Das Denken wird mich noch um den Verstand bringen. Und es wird immer komplizierter.
Früher dachte ich immer nur an Kristian, jetzt gibt es so wahnsinnig viel verschiedenes, worüber ich nachdenken muss. Aber über Kristian denke ich trotzdem noch nach und es tut mir weh. Onkel Hannes hatte recht, ein zerbrochener Kopf tut einfach weh. Deswegen denke ich nun absichtlich nicht mehr an Kristian und versuche das Loch, das er dabei in meinem Kopf hinterlässt, mit anderen Gedanken zu füllen.
Ich gehe jede Woche pünktlich zu Frau Doktor Schneider, sie ist fast so wie eine Freundin für mich geworden. Eine, der ich alles anvertrauen kann, was ich sonst niemandem sagen kann. Ich habe ihr das erzählt und sie hat gesagt, dass sie sich darüber sehr freut. Dass es ja genauso sein soll. Und ein bisschen bin ich stolz darauf, dass ich es mittlerweile sogar schaffe, immer schon Schuhe und Hemd zu tragen, wenn Onkel Hannes an der Tür klingelt, um mich abzuholen.
Manchmal denke ich immer noch, ich sollte mir einen Job suchen und arbeiten gehen. Onkel Hannes ist auch dafür, aber Frau Doktor Schneider sagt, ich soll mich erst mal um meine Gesundheit kümmern. Dabei bin ich doch gesund, das einzige was nicht passt, ist mein Kopf. Er ist voll von Gedanken und manchmal auch Bildern.
Wenn ich schlafe, dann träume ich. Von Leo und ihren roten Haaren, von Johanna und der versteckten Uhr, von Frau Doktor Schneider und ihren Fragen und von dem Klavier in der Fußgängerzone. Aber viel öfter noch von Kristian und seinen Händen. Seine schönen Hände, die immer so liebevoll waren und mir trotzdem so oft wehgetan haben. Dann wache ich auf und kann nicht atmen, weil es sich so anfühlt, als würde er meinen Hals zusammendrücken, obwohl er doch gar nicht da ist.
Aber vielleicht ist es das. Er ist nicht mehr da. Und ich vermisse ihn, vermisse ihn, vermisse ihn so sehr. Ich liege allein im Bett und halte es nicht aus, deswegen gehe ich wieder auf das Sofa und warte, dass Johanna dazukommt und sich an mich schmust.
Dann sage ich, dass ich sie gern habe und sie sagt Miau.
Und dann muss ich wieder weinen, weinen um Kristian, den ich einfach allein gelassen habe, allein in der schönen Wohnung mit dem Klavier und seinen Händen, die jetzt allein auf dem Klavier spielen. Ohne mich.
Ich habe ihn zurückgelassen, aber Frau Doktor Schneider sagt, ich müsste ihn nicht nur mit meinem Körper verlassen, sondern auch mit meinem Kopf und meinem Herz und das will ich nicht.
Das kann ich nicht. Wie soll ich Kristian hinter mir lassen, wenn er gesagt hat, dass wir für immer zueinander gehören. Für immer.
Wenn ich daran denke, fühle ich mich schlecht. Ich habe ihn im Stich gelassen. Und das nur, weil ich an mich selbst gedacht habe, aber nicht daran, wie er sich fühlt. Ob er auch traurig ist, wenn er allein im Bett liegt? Ob er mich auch vermisst, wenn es doch für immer war?
***
Das Klavier steht immer noch in der Fußgängerzone. Heute regnet es, der heiße Asphalt ist nass und duftet.
Die Menschen haben bunte Schirme dabei und das Klavier steht unter dem kleinen Vordach des Musikgeschäfts. Ich lausche einem jungen Mann, der unter Umständen sicherlich eine große Karriere vor sich haben könnte und werde ein bisschen nachdenklich. Das Klavier ist gütig, doch die Welt ist unberechenbar.
Eigentlich wollte ich zur Drogerie, aber an dem Klavier kann ich nicht einfach vorübergehen.
Es ist schon spät und die Geschäfte werden bald schließen. Ich kann auch morgen noch zum Drogeriemarkt, sage ich mir. Es ist schon in Ordnung. Manchmal muss man sich auch ein bisschen Zeit zum Träumen nehmen. Der junge Mann steht auf und geht, denn der Wind wird stärker. Wahrscheinlich zieht ein Gewitter auf. Ich bleibe noch.
Stumm stehe ich bei dem Klavier und betrachte es voller Sehnsucht. Ich wäre gern bei ihm allein. Was gäbe ich dafür, könnte es bei mir zuhause stehen. Das Publikum ist meine Sache nicht und doch fühlt sich der Verzicht schmerzhaft in meiner Brust an. Immer weniger Menschen gehen an uns vorbei. Jemand rempelt mich an und beleidigt mich, anstatt sich zu entschuldigen. Ich würde im Weg stehen und danach eine derbe Umschreibung für den Fakt, dass ich nicht intelligent bin. Aber es ist schon in Ordnung.
