Vesna
»Vesna, Liebes«, sagte Mutter mit gewohnt harter Stimme und zupfte die aufdringlichen Ärmel meines Kleides zurecht, während ich mir nichts sehnlicher wünschte, als allein zu sein. »Du hast das Kleid ruiniert.« Mit geschürzten Lippen betrachtete sie den schlammverkrusteten Saum. »Wo bist du gewesen?«
»Im Wald, Mutter.« Trotzig schob ich ihre Hand von mir.
»Zieh dich um. Du weißt, dass wir Besuch erwarten. Hohen Besuch.«
Ich rollte mit den Augen, als ich mich abwandte. Wie hätte ich vergessen sollen, woran sie mich seit Tagen stündlich erinnerte?
»Und hör auf, mit den Augen zu rollen!«
Diesmal rollte ich seufzend. Dies war der Tag der Tage. Seit der weiße Rabe auf der Mauer vor dem Schloss gelandet war, meiner Mutter die Pergamentrolle vor die Füße geworfen hatte und kreischend wieder verschwunden war, spielten einfach alle verrückt. Nur seinetwegen. Der schwarze Engel kam her. Hierher. Ins Schloss meiner Mutter. Worum er bitten würde, wusste niemand. Denn es gab im Grunde nichts, was Mutter ihm anbieten konnte. Seine Macht und sein Ruf eilten ihm voraus. Man sprach von Magie, die alles übertraf, was Andhera je gesehen hatte. Und wir waren bloß Menschen. Einfache, sterbliche, kleine Lichter an einem großen, weiten Himmel voller magischer Sterne, die alle um ihn kreisten. Um ihn.
Der Gedanke an sein Näherkommen, ließ die Haare auf meinen Armen zu Berge stehen. Ich spürte es. Bis in meine Eingeweide war ich überzeugt davon, dass ich nicht hier sein sollte, wenn er kam. Oder besser gesagt, dass es falsch war, ihm überhaupt die Tür zu öffnen.
Ich kannte die Geschichten. Vielleicht jede, vielleicht nur ein paar, aber genug, um zu wissen, dass er ein Verräter war, ein Mörder. Er war gefährlich, und je weiter er fort war, desto glücklicher sollten wir uns schätzen.
»Ach, Vesna?« Ich hatte beinahe die Tür erreicht, als Mutter sich umdrehte und mich anstarrte. »Ich möchte, dass du benimmst. Sei still und reizend. Wir wollen unserem Ehrengast gefallen. Wenn Krieg droht, wollen wir ihn und Isay nicht zum Feind haben.«
»Und wenn wir freundlich, adrett und zuvorkommend sind, wird uns der Krieg gewiss verschonen, Mutter.«
Sie stieß ein spöttisches Zischen aus. Mit Sicherheit das Netteste, was sie in diesem Leben für mich übrig hatte. Ich war nicht das Kind, das sie sich immer gewünscht hatte, und sie nicht die Mutter, die ich brauchte. In ihrer Scheinwelt gab es keinen Platz für freie Gedanken. Keinen Raum für Fantasie. Nur Regeln und Pflicht und Lügen.
Es machte mich rasend. Demonstrativ stapfte ich aus dem Raum, über den Gang. Weg, dachte ich. Einfach weg. Diesem Lügenhaufen entrinnen. Und sei es nur für einen Tag.
Die Erinnerung an den Wald fühlte sich, wie eine entfernte Sehnsucht an. Jedes Mal, wenn es mich dorthin zog, konnte ich das Chaos dieser geordneten Welt für einen Augenblick vergessen. Ein normales, zwölfjähriges Mädchen sein, wie alle anderen.
Nicht die Tochter der andheranischen Königin.
Nicht die Erbin des Throns.
Nicht die zweitmächtigste Frau der Welt. Nur ein Mädchen. In einem Wald. Nur ein Mensch.
