Vesna
Hustend hob ich eine Hand an die Stirn. Meine Gedanken waren verworren. Ich blinzelte hinauf. Von weit oben über meinem Kopf sickerte Tageslicht hinab. Nicht nur hier, überall. Unzählige Säulen aus gleißend weißem Licht durchbrachen das Erdreich und sickerten hinab auf den Höhlengrund, in den ich gestürzt war.
Ich schaute mich um. Aufwirbelnder Staub erschwerte mir die Sicht erheblich, doch ich fand Tharin nur wenige Meter entfernt auf dem Boden liegen. Auch er war bei Bewusstsein, regte sich jedoch nur schwach.
Ein zweiter Blick ließ mich mutmaßen, dass wir etwa vier oder fünf Meter in die Tiefe gestürzt waren. Der abgesackte Erdboden und Tonnen von Gras und Erde hatten uns vor dem Schlimmsten bewahrt, der Sturz saß uns dennoch in den Knochen.
Stöhnend rollte ich mich zur Seite und kämpfte mich auf die knie hoch.
Auf allen Vieren kroch ich zu Tharin hinüber. »Bist du verletzt?«
»Ich glaube nicht.« Aber er klang nicht überzeugt, und als er sich aufsetzte, tastete er überprüfend über seinen Leib. Rasch floh seine Aufmerksamkeit hinauf zum Tageslicht. »Was sind wir doch für Glückspilze«, stellte er spöttisch fest.
Schnaubend kam ich auf die Füße. »Nicht schlecht für Todgeweihte, oder?«
Ich maß unsere Umgebung aufmerksam. Zwischen den Lichtfäden, die durch das Erdreich hinabsickerten, war es dunkel. Steine, Felsen und Geröll lagen über den Boden verstreut. Als ich den ersten Schritt machte, knirschte es. Ich schaute hinab und runzelte die Stirn.
»Sind das.. Knochen?«, hörte ich den Seher fragen.
»Vermutlich.«
»Wir sind in ein Grab gestürzt.« Diesmal war er derjenige, der grimmig stöhnte und sich die Schläfe rieb.
»Das ist kein Grab«, gab ich unwirsch zurück und spähte über die Berge von Knochen jeder Form und Größe hinweg, die sich im Dämmerlicht abzeichneten. Ähnliche Bilder hatte ich vor Jahren einmal mit Anders in einem Buch der alten Götter studiert. Im Zentrum der Höhle lag ein flacher Stein, so groß, dass drei Pferde Platz darauf gefunden hätten. »Das ist ein Opferstein«, schlussfolgerte ich, während es mir die Kehle abschnürte. »Um den alten Göttern und den Kreaturen, die vor ihnen da waren, Opfer darzubringen. Ich habe so etwas schon einmal gesehen.«
Mit gerunzelten Brauen konzentrierte ich mich auf das Bild der herabsinkenden Lichtsäulen und das Meer aus Knochen. Die Erinnerung kratzte an den Wänden meines Verstandes.
Tharins Glieder wurden steif. »Davon habe ich gelesen.«
»Menschen brachten ihre Töchter, Söhne, ihr letztes Schwein oder ihren besten Freund in Zeiten großer Not an solche Orte und schnitten ihnen für einen weiteren Tag Glück oder Gesundheit auf dem Opferstein das Herz heraus.«
»Dann sind das alles.. Opfer?« Ungläubig starrte der Seher auf die vielen zerborstenen Knochen. »Das müssen tausende sein!«
»Vielleicht mehr. Vor der Ankunft der Götter waren die Zeiten dunkel und unsere Ahnen beteten Wesen an, die viel größer und älter waren, als die Wesen, denen wir heute unser Leben in die Hände legen.« Nacktes Grauen strich mir über den Nacken. »Ich wünschte, Anders könnte das sehen.«
Und in diesem Moment stach die Erinnerung wie unzählige Nadelstiche in meine Augen. Bilder flammten vor mir auf. Ich sah die Säulen aus Licht, die Schatten, die sich in ihnen brachen, und im Zentrum einen brennenden Engel, der seinen Schmerz zu den Sternen hinauf schrie.
Schwindel packte zu und hielt mich gnadenlos fest. Ich taumelte ein paar Schritte vor.
»Ich hab das schon einmal gesehen«, murmelte ich.
»Wann?« Nun klang Tharin noch besorgter als zuvor.