Eine ältere Dame lässt sich auf dem Hocker nieder und ich sehe sie gespannt an. Sie bemerkt mich gar nicht. Ich verstehe erst kurze Zeit später, dass sie schwer an ihren Einkaufstaschen zu tragen hat und sich nur kurz ausruhen möchte. Sie schnauft und tupft sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Eines ihrer Beine streckt sie wie fremd von sich. Sie sieht erschöpft aus, als sie meinen unhöflich starrenden Blick bemerkt.
"Keine Sorge, junger Mann", sagt sie, "Es geht schon. Ich muss nur mal kurz verschnaufen, alles in Ordnung!"
Ich kann mich nicht davon abhalten, ins Grübeln zu verfallen.
Onkel Hannes sagte einmal, dass man älteren Damen über die Straße helfen und ihnen die Einkaufstasche nach Hause tragen sollte. Aber sie will vielleicht gar nicht über die Straße und ich weiß auch nicht, wo sie zuhause ist. Am Ende möchte sie einfach nur für einige Momente die beruhigende Gesellschaft eines Klaviers genießen, ehe sie ihren Weg fortsetzt.
"Ach, entschuldigen Sie bitte", sagt sie mit dem Blick auf das Klavier, "Sie wollten sicherlich spielen?"
Dankend lehne ich ab und versuche mich an einem Lächeln.
"Mein Mann hat früher immer Klavier gespielt", beginnt sie zu erzählen, "Es war zum verrückt werden, tagein tagaus immer dieses Geklimper! Immer dasselbe, solange bis er es leid war. Dann das nächste Stück, wieder und immer wieder. Ich hätte dieses Ding am liebsten verbrannt und ihn im Garten schlafen lassen."
Mit einem Mal klingt ihre Stimme anders, so als würde sie ihre Last nicht nur auf den Schultern tragen. Ehe ich es verhindern kann, muss ich an Kristian denken und auch als ich es bemerke, kann ich ihn nicht mehr aus meinem Kopf verbannen. Sein schönes Gesicht. Seine Unterstützung, damit meine Karriere ins Rollen kam. Das Talent, das er selbst am Klavier besaß. Seine Augen. All die kleinen Aufmerksamkeiten. Sein Lächeln.
"Als er dann nicht mehr da war, habe ich begonnen, es zu vermissen", sagt sie leiser, "Was würde ich darum geben, dass er noch da wäre. Das Geklimper würde ich schon ertragen!"
Ich schweige, denn ich finde keine Worte für ihren Verlust. Vor mir sehe ich Kristian, wie er an seinem eigenen Klavier sitzt und seine schönen Hände über Elfenbein und Ebenholz tanzen lässt. Große Hände mit langen, schmalen Fingern. Talentierte Hände, zärtliche Hände. Und doch nahmen sie mir alles, was ich damals hatte. Die Luft zum Atmen, meine Freiheit, meine Träume.
"Ach, ich entschuldige mich", sagt sie schnell, "Das wollen Sie sicherlich alles gar nicht wissen! Aber ich treffe nicht viele Leute, die weniger zu sagen haben, als sie zuhören können."
Unwillkürlich muss ich schmunzeln und sie schenkt mir ein herzliches Lächeln. So liebevolle, sanfte Hände. Nicht nur Klavierspielen, auch Streicheln konnten sie und Trösten. Doch zur Faust geballt lehrten sie mich, was Schmerz bedeutete. Verzweiflung, wenn aus Liebe irgendwann Angst wurde.
"Dieses eine Stück, jetzt fällt es mir ein", spricht sie weiter, "Eine unendliche Zeit lang hat er immer für Elise gespielt und das, obwohl ich doch Gerda heiße!"
Ohne dass ich es verhindern kann, finden meine Finger den Weg auf die Tasten und während ich noch stehe, spiele ich die ersten Takte an.
"Ja, genau das!", sagt Gerda.
Ich breche ab, aber sie rückt mühsam ächzend mit dem Hocker ein Stück zur Seite und deutet auf das Klavier, "Könnten Sie es vielleicht noch einmal spielen? Für Robert! Nicht für Elise, nicht für Gerda, sondern für ihn?"
Gerda vermisst Robert. Ich vermisse Kristian. Robert musste gehen, ohne es zu wollen. Kristian ging nicht. Lange Zeit ging keiner von uns beiden, denn ich fürchtete mich. Letzten Endes schaffte ich es. Ich war derjenige, der ging, weil es besser war. Für Kristian? Für uns? Für die Zukunft unserer Beziehung, die ohnehin kein anderer sonst verstehen konnte? Nein.
Für mich. Für mich ganz allein war es besser. Und oft noch kommt mir diese Entscheidung in meinen Gefühlen egoistisch vor, auch wenn ich in meinem Verstand weiß, dass ich nicht so empfinden sollte.
Und ich spiele. Für Elise, für Gerda und für Robert. Und ich wenn ich ganz ehrlich bin, auch ein bisschen für Kristian.
***