danke«, raunte ich, unwissend, ob sich mich hören konnte. Ich hatte nicht sehr laut gesprochen. »Dass du mir glaubst.«
»Ich diene dem Krähenprinzen«, erwiderte sie kühl. »Alles, was für mich zählt, ist sein Leben.«
»Wie das des Jungen für mich.«
»Dann sind wir uns einig. Keiner von beiden stirbt heute.«
Der Trampelpfad hinauf zum Tempel kam mir wie ein Marsch zu meiner eigenen Hinrichtung vor. Ich fürchtete mich vor den Blicken der Mönche. Bislang war ich einer von ihnen gewesen. Ab heute nicht mehr. Sie würden mich verstoßen, und auch kein anderer Tempel würde mich mehr aufnehmen. Meine glorreichen Tage waren vorüber. Mich erwartete ein Leben aus Aussätziger. Oder das Ende der Welt.