Ich lief über den Korridor. Barfuß. Das Gefühl des Waldbodens kitzelte noch an meinen Zehen.
Der schwarze Engel.
In meinen Eingeweiden kribbelte die Wahrheit. Ich wollte ihm weder begegnen, noch ihn kennenlernen. Ich wollte fort. Jetzt.
»Vesna.«
Tharins Stimme ließ mich hochfahren.
»Was?«, blaffte ich ihn an, um zu überspielen, dass er mich erschreckt hatte. Das Echo meiner Erinnerung hing mir nach wie ein Traumschleier.
»Ich habe dich etwas gefragt. Hörst du mir nicht zu?«
»Ich war bloß in Gedanken.«
»Denkst du, er wird ihm ein Freund sein?«
Ich nickte. Obwohl sie einander nie zuvor begegnet waren, hatte ich vom ersten Augenblick an eine untrennbare Bindung zwischen Anders und dem jungen Eyndor verspürt. Ich ärgerte mich fast ein wenig, dass ich den Jungen nicht berührt hatte, um sein Schicksal zu enthüllen.
»Er wird ihn beschützen«, gab ich schließlich zurück. »Und was kümmert es dich? Du bist frei.«
»Der Junge ist meine Familie. Es geht mir nicht nur um seinen Schutz.«
»Sollte es aber. Anders weiß, was das Beste für ihn ist. Solange Isay nach dem Jungen mit dem Weltenherz sucht, ist er in Gefahr. Wie konnten die Mönche ihn so lange beschützen?«
»Wir haben geschwiegen, selbst als wir wussten, wer er ist. Niemandem durften wir von seiner Existenz erzählen.«
»Und du warst sein Leibwächter?«
»Ich.. nein. Ich bin sein Freund.«
»Dachtest du, wenn du ihn bei der Hand nimmst, und schnell genug läuft, entkommst du seinem Schicksal?« Amüsiert schüttelte sie den Kopf. Ein paar Strähnen lösten sich aus ihrem stramm zurückgebundenen Haar. »Du bist ein miserabler Beschützer.«
»Ich dachte nicht, dass wir es schaffen würden. Aber ich wollte es nicht unversucht lassen. Schließlich dachte ich, dass..« Meine Stimme versagte.
»Dass wir den Jungen töten würden.« Ihre Worte wurden leiser. »Kurzzeitig habe ich wohl dasselbe gedacht. Ich hätte nie an ihm zweifeln dürfen.«
»Bist du schon lange seine erste Wahl?«
»Du meinst, ob mein Schwert und ich schon lange seinem Heer angehören?« Ein spöttisches Grinsen erhellte ihre düstere Miene. »Drückt ihr euch immer so unklar aus, Mönch?«
Ich schnaubte.
»Ich diene dem Krähenprinzen schon seit vielen Jahren. Er war mein Lehrer und mein Vater. Seine Hand ist hart aber gerecht. Und ich bin ihm dankbar für das Leben, das er mir schenkte.«
»Er vertraut dir. Es scheint beinahe, als..« Ich suchte nach den richtigen Worten. »Es scheint, als hättest du den Drachen mit bloßen Händen gezähmt.«
Ich konnte ein spöttisches Auflachen nicht unterdrücken. »Es war nicht immer so. Ich musste hart um jeden Funken Anerkennung kämpfen. Und nicht nur gegen ihn, auch gegen meine Mutter. Ich musste sie überzeugen, dass ich stark genug bin, für alles, was Anders von mir verlangt. Und ich habe öfter versagt, als du denkst. Wieder und wieder.«
»Sie scheint eine sehr harte Frau gewesen zu sein«, überlegte der Mönch laut und schien dabei sichtlich in Erinnerungen an seine eigene Mutter versunken.
»Das ist sie noch immer.« Ein Kloß schob sich in meiner Kehle auf und ab, wie immer, wenn das Thema in eine ähnliche Richtung abzuschweifen drohte.
