In meinem Kopf dreht sich alles und ich drehe durch. Manchmal weiß ich gar nicht mehr, wo mir dieser Kopf überhaupt steht. Denn ich persönlich stehe gar nicht, sondern liege auf dem Sofa. Nicht immer. Ich gehe oft einkaufen, aber beim Drogeriemarkt war ich schon lange nicht mehr.
Wenn Onkel Hannes mich abholt, dann gehen wir zu Frau Doktor Schneider.
Wir verstehen uns mittlerweile recht gut und ich muss nicht mehr jedes Mal weinen, wenn sie Fragen stellt. Manche davon kann ich sogar beantworten. Über andere muss ich eine Zeit lang nachdenken. Wir haben uns geeinigt, dass wir die Fragen aufschreiben, damit sie sich überhaupt daran erinnert, wenn ich nach ein paar Wochen dann die Antwort endlich weiß.
Jetzt gibt es eine Liste mit Fragen, zu denen bei vielen noch die Antworten fehlen. Und eine Liste mit Antworten, die auf ganz unterschiedliche Fragen passen. Aber manche Fragen stellt man ja gar nicht, deswegen sind die Antworten doch eindeutig. Auf viele Fragen ist die Antwort Kristian. Als ich das Frau Doktor Schneider sagte, meinte sie, dass es auf die Frage ankäme. Und dann haben wir weitere Listen geschrieben.
Eine Liste von Fragen, bei der Kristian die falsche und eine Liste, bei der Kristian die richtige Antwort ist. Und immer wenn ich sie lese, tut es mir für Kristian im Herzen weh, denn es klingt manchmal ganz schön beleidigend.
Die Antwort „Es ist schon Ordnung“ gilt übrigens überhaupt nicht mehr, das haben wir abgemacht. Ich soll versuchen, es zu umschreiben oder anders auszudrücken, was ich meine. Dabei gibt es auch wahnsinnig viele verschiedene Möglichkeiten, die eigentlich gar nicht dasselbe bedeuten.
Als ich von meiner Nachbarin erzählte, von der ich mir gerade noch nicht sicher bin, ob sie Leo Manchmal Vielleicht oder Leo Lieber Doch Nicht heißen sollte, fragte mich Frau Doktor Schneider, ob ich sie nett finde.
Nach einer kleinen Diskussion kamen wir darauf, dass es nicht schon in Ordnung ist. Dass sie durchaus recht freundlich ist, ich aber es nicht Ordnung finde, dass Onkel Hannes mit anderen Menschen über mich spricht. Das kann Frau Doktor Schneider verstehen. Sie meint auch, dass sie verstehen kann, wenn es mich aufregt, dass er mich bevormundet. Immerhin bin ich ja ein erwachsener Mensch. Ich zeige ihr vorsichtshalber mein Kärtchen aus dem Geldbeutel, aber sie sagt, das ändere nichts an meinem Erwachsensein.
Zusammen sprechen wir darüber, dass es gar nicht bedeutet, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe. Sondern, dass Onkel Hannes eigentlich dafür zuständig wäre, auf mich aufzupassen und nicht Leo Sowieso darum bitten sollte. Daraufhin sage ich, dass ich durchaus sehr lebensfähig bin, auch allein. Frau Doktor Schneider gibt mir recht.
Und dann diskutieren wir noch darüber, ob die eine Hälfte der Karte rosa oder orange ist. Frau Doktor Schneider besteht auf „lachsfarben“ und ich muss lachen. Sie sagt, so gefalle ich ihr besser.
Zum Abschied fragte sie mich, was ich noch vorhabe und mir fiel ein, dass ich meinen Kaffee bei Leo gar nicht leer getrunken hatte, bevor ich gegangen bin.
***
In der Innenstadt steht ein Klavier herum. Einfach so, neben einem modernen Musikhaus in der Fußgängerzone.
Darauf steht ein Schild: "Bitte spiel mich!"
Also gehe ich davon aus, dass jeder, der daran vorbeiläuft und Lust darauf hat, sich einmal am Klavierspielen versuchen kann.
Eigentlich wollte ich ja nur einen kleinen Spaziergang zum Drogeriemarkt machen, aber jetzt stehe ich hier seit etwa einer Stunde und schaue verschiedenen fremden Menschen beim Klavierspielen zu. Die meisten sind Anfänger. Oder solche, die einmal vor vielen Jahren Unterricht genommen und das meiste wieder vergessen haben. Vielleicht auch Menschen, die sich irgendwann zwei oder drei bestimmte Stücke beigebracht haben und es dann nicht mehr weiterverfolgt haben. Andere wiederum spielen sehr gut, scheinen aber nicht die Zeit zu haben, länger hier zu verweilen.
