Onkel Hannes sagt, dass ich nicht mehr ohne Zahn rumlaufen soll. Dabei habe ich noch einige andere Zähne und den fehlenden Zahn der Zeit brauche ich ja nicht zum Laufen. Dafür hat ein Mensch ja Beine und die funktionieren bei mir noch gut.
Meistens zumindest. Wenn ich nicht gerade an einer Supermarktkasse stehe und mich nicht mehr bewegen kann, aber das ist seither nicht mehr vorgekommen. Trotzdem nimmt mich Onkel Hannes mit zum Zahnarzt, obwohl ich nicht möchte. Ich trage Schuhe und Hemd und fühle mich ängstlich. Jetzt habe ich aber einen neuen Zahn, der nicht zu mir gehört, sondern nur mit einem Draht an den anderen Zähnen befestigt ist. Ich muss mich an ihn gewöhnen, denn ich weiß noch nicht, was ich von ihm halten soll.
Zum Schlafen mache ich ihn wieder raus, putze alles mit der Zahnbürste und dann liegt er im Badezimmer am Waschbecken und fühlt sich sicherlich allein. Ich lege den Zahn der Zeit in seiner Plastiktüte neben ihn und hoffe, dass sie sich verstehen. Dann können sie einander etwas trösten. Vielleicht kann ich mich ja mit dem neuen Zahn anfreunden. Er kann doch auch nichts dafür, dass ich ihn noch nicht so recht leiden mag.
Frau Doktor Schneider hat gesagt, ich soll ein Bild für sie malen. Ich musste lachen, denn ich bin nicht gut im Malen. Sie sagte aber, dass das nicht ausmacht und ich es niemand anderem zeigen müsste. Ich male ein Bild mit Fingerfarbe auf einer großen Leinwand. Sie schaut es sich lange an und fragt mich, was ich gemalt habe. Ich muss wieder lachen, immerhin bin ich wohl so schlecht im Malen, dass sie es gar nicht erkennen kann. Dann sage ich zu ihr, sie soll erst mal raten, bevor ich es ihr verrate.
Sie fragt mich, ob es Gitterstäbe sind, die ich gemalt habe. Ich muss lachen und sage Nein. Sie sagt mir, dass das Bild traurig aussieht, weil ich nur schwarze Farbe verwendet habe. Ich muss lachen und frage sie, warum schwarz unbedingt traurig sein sollte. Immerhin hat Johanna schwarzes Fell und es ist trotzdem warm und weich. Und Onkel Hannes hat schwarzes Haar und sein Gesicht ist trotzdem freundlich.
Frau Doktor Schneider fragt mich, warum ich Gitterstäbe gemalt habe.
Ich verrate ihr, dass sie falsch liegt, weil es die Tasten von einem Klavier sind.
Sie muss lachen und entschuldigt sich. Es ist schon in Ordnung, sage ich ihr. Eine Weile schaue ich das Bild noch an, dann muss ich wieder weinen. Ich vermisse das Klavierspielen, ich vermisse das Klavier bei Kristian zuhause und ich vermisse Kristian, mit dem ich immer Klavier gespielt habe. Diesmal nimmt mich Frau Doktor Schneider in den Arm und sagt, dass sie stolz auf mich ist. Ich verstehe nicht wieso, immerhin hat sie es nicht erraten können, weil ich nicht gut im Malen bin.
Dann fragt sie mich, ob ich noch andere Farben ausprobieren möchte, aber ich möchte nicht mehr malen, sondern gehe zu Onkel Hannes, der draußen vor der Tür auf mich wartet.
***
Onkel Hannes hat gesagt, dass ich wirklich mal fragen soll, ob die Leute im Café vielleicht doch jemanden brauchen, der die Tassen spült. Und dass Leonie mir sicherlich beim Schreiben einer Bewerbung helfen kann.
Vielleicht muss ich sie wirklich einmal fragen, auch wenn statt meinem Zahn immer noch das schlechte Gewissen an mir nagt, dass ich das letzte Mal einfach gegangen bin.
Im Treppenhaus begegnen wir uns manchmal und sie sagt Hallo, aber außer Hallo ist nicht so viel mit Sprechen. Vielleicht ist sie gekränkt, aber ich weiß nicht genau, wie ich das wieder gut machen soll. Mich entschuldigen sollte ich jedoch auf jeden Fall. So wie Kristian sich immer entschuldigt hat, nachdem er mir weh getan hat. Es hat die Sache nicht wieder gut gemacht, aber er hat mich zumindest wissen lassen, dass es ihm leid tat. Also war es schon in Ordnung. Sicherlich wird Leo das genauso sehen.
Und als wir uns das nächste Mal vor der Tür begegnen, will sie wohl gerade Hallo sagen, als ich schon damit beginne, mich zu entschuldigen.
Ihre Haare hat sie zu einem langen Zopf geflochten, in der einen Hand hält sie eine Tasche und in der anderen zwei Müllbeutel. Sie lacht, als ich mich entschuldige und sagt, dass es nicht nötig sei. Sie ist gar nicht gekränkt, sondern hat nur viel zu tun.
