Vor dem Fenster wird es grün und bunt. Onkel Hannes sagt, ich solle aufhören, immerzu an Kristian zu denken. Denn es ist vorbei. Aus und vorbei und es ist besser so, sagt er. Besser spät als nie, sagt er. Fünf Jahre und sie sind einfach so vorbei. Jetzt fließt die Zeit nicht mehr, sondern bleibt manchmal stehen.
Die Uhr macht weiterhin Tick Tack, aber in der Schublade höre ich sie nicht mehr. Ich sagte oft, Kristian ist mein Leben. Und ich meinte es so. Jetzt ist also mein Leben aus und vorbei, aber ich atme noch.
Kristian war alles. Meine Luft zum atmen und derjenige, der mir die Luft zum atmen genommen hat. Mit seinen liebevollen Aufmerksamkeiten und seinen Augen und seinem Lächeln. Und manchmal auch mit seinen Händen, die er dann ganz fast um meinen Hals gelegt hat. Der Arzt hat gefragt, was passiert ist.
Ich habe nichts gesagt, denn ich war sprachlos.
Kristian hat mich sprachlos gemacht und auch heute tut es oft noch weh, wenn ich etwas sage. Er hat mir meine Worte genommen, so wie er mir den Atem genommen hat. Vielleicht mit seinen Lippen und Küssen, vielleicht aber auch mit seinen Händen um meinen Hals.
Allein kann ich nicht leben. Nicht lebensfähig, hat er gesagt. Onkel Hannes meinte, er habe mich damit beleidigen wollen. Ich allerdings glaube, dass er es gut gemeint hat. Er war da, um mit mir zu leben, damit es mir nicht schwer fällt. Und jetzt muss ich allein klarkommen.
Ohne Kristian, denn das ist vorbei. Alles, was jetzt kommt, ist nur noch die Zeit danach. Man sagt ja auch, aller Anfang ist schwer. Onkel Hannes sagte einmal, das erste Jahr sei das schwerste. Er sprach dabei von seiner Alkoholsucht, weil er davon loskommen wollte. Jetzt soll ich von meiner Kristiansucht loskommen.
Denn vielleicht ist es sogar ähnlich. Alkohol lässt Onkel Hannes sich besser fühlen, ist aber eine Gefahr für seinen Körper. Und bei Kristian fühlte ich mich geborgen vor allen Gefahren, obwohl er vielleicht die einzige Gefahr war, vor der ich mich hätte schützen sollen.
In beiden Fällen tut es auf lange Sicht einfach nicht gut.
Kristian sagte, er hätte mir beigebracht, im Notfall auch allein zu leben. Dabei hat er mich dazu gebracht, dass ich verlerne, wie man überhaupt lebt.
Und jetzt im ersten Jahr danach ist es unendlich schwer. Ich spüle keine Tassen ab. Ich liege auf dem Sofa.
***
Vor der Tür steht ein großer Lastwagen. Darauf steht: Umzugsservice. Die Wohnung nebenan steht nicht mehr leer, aber dafür steht die Tür offen. Ich bleibe im Treppenhaus stehen und schaue Männern in Latzhosen zu, wie sie Kartons tragen. Die Dame aus dem Erdgeschoss schaut auch zu. Ein junges Fräulein trägt einen großen Karton und beschwert sich, ob ich ihr nicht helfen könnte.
Der Karton ist schwer, aber es ist schon in Ordnung. Jetzt schaut Johanna dabei zu, wie wir alle die Kartons von unten nach oben tragen. Das junge Fräulein bedankt sich, dabei lächelt sie und schließt dann die Tür.
Onkel Hannes kommt zu Besuch. Er bringt den Müll raus, kocht etwas und beschwert sich die ganze Zeit über. Johanna streicht um seine Beine, während er nun meine Tassen abspült. Sie sagt Miau. Ganz genau so, wie sie es bei mir macht. Aber ich sitze nur auf dem Sofa und schaue zu, wie es geschieht. Die Suppe auf dem Tisch wird kalt, aber ich habe ohnehin keinen Hunger.
Es ist schon in Ordnung. Nein. Das ist es nicht.
Ich bin ersetzbar. Kristian hat vielleicht schon längst einen neuen Menschen an seiner Seite. Jemand, der jetzt täglich sein Lächeln, seine Augen sehen darf. Jemand, der jetzt immer seine liebevollen, sanften Hände spüren darf. Jemand, der ihn wütend macht, laut werden lässt und dazu bringt, dass seine guten Hände plötzlich eine andere Sprache sprechen. Ich frage mich, wer das ist. Und ob er anders ist als ich. Anders aussieht, anders handelt, anders denkt. Und ob es einen Unterschied macht.
Onkel Hannes sagt, dass ich mich ordentlich anziehen soll, denn wir würden nach draußen gehen. Er will mich einer guten Freundin vorstellen und ich soll dabei Schuhe und ein Hemd tragen.
Als wir dort sind, frage ich mich im Stillen, wieso Onkel Hannes mit einer Psychiaterin befreundet ist oder ob er mich angelogen hat. Sie ist auch Therapeutin und sie ist geduldig. Ihr Name ist Frau Doktor Schneider und sie redet mit mir, als würden wir uns schon lange kennen. Ich sage nicht viel, denn alles was ich ihr erzähle, schreibt sie gleich auf einem Notizblock mit.
Sie hat eine kleine Hand, in der sie einen großen Kugelschreiber hält und eine lange, dünne Nase, von der sie eine Brille mit dicken Gläsern nimmt, als sie mit dem Schreiben fertig ist.
„Weißt du, wieso dein Onkel dich zu mir eingeladen hat?“, fragt sie.
Ich schaue sie an.
„Er macht sich Sorgen um dich“, sagt sie.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Frau Doktor Schneider stellt viele Fragen. Wie geht es dir? Weißt du, welchen Tag wir heute haben? Hast du heute Nacht geschlafen? Wann hast du zuletzt gegessen? Woran denkst du gerade? Ist dir nicht wohl? Verstehst du, was ich sage? Ist alles in Ordnung?
Natürlich, will ich sagen. Es ist schon in Ordnung. Stattdessen muss ich anfangen zu weinen. Sie bietet mir ein Taschentuch an.
Onkel Hannes wartet vor der Tür und als wir fertig sind, nimmt er mich in den Arm. Ich weine sehr und kann nicht mehr aufhören. Onkel Hannes bringt mich nach Hause, gibt Johanna etwas zu essen und bleibt lange bei mir auf dem Sofa sitzen. Solange, bis es schon dunkel wird. Er fragt, ob er noch bleiben soll. Ich sage, es ist schon in Ordnung. Er sagt, ich solle aufhören, das immer zu sagen. Dass nichts in Ordnung ist, aber das bald alles besser werden wird. Alles wird gut. Das sagt er und ich würde es wahnsinnig gern glauben.
Ich sage ihm, dass ich ihn gern habe.
Er lächelt und sagt, dass er mich auch gern hat.
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