»War sie Kriegerin, wie du?«
»Sie ist die Königin.« Bitterkeit schwang wie eine falsch gestimmte Lautenseite in jeder Silbe mit. Berechtigt.
Tharin hielt sein Pferd abrupt an. »Die Königin? Ich meine, die Königin?«
Ich antwortete ihm mit einem verhaltenen Nicken. Für gewöhnlich liefen Reaktionen auf diese Erkenntnis in zwei Richtungen. Entweder stürzte sich mein Gegenüber in namenloses Grauen und weigerte sich, auch nur ein weites Wort mit mir zu wechseln aus, Angst, meine Mutter oder Anders selbst ließen ihnen die Zunge herausschneiden, oder unfassbare Faszination für das Leben, das ich hätte führen sollen. Ein Leben in Reichtum, überschüttet mit Gold und Anerkennung, als stärkste Frau des Landes. Nichts von alledem reizte mich wirklich. Ich hatte dieses Leben nicht gewollt, als man es mir aufzwingen wollte, und auch heute saß ich lieber im Sattel, bis meine Pobacken schmerzten, als auf dem weichen Kissen eines staubigen Throns.
»Jetzt verstehe ich, woher du diese Härte hast.«
Seine ersten Worte, nach dieser Erkenntnis ließen mich aufhorchen. Klang er amüsiert? Ehrfürchtig? Erstaunt? Er klang nach nichts von alledem, sondern erschüttert und ein wenig verständnisvoll.
Ich sog zischelnd Luft zwischen die Zähne. »Glotz nicht wie ein Schwammfisch. Sie ist auch nur eine Mutter. Und nicht einmal eine besonders Gute.«
Obwohl sie alle Zeit der Welt für mich gehabt hätte.
»Klingt, als wäre euer Verhältnis schwierig.«
»Schwierig?« Diesmal prustete ich lauthals los. »Du hast keine Ahnung.«
»Das stimmt«, murmelte er, ohne auf meine Provokation einzugehen. »Aber ich verstehe jetzt, wieso du dich zu einem Wesen hingezogen fühlst, das über Macht und einen Namen verfügt.«
»Anders?« Ich? Mich hingezogen fühlen? »So ist das nicht. Mein Schicksal ist es, an seiner Seite zu sein. Ich beschütze ihn.«
»Woher weißt du, dass dieser Weg richtig ist?«
Ich betrachtete den Mönch. Dann hob ich eine behandschuhte Hand, sodass er sie im Mondschein betrachten konnte. »Jede Berührung offenbart mir das Schicksal meines Gegenübers. Als ich dich berührte, sah ich die Flammen, hörte die Stimmen. Dein Schicksal ist es, das Ende aller Enden aufzuhalten. Und du hast versagt. Als ich Anders zum ersten Mal traf und ihn berührte, sah ich nicht seinen Weg, sondern meinen. Unser Schicksal ist längst fertig gesponnen. Es ist unmöglich, sich davon loszusagen. Wer es versucht, spielt mit dem Zeitgefüge dieser und aller Welten. Also habe ich getan, was das Schicksal von mir verlangte. Ich bin ihm gefolgt. Ich habe von ihm gelernt und mir sein Vertrauen erkämpft. Und heute bin ich genau dort, wo ich sein sollte.«
»Und wenn du ihn berührst?«
»Gar nichts. Nicht jedes Schicksal sollte offenbart werden.«
Aber ganz entsprach das nicht mehr der Wahrheit. Denn nachdem Anders sich des Jungen angenommen hatte, hatte ich tatsächlich etwas in seiner Zukunft sehen können. Flammen, Tod und Untergang.
Tharins Stirn schlug Falten. »Was ist?«
»Nichts«, erwiderte ich hastig. »Ich war nur in Gedanken und du bist zu neugierig, für einen Mönch, der gerade seinem Schicksal den Rücken kehrt.«