»Nachdem Anders die Gabe des Hüters in sich aufgenommen hat. Er fragte mich, was ich jetzt sehen kann, wenn ich sein Schicksal betrachte.« Die bloße Erinnerung ließ mein Innerstes zu Eis erstarren. »Ich sah diesen Ort. Die Säulen. Und ich sah ihn sterben.« Meine Stimme verkam, bis sie nur noch ein angsterfülltes Flüstern war. Wie ein Schlafwandler drehte ich mich im Kreis, den Blick wechselnd auf Decke und Boden gerichtet. »Dies ist der Ort, an dem der Krähenprinz sterben wird.«
Tharin starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren. In seinen Augen musste es so aussehen.
»Das Schicksal ist nicht in Stein gemeißelt«, gab er entschieden zurück. »Es muss nicht so kommen.«
»Das Schicksal hat einen Preis, den man zahlen muss, wenn man es betrügt. Das.. ist der Ort, an dem Anders sterben wird. Er oder Andhera. Hier geht es zu Ende.«
Wie in Trance wankte ich durch das Halbdunkel, einem Punkt entgegen, den nur ich sehen konnte. Ich näherte mich dem großen flachen Opferstein und strich mit den Fingerspitzen darüber. Dieser Ort bedeutete unser Ende. Niemand wusste, wie viele Jahrtausende er unter dem Sand der Zeit verborgen gelegen hatte. Wir hatten ihn aufgebrochen. Ausgerechnet wir.
Unter meinen Fingern lag der raue Stein. Ich erwartete, bei seiner Berührung etwas freizusetzen, das mir abermals Anders Schicksal offenbaren würde, aber die Bilder schwiegen und der Raum blieb dunkel. Das Bild eines spöttisch grinsenden Schicksals schlich sich in mein Bewusstsein.
Selbst mit dem Schwert in der Hand und jedem Zauber der Welt behaftet, würde ich Anders nicht retten können. Nicht, ohne den schrecklichen Preis bezahlen zu müssen, den ein Eingriff in die Welt des Unausweichlichen erforderte. Nicht, ohne Andheras Wahrheit für immer zu verändern.
Ich hörte Tharins Schritte. Knochen, die unter seinen Sohlen zu Staub zerfielen und plötzlich umschlangen mich seine Arme. Er zog mich herum und drückte mich an sein Herz. Mir stockte der Atem. Für einen Moment wusste ich nicht, ob ich um mich schlagen, schreien oder verzweifeln sollte. Das Drängen in mir machte mich wahnsinnig, mein Zorn raste. Ich hielt den Atem an, ein Ohr an seine Brust gepresst und lauschte dem dumpfen, angenehmen Pochen darin, bis mein Herz den gleichen Rhythmus fand. Das irrsinnige Rasen in mir schwoll ab. Ruhe kehrte ein. Ich holte Luft und die Bilder verschwanden.
»Schicksal«, sagte er grimmig, »ist doch nie in Stein gemeißelt. Dann bezahlen wir den Preis eben und ändern es.«
Ich hob ihm das Gesicht entgegen und das Lächeln auf seinen Lippen drängte die Schatten zurück.
»Dieses Schicksal schon.«
»Ach.« Tharin zuckte die Achseln, doch er ließ mich nicht los. »Das kannst du nicht wissen. Schließlich wusstest du nicht, was er vorhatte. Der Krähenprinz hat das Schicksal sicher mehr als einmal betrogen und er wird es wieder tun.«
»Es hat Konsequenzen.«
»Welche könnten das schon sein?«
Sein Lächeln wirkte wie Balsam für meine Seele. Als ich mich schließlich aus seinen Armen schälte, fühlte ich mich ein wenig wie damals, als ich tropfnass vor dem schwarzen Schloss stand und mit allem rechnete, außer damit, dass Anders mich einlassen und wie eine Tochter aufziehen würde. Röte schoss mir ins Gesicht und ich war dankbar, dass das Halbdunkel meine Scham so mühelos verschleiern konnte.
»Lass uns einen Ausweg finden«, entschied ich daraufhin und wandte mich von ihm ab.
Die Ausmaße der Höhle waren gewaltig und größtenteils im Dunkeln gelegen. Nur hier und da, wo der Schimmer einer Lichtsäule die Schatten teilte, waren ihre Ausmaße zu erahnen. Anders als man es von einer Höhle zu erwarten hatte, waren die Wände bearbeitet und glatt. Zwischen den Lichtsäulen ragten hier und da auch steinerne, kunstvoll verzierte Säulen auf, versehen mit eigenwilligen Symbolen und Zeichen.
Ich durchwanderte die Kammer wie in Trance. »Wenn Anders das sehen könnte..«
Tharin folgte mir. »Spürst du das?« Seine Stimme klang dünn. Er flüsterte beinahe, als fürchtete er, von irgendwem oder irgendetwas belauscht zu werden.