Wir gehen gemeinsam zu den Mülltonnen und reden über das Wetter, aber eigentlich ist es mir egal, dass wir weniger Sonnenstunden haben, denn Leo strahlt wie eine ganz eigene Sonne in unserem Hof. Ihre Tasche leert sie im Altpapier-Container aus. Es sind sehr viele Blatt Papier, die vorn und hinten mit ganz kleiner Schrift handbeschrieben sind.
Ich frage, warum sie all diese Mühe in den Müll werfen möchte.
Sie sagt, dass man manchmal Ballast abwerfen muss und all diese Gedanken gehören der Vergangenheit an. Darum möchte sie sich selbst davon befreien.
Das macht Sinn, also stimme ich ihr zu.
„Möchtest du noch einen Kaffee trinken?“, fragt sie dann und ich sage, dass ich das sehr gern möchte.
Kurz darauf sitzen wir wieder in ihrer Wohnung am Tisch. Sie hat Blumen in eine Vase gestellt und es sieht sehr gemütlich aus.
„Und du bist wirklich schwul?“, fragt Leo nach einer Weile.
Ich frage sie, was das bedeutet.
„Ich meine, ob du keine Frauen, sondern nur Männer liebst!“, erklärt sie mir und ich verstehe es immer noch nicht.
Als ich ihr das sage, muss sie lachen und ich lache mit.
„Du warst doch mit einem Mann zusammen, hat zumindest dein Onkel gesagt“, meint sie dann, „Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Männer. Frauen. Beides. Gar nichts. Und noch mehr, aber da kenne ich mich nicht aus!“
Onkel Hannes sollte nicht so viel über mich sprechen. Es bringt mich in ganz seltsame Situationen, in denen ich nicht weiß, was ich tun oder sagen soll.
„Also was jetzt“, fängt Leo wieder an, „Du liebst Männer?“
Ich muss immer noch überlegen, was sie meint, aber dann verstehe ich es. Ich trinke meinen Kaffee noch leer, nur um auf Nummer sicher zu gehen.
„Nein“, sage ich ehrlich, „Nur einen einzigen.“
Leo scheint eine ganze Weile zu überlegen und rührt nochmal einen Löffel Zucker in ihren Kaffee. Ich muss lachen und sie auch.
„Ist ja eigentlich auch egal“, sagt sie dann und lächelt mich an, „Darf ich dir noch einen Kaffee anbieten?“
Ich sage, dass sie mir gern einen anbieten darf, ich aber noch überlegen muss, ob ich einen haben möchte. Wir lachen wieder und die Situation ist mit einem Mal gar nicht mehr so seltsam.
Eigentlich wollte ich sie ja wegen der Bewerbung für das kleine Café und die Tassen fragen, aber Leo redet schon wieder weiter.
Über ihre Großmutter, die eine sehr gütige Frau gewesen war, und sie nun kaum mehr erkennt, wenn sie vor ihr steht. Die Großmutter, bei der sie statt ihrer Eltern immer gelebt hat, bis sie eine eigene Wohnung hatte, so wie ich bei Onkel Hannes. Eine geduldige, freundliche Großmutter, die immer Klavier gespielt und dabei gesungen hat. Und jetzt weiß Leo nicht, wohin mit diesem Klavier, weil sie keinen Platz dafür hat und auch gar nicht spielen kann.
Ich sage ihr, dass ich es ihr beibringen kann und dass sie stattdessen den Fernseher abbauen kann. Sie muss lachen. Und bevor ich fragen kann, erzählt mir Leo dann, was es mit den Blättern im Altpapier auf sich hat.
„Ich liebe auch einen Mann“, sagt sie, „Aber der Mann hat sich nicht für mich interessiert. Ich habe ihm immer wieder Liebesbriefe geschrieben und nie abgeschickt. Jetzt ist er mit einer anderen Frau verheiratet, deswegen hat es sowieso keinen Sinn.“
Ich sage nichts, denn ich muss nachdenken.
Leo hat ihren Kaffee schon längst leer, als ich sie frage, ob sie traurig ist.
Sie muss lachen, aber es klingt nicht fröhlich. Ich schaue sie an und sage ihr, dass es in Ordnung ist, wenn man traurig ist. Sie lacht wieder, ganz leise und dann lächelt sie und sagt mir, dass sie mich gern hat. Ich muss auch lächeln.
Dann bietet mir Leo noch einen Kaffee an und ich sage Ja.
Sie steht auf und füllt mein Kaffeepulver in ihre Kaffeemaschine. Wir sind ein gutes Team, finde ich und muss an Frau Doktor Schneider und ihre Fragen denken. Das nächste Mal sage ich ihr, dass ich herausgefunden habe, dass ich Leo gern habe.
Jeden Donnerstag besuche ich die Praxis. Und jeden Dienstag besuche ich jetzt Leo.
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