Nur die wenigsten schaffen es nicht, diesem Klavier den nötigen Respekt entgegenzubringen und klimpern höhnisch lachend nur ein paar zusammenhangslose Töne. Jugendliche in engen, freizügigen Kleidungsstücken, die mich beschämt wegsehen lassen. Das Klavier hat sicherlich schon einiges hinter sich. Zwar scheint die Sonne an diesem Tag, doch der Lack wirkt geschunden und die Tasten machen einen sehr abgegriffenen Eindruck.
Es steht hier einfach herum und ist den Launen von Wetter und Menschen einfach ausgeliefert. Es kann sich nicht wehren, immerhin hat ein Klavier keine eigene Sprache, sondern lässt wildfremde Leute mit seiner eigenen Stimme sprechen. Ich verfalle in Demut vor diesem selbstlosen Musikinstrument und sehe es so durchdringend an, dass ich kaum noch höre, was der ältere Herr im Anzug gerade spielt.
Tief fühle ich mich diesem Klavier verbunden. Vielleicht ist es gar der Spiegel der heutigen Zeit. Sobald man am Leben teilnimmt, ist es unweigerlich, dass Gebrauchsspuren am Körper zu sehen sind, ganz egal, ob man ein Klavier oder ein Mensch ist. Man versucht, die Leute irgendwie zu erreichen und ihnen eine Chance zu geben, sich mit ihrer eigenen Melodie zu verewigen. Doch zu Menschen sind die Leute manchmal noch um einiges respektloser als zu diesem armen Klavier.
Und während ich hier stehe, überkommt mich immer wieder der unbändige Drang, selbst zu spielen.
Aber der Wechsel ist beinahe fliegend. Der Herr steht auf, der Hocker ist keine Minute leer, da lässt sich schon ein kleines Mädchen nieder und spielt vergnügt den türkischen Marsch an. Irgendwann bricht sie ab. Kurz treffen sich unsere Blicke und ich versuche, sie mit bloßem Augenkontakt zum Weiterspielen zu ermuntern. Ihr Gesicht strahlt wie das von Leo.
"Mehr kann ich noch nicht auswendig", sagt sie.
Ich versuche mich auch an einem Lächeln und hoffe, dass es nicht blöde aussieht ohne meinen Zahn.
"Meine Lehrerin sagt, ich soll mit Noten spielen", erklärt das Mädchen dann, "Damit ich lerne, wie man sie liest. Aber da hat sie bestimmt nicht bedacht, dass ich auch mal einem Klavier über den Weg laufen könnte, wenn ich gar keine Noten dabeihabe!"
Kurz schaue ich in das Schaufenster des Musikgeschäfts, vor dem wir uns befinden. Sicherlich verkaufen sie dort Noten, aber ich komme gar nicht zu Wort.
"Können Sie etwas auswendig?", fragt sie.
An uns gehen einige Menschen hektisch vorüber. Ein paar Mal schaue ich nach rechts und nach links, bis ich bemerke, dass sie mich meint.
"Chopin?", frage ich unsicher.
"Ach, sprechen Sie gar kein Deutsch?", fragt das Mädchen und ich muss lachen.
Sie lacht mit und im Stillen bewundere ich sie dafür, dass sie sofort erkannt hat, dass wir miteinander lachen und nicht übereinander. Dann steht sie auf und deutet grinsend auf den freigewordenen Platz. Ich schüttele den Kopf, aber sie nickt sehr nachdrücklich. Als ich mich hinsetze, schaut sie mich auffordernd an.
Und dann spiele ich und sie hört zu. Ich weiß gar nicht mehr, was ich alles spiele. Es ist, als wäre ein Damm in mir gebrochen und all das Schweigen, das sich über die letzten Wochen und Monate in mir angestaut hat, dringt nun mit der Stimme dieses geduldigen Klaviers durch die Fußgängerzone. Ich spüre die Blicke einiger Menschen auf mir und es kribbelt unangenehm in meinem Nacken. Mehrere Leute bleiben stehen und tuscheln, sie sprechen sicher über mich, aber ich spiele nicht für sie.
Ich spiele für das kleine Mädchen, das mich mit diesem glücklichen Lächeln aus strahlenden Augen anschaut. Chopin und Bach, Rachmaninov und Liszt drücken aus, wofür ich zu ängstlich bin, es auszusprechen. Ich will ihr noch sagen, dass ich Deutsch sehr gut beherrsche, aber es ist nicht wichtig.
Wir sprechen beide fließend Musik, deswegen können wir uns ohne Probleme unterhalten.
"Mein Bus kommt gleich", sagt sie plötzlich und lässt die zeitlose Blase, in der wir uns befinden, zerplatzen.
Ich schaue ihr lange hinterher. Ein bisschen erinnert sie mich an Leonie. Das Gefühl von freundlicher Wärme. Sie strahlen beide heller als die Sonne am Himmel. Als sie zwischen den anderen Menschen verschwindet, dauert es noch ein paar Momente, ehe ich bemerke, dass ich unwillkürlich zu Lächeln begonnen habe.
***