Ich runzelte die Stirn. »Nein.«
Er holte tief Luft und schloss zu mir auf. »Es fühlt sich an, als wären wir nicht allein.«
»In einer Höhle tief unter der Erde?«, hakte ich spöttisch nach. »Siehst du den Staub?« Ich strich mit dem Finger über einen Säulensockel und blies darüber. Flusen mischten sich mit dem Lichtschimmer und tanzten durch die Lüfte. »Hier war seit Jahrhunderten niemand mehr.«
Aber nun, da es ausgesprochen war, spürte ich es auch. Ein Beißen im Nacken, ein Zerren an meiner Seele. Das Gefühl, von blinden Augen aufgespießt zu werden, egal, an welchem Punkt der Höhle wir uns befanden.
»Ich weiß.« Tharin klang zerknirscht. »Aber ich fühle es so deutlich, als stünde jemand neben mir.«
Ich nickte stumm. Das beklemmende Gefühl schwoll an, je stärker ich mich darauf konzentrierte. Dass Tharin es zuerst bemerkt hatte, traf mich. Schließlich war ich ausgebildet und stolz auf meine messerscharfen Sinne. Ich schob die Tatsache, dass seine Sinne momentan sensibler als meine waren, dem Umstand zu, dass der Sturz mich aufgewühlt hatte und die Konfrontation mit Goldgesicht und seinen Zaubern ihr Übriges dazu beigetragen hatten, meine Instinkte vollständig gegen die Wand zu fahren.
Ich wich in die Schatten zurück. Hinaus aus dem verführerischen Lichtkegel, in dem wir für jedermann ein leichtes Ziel darstellen würden, und starrte für endlose Augenblicke in die nahtlose Finsternis. Nichts.
»Komm weiter«, drängte ich Tharin schließlich und schob ihn vor mir her, tiefer in die Höhle hinein. Nicht jedoch, ohne mich wieder und wieder umzudrehen und nach dem bedrohlichen Gefühl Ausschau zu halten. Nichts. Nur wir zwei.
Er stieß ein beklommenes Lachen aus. „Wäre es unmännlich, zuzugeben, dass ich mich fürchte?“
„Vermutlich. Aber das stört mich nicht.“ Denn auch ich hatte plötzlich Angst. „Lass uns.. einfach beisammen bleiben und reden.“
Tharin nickte. „Erzähl mir von dem Fluch.“
„Anders Fluch?“
Er nickte wieder.
Ich wog meine Antwort ab. Anders Geheimnisse waren mit heilig, aber aus irgendeinem Grund schien das Schicksal Tharin und mich in seine Geschichte zu verstricken. Und er verdiente einen Funken Vertrauen. „Anders hat vor sehr vielen Jahren einen Menschen sehr tief und innig geliebt. Und als er ihn verlor, hat das Dunkel in seinem Herzen einen Preis gefordert. Er hat die dunkelsten Schatten Andheras heraufbeschworen und ihnen den Weg ins Reich der Sterblichen eröffnet. Als es geschehen war, bereute er. Er hat seinem Leben dem Versuch gewidmet, Buße zu tun. Und das wird er, glaube mir. Eyndors Rettung war erst der Anfang.“
„Ist es wahr, was man sich über Isay und ihn erzählt?“
Ich versteifte mich ein wenig, dennoch ging ich weiter. Insgeheim fürchtete ich diese Frage, wann immer ich sie hörte, denn die Antwort war eine der wenigen unumstößlichen Tatsachen, die selbst ich dem Krähenprinzen nicht verzeihen konnte.
„Du willst wissen, ob er Isay erschaffen hat“, schlussfolgerte ich und warf prüfend einen Blick über die Schulter. Wir waren noch immer mit den Schatten alleine. Nichts deutete auf Verfolger hin, und doch spürten wir sie beide. Die Hand in unserem Nacken. Die stummen Augen, die uns folgten. „Ich wünschte, ich könnte es verneinen.“
„Aber es ist wahr.“
„Ja. Ich habe Anders ein einziges Mal gefragt, was geschehen ist, und er hat nicht gelogen. Nach dem Tod seiner Geliebten hat er sich aufgegeben. Der Fluch war gesprochen. Seine Schande war begangen. Er verkroch sich in die Wälder und ging dort einem jungen Dämon ins Netz.“
„Isay.“ Tharin nickte verstehend.
„Isay hat sofort den Verstand verloren, als er Anders erblickte. Von nun an bestimmte Größenwahn sein Handeln und Anders hat dabei zugesehen und ihn gewähren lassen.“
„Ich war ein Kind, als ich von ihnen hörte. Man erzählte mir, wenn ich nicht schlafen wollte, würden der Krähenprinz und Isay kommen, und mich holen.“
Ein schiefes Grinsen stahl sich auf meine Lippen. Tatsächlich hatte ich damals Ähnliches zu hören bekommen. „Anders wurde Isays Mentor. Er lehrte ihn, schlimmere Waffen zu beherrschen, als das Schwert. Sie erschufen Krieg und Tränen und ertranken in einem See aus Blut.“
„Und obwohl es wahr ist, vertraust du ihm?“
Ich spürte, wie der Seher mich von der Seite mit zusammengezogenen Brauen misstrauisch beäugte. Er verstand es nicht, und ich selbst hatte oft an dieser Frage geknabbert. Aber wenn ich nun zurückblickte, dann hatte ich wahrlich nie eine Chance, ihm nicht zu vertrauen.
„Ich bin die Tochter der Königin. Irgendwann trennten sich ihre Wege. Meine Mutter lud Anders an ihren Hof und dort verwoben die Götter unser Schicksal untrennbar.“
„Ich dachte, du konntest seine Zukunft nicht sehen?“
„Nicht seine.“ Ich schüttelte den Kopf. Nostalgische Bilder fluteten meinen Geist. „Aber meine. Und diese führte mich zu ihm. Tropfnass und frierend habe ich vor dem Schloss gestanden und an sein Tor geklopft. Ich wusste nicht, was mich erwartete. Meine Mutter und er hatten ein loses Bündnis geschlossen, in dem jeder dem Anderen misstraute. Ich war darauf gefasst, dass er mich allein meiner Herkunft wegen ablehnen und fortschicken würde. Aber er ließ mich ein und nie wieder gehen.“
Tharin biss sich auf die Lippe. Ich las die Frage auf seinem Gesicht und wusste wie immer keine Antwort. Es war dieselbe Frage, die ich mir jeden Tag stellte. Und manchmal, wenn ich vor Sorge und Angst um ihn kaum atmen konnte, dann, ja dann glaubte ich tatsächlich, dass ich ihn liebte. Trotz seiner Vergangenheit und dem bösen dunklen Zauber, der in seiner Seele hauste. Und ich fragte mich sehr oft, ob er es wusste.
„Ich bin nicht die Hure des Krähenprinzen“, sagte ich stattdessen und versuchte, nicht allzu verbissen zu klingen. „Ich berate ihn, ich stehe ihm bei, und ich würde mein Leben für seines geben. Ich sitze mit ihm am Tisch, wir reden, und wir leben Seite an Seite, aber ich teile nicht das Bett mit ihm.“ Ich schmunzelte, um meine verletzliche Seite zu überspielen. Und die Tatsache, dass ich genau das sicher schon oft gewollt hatte. „Schau nicht so, Tharin. Der mächtigste Mann dieser Welt gibt sich nicht mit irgendwem ab.“
Abrupt blieb er stehen, packte meine Hand und führte mich sanft zu sich herum. Seine Augen glühten wie gefallene Sterne. Er biss die Zähne zusammen und schien plötzlich wütend. Ich verstand seine Regung nicht. Erst, als er zu sprechen begann, spürte ich, woher sein aufbrausender Zorn plötzlich rührte.
„Irgendwer?“, prustete er. „Du bist die Tochter der Königin. Du bist eine Seherin, Vesna! Deine Gabe ist.. atemberaubend. Du bist einzigartig. Du bist eine wunderschöne und unfassbar starke Frau. Wie du dich dem Goldgesicht gestellt hast.“ Er schüttelte ratlos den Kopf. „Wie kannst du so klug und so dumm zur selben Zeit sein?“
Und dann sprach ich sie aus. Die Worte, die meine Beziehung zu Anders seit jeher in Schwärze hüllten.
„Ich.. bin nicht Kateryna.“
Nie zuvor hatte ich so offen über meine Selbstzweifel gesprochen, und ich wusste nicht, wieso ich es heute tat. Tharins sanfte Art, sein ganzes Wesen schien das Bedürfnis in mir zu wecken, die Wahrheit zu sagen. Ehrlich zu sein und zu alldem zu stehen, was ich war.
Er war nicht der erste Mann, mit dem Anders mich fortschickte, aber der Erste, hinter dem ich keine böse Absicht spürte. Tharin war von seinem Schicksal genauso überrumpelt worden, wie ich, als ich damals auf Anders traf.
„Du musst nicht jemand anders sein. Du bist genug“, entschied er und ließ mich los. Die Wärme auf meinem Arm